Author Topic: Bertrand Russell: Philosophie des Abendlandes  (Read 101421 times)

Offline orzifar

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Bertrand Russell: Philosophie des Abendlandes
« on: 24. Januar 2011, 19.31 Uhr »
Hallo!

Ich beginne nun einfach mal, sonst brauchen wir für die Entscheidung, welchen Philosophen bzw. welches Werk wir uns demnächst zu Gemüte führen länger als für die gesamte Lektüre. Sandhofer hat leider mir gegenüber bereits seinen vorläufigen Zeitmangel bekundet, vielleicht findet sich aber der eine oder andere Mitleser (*mombour angug*). Ich werde in höchst gemütlichem Tempo von Zeit zu Zeit etwas schreiben; wohl auch (weil's bei den Vorsokratikern nicht allzu umfangreich ist) etwas Originalliteratur dazu lesen.

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Vorwort und Einführung

Russel entwirft das Programm: Eine Philosophiegeschichte, die sowohl die gesellschaftlichen Umstände berücksichtigt und ihren Einfluss auf die Philosophie der jeweiligen Epoche als auch die Wirkung der Philosophen auf genau diese Gesellschaft. Diese Wechselwirkung aufzuzeigen ist sein Ziel.

Außerdem versucht er Philosophie zu definieren als ein Mittelding zwischen Theologie und Wissenschaft, wobei er unter ersterem alle metaphysischen Systeme subsummiert, von Wissenschaft hingegen als von einer "sicheren Kenntnis" spricht. Philosophie und Wissenschaft unterscheidet sich für ihn auch im Anspruch: Dort, wo die Theologie behauptet, sichere Antworten zu haben, offenbartes Wissen anbietet, tastet die Philosophie vorsichtig nach dem vermeintlich Richtigen, versucht Lösungen, wirft Fragen auf, beruft sich aber nirgendwo auf eine allwissende Autorität. Meines Erachtens lässt sich diese Trennung von Religion und Wissenschaft mit der Philosophie als eine Art Bindeglied nicht aufrecht erhalten: Nur dann, wenn man Theologie, also die Lehre von religiösen Vorstellungen als von der Religion losgelöst betrachtet (was durchaus möglich ist). Ansonsten ist Religion in seiner ursprünglichen Entstehung wohl nichts anderes als Wissenschaft mit unzureichenden Mitteln: Erklärungsmodelle für die uns umgebenden (und bedrohende!) Natur werden geliefert, Koinzindenzien aufgezeigt, der Natur in Ermangelung anderer Denk-Möglichkeiten ein spezifisch menschliches Verhalten unterstellt. Nicht nur bei Göttern findet sich der Anthropomorphismus, auch im Animismus wird vom Menschen auf die ihn umgebende Welt geschlossen. Es sind Erklärungsmodelle für unverständliche Naturvorgänge und zum anderen der Versuch, die Unvorstellbarkeit des eigenen Todes in ein Weltbild zu integrieren. Solche gesamtmetaphysischen Systeme, die sowohl sinngebend für den Einzelnen, moralgebend für die Gesellschaft und naturerklärend (als auch zumeist der Natur etwas spezifisch "sinn-haftes" im Sinne von "für den Menschen begreiflich") sind auch in der Philosophie Legion.

Dann erfolgt ein sehr gelungener kurzer historischer Abriss: Die Philosophie beginnt im Griechenland des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts und versteht sich bis Aristoteles als eine Philosophie von Staats-Bürgern, während die Stoa eine Individualisierung einleitet, die vom Christentum, das ursprünglich unpolitisch und machtlos war, übernommen wurde. Es wird der Weg bereitet für ein Denken, das die Pflichten gegenüber Gott über jene gegenüber dem Staat bzw. der Gesellschaft stellt. Ein Konflikt, der das ganze Mittelalter prägt, der Gegensatz von Papst und Kaiser, geistlicher und weltlicher Macht ist symptomatisch. Erst mit der Reformation wird dem Papsttum Einhalt geboten: Dem Landesherrn, der nun auch über religiöse Fragen entscheidet, wird ungeheurer Machtzuwachs zuteil; außerdem entfällt das Interpretationsprivileg der Heiligen Bücher durch die Theologie: Der Mensch selbst muss nach seinem Gewissen leben, ist bei der Auslegung der Bibel nicht mehr verpflichtet, sich an die Mittler zwischen Gott und Mensch zu wenden.

Durch diese Strömungen wird einem Subjektivismus der Weg bereitet, der in Empfindsamkeit und Romantik mündet und in "schon eher als Irrsinn zu bezeichnenden Formen mündet", wobei nicht ganz klar wird, ob Russel hier etwa Berkeley im Auge hat oder aber solipsistische Strömungen vom Zuschnitt Max Stirners. Russel selbst scheint einer Art Liberalismus zuzuneigen, einem Ausgleich zwischen staatsverherrlichenden Doktrinen eines Hobbes oder Hegel und einem alles zersplitternden Individualismus.
 
Die Vorsokratiker

1. Der Aufschwung der griechischen Kultur

Große Worte zu Beginn: Nichts sei so überraschend oder schwer erklärlich als das Aufblühen der griechischen Kultur. Solche großen Ankündigungen liebe ich nicht wirklich, denn sie sind meistens bloß Ausdruck dafür, dass etwas ist und nicht nichts. Da wir nun aber auf eine Geschichte zurückzublicken vermögen, die sich "irgendwie" entwickelt hat, ist das Staunen über solche Entwicklungen häufig bloß ein Verwundern über die Kreativität von menschlicher Geschichte - ein Verwundern, dass dem über die Evolution gleicht und etwa zu den grotesken teleologischen Schlussfolgerungen führt, die aus der Unwahrscheinlichkeit unseres Daseins auf eine zielgerichtete Entwicklung schließen, während wir nur Ausfluss von Myriaden Möglichkeiten verschiedenster "Unwahrscheinlichkeiten" sind, wobei jede für sich genommen gleich verwunderlich ist.

Tatsächlich aber sind die philosophischen Überlegungen, die im Griechenland des 6. vorchristlichen Jahrhunderts zum Ausdruck kommen, die ersten ihrer Art. Sie sind mythologisch verbrämt, aber weder das dem Tode und dem Nachtodgedanken verhaftete Ägypten noch das sehr viel lebensfrohere Babylonien haben ein Denken dieser Form hervorgebracht. Und gerade auf diese Verbindung zwischen Religion (Mythologie) und Philosophie (Wissenschaft) nimmt Russel Bezug. Er meint (allerdings bleibt er Beweise weitgehend schuldig), dass in Ermangelung einer Staatsreligion die Philosophie bessere Entwicklungsmöglichkeiten besessen hätte, vergisst allerdings, dass etwa auch in Ägypten es eine Unzahl von lokalen Gottheiten gegeben hat, die nur lose zu einem System sich vereinigen ließen. Und er stellt die Behauptung auf, dass eine Art Staatsreligion wie in den erwähnten Reichen durch die Entwicklung wissenschaftlicher Schulen verhindert worden wäre. Hmm ...

Für Griechenland hatte der Bacchus-Kult (aus Thrakien übernommen) besondere Bedeutung. Ursprünglich ein eher barbarischer Fruchbarkeitskult unterlag er durch Orpheus' Adaptionen einem Wandel hin zum Asketischen, der sich über Platon auch ins Christentum fortsetzte. Orphikern war der Rausch kein im Wein gründender Zustand, sondern sie erstrebten eine mystische Vereinigung mit der Gottheit - und sie entwarfen auch eine erste Theologie inklusive entsprechender Priesterschaft. In der Literatur umstritten sind mögliche Verbindungen zum Buddhismus und dessen Lehre von der Wiedergeburt(von Russel wird eine solche Verbindung bestritten, es gibt aber einiges an gelehrter Literatur, die einen Zusammenhang zwischen Pythagoräern und der indischen Reinkarnationslehre herstellen).

Dann weist Russel auf typische Vorurteile ein: Etwa jenes von den heiteren Griechen, die da fröhlich philosophierend vor sich hin lebten, zeigt die prekären ökonomischen Bedingungen auf (Griechenland ist ein äußert karges Land und sein Reichtum gründete sich im Gegensatz zu den erwähnten Ägyptern oder Babyloniern nicht auf landwirtschaftliche Erzeugnisse, sondern auf den Handel und der damit verbundenen Gründung von Kolonien) oder die Unfreiheit weiter Gesellschaftskreise selbst in klassischer Zeit.

Nächstes Kapitel: Die milesische Schule, beginnend (wie fast jede Philosophiegeschichte) mit Thales.

lg

orzifar

Edit sandhofer: Tippfehler im Titel korrigiert. Nix für Ungut.
« Last Edit: 30. Januar 2011, 17.13 Uhr by sandhofer »
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Offline sandhofer

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Re:Bertrand Russel: Philosophie des Abendlandes
« Reply #1 on: 25. Januar 2011, 20.04 Uhr »
Hallo!

Ich beginne nun einfach mal,

Das ist schön. Ich habe gestern Abend auch noch kurz den Text angeblättert.

Außerdem versucht er Philosophie zu definieren als ein Mittelding zwischen Theologie und Wissenschaft, wobei er unter ersterem alle metaphysischen Systeme subsummiert, von Wissenschaft hingegen als von einer "sicheren Kenntnis" spricht.

Auch historisch geschieden, wenn ich recht verstanden habe, indem die Entwicklung von der Vor-Wissenschaft der alten Griechen über die Theologie des Mittelalters zur Wissenschaft der Neuzeit geht. (Ist es ein Zufall, wenn Russell behauptet, dass die Spezialisten wohl in allen Fällen mehr wissen können als er - ausgenommen bei Leibniz?) Ich bin da immer ein wenig skeptisch, wenn das aufklärerische Gespenst des "finsteren Mittelalters" aufscheinen will. Aber ich lasse mich im weiteren Text mal überraschen.

Nur dann, wenn man Theologie, also die Lehre von religiösen Vorstellungen als von der Religion losgelöst betrachtet (was durchaus möglich ist).

Meinst Du jetzt Religionswissenschaft?

Grüsse

sandhofer
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Offline orzifar

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Re:Bertrand Russel: Philosophie des Abendlandes
« Reply #2 on: 26. Januar 2011, 01.34 Uhr »
Nur dann, wenn man Theologie, also die Lehre von religiösen Vorstellungen als von der Religion losgelöst betrachtet (was durchaus möglich ist).

Meinst Du jetzt Religionswissenschaft?

Meinte ich, du hast aber den Finger in die Wunde gelegt: Die von mir verwendeten Begriffe waren recht unklar (was mir schon im Schreiben bewusst war), Religion, Theologie, Religionswissenschaft, Mythologie müssen stärker geschieden und differenziert werden.

Ich bin da immer ein wenig skeptisch, wenn das aufklärerische Gespenst des "finsteren Mittelalters" aufscheinen will. Aber ich lasse mich im weiteren Text mal überraschen.

Was genau meintest du damit?

Schön, dass du nun doch liest.

lg

orzifar
« Last Edit: 26. Januar 2011, 01.47 Uhr by orzifar »
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Offline sandhofer

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Re:Bertrand Russel: Philosophie des Abendlandes
« Reply #3 on: 26. Januar 2011, 20.09 Uhr »
Ich bin da immer ein wenig skeptisch, wenn das aufklärerische Gespenst des "finsteren Mittelalters" aufscheinen will. Aber ich lasse mich im weiteren Text mal überraschen.

Was genau meintest du damit?

Nun ja: Die aufklärerische Tendenz, das Mittelalter anzuschwärzen, um selber dann um so leuchtender da zu stehen. So schwarz, wie Renaissance und Aufklärung das Mittelalter gemacht haben, war es ja nun auch nicht. Und so hell hat die Aufklärung ebenfalls nicht geleuchtet. Und ja: Russell sehe ich letzten Endes schon als Aufklärer - so, wie den ganzen Positivismus, die analytische (Sprach-)Philosophie.

Mitlesen? Ach ja - ich versuch's, werde aber nur langsam vorankommen. Nach Tagen wie heute, wo sich Kundentermin an Kundentelefon reiht, bin ich zu kaputt, um vernünftig Philosophie lesen (oder auch nur buchstabieren) zu können. Geschweige denn darüber schreiben zu können.  :'(
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Offline orzifar

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Re:Bertrand Russel: Philosophie des Abendlandes
« Reply #4 on: 26. Januar 2011, 20.49 Uhr »
Nun ja: Die aufklärerische Tendenz, das Mittelalter anzuschwärzen, um selber dann um so leuchtender da zu stehen. So schwarz, wie Renaissance und Aufklärung das Mittelalter gemacht haben, war es ja nun auch nicht. Und so hell hat die Aufklärung ebenfalls nicht geleuchtet. Und ja: Russell sehe ich letzten Endes schon als Aufklärer - so, wie den ganzen Positivismus, die analytische (Sprach-)Philosophie.

Oh, das habe ich so gar nicht empfunden. Also diesen Hinweis auf die Unkenntnis (ausgenommen Leibniz) - sondern vielmehr als einen vorsichtigen Fingerzeig für mögliche Unzulänglichkeiten seinerseits. Es ist ja wirklich ein enormes Unterfangen eine solche Philosophiegeschichte zu schreiben und man muss den Mut zur Lücke besitzen, ansonsten scheitert man kläglich.

Das mit den Epochen (von wegen finsteres MA) lass ich mal auf mich zukommen, eigentlich sind Russels Bücher zumeist von Respekt vor der Leistung anderer getragen (wenngleich er sicher im Sinne der Aufklärung argumentiert: Große metaphysische Systemen waren seines nicht und auch von Kant war er meines Wissens weniger überzeugt denn viele andere).

lg

orzifar
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Offline mombour

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Re:Bertrand Russel: Philosophie des Abendlandes
« Reply #5 on: 27. Januar 2011, 18.00 Uhr »

Außerdem versucht er Philosophie zu definieren als ein Mittelding zwischen Theologie und Wissenschaft, wobei er unter ersterem alle metaphysischen Systeme subsummiert, von Wissenschaft hingegen als von einer "sicheren Kenntnis" spricht.

Das mit der "sicheren Kenntnis" in der Wissenschaft ist gar nicht so sicher. Eine wissenschaftliche Hypothese gilt nur solange als bestimmt sicher, solange sie nicht wiederlegt ist. Wenn man so will, kann man an die Wissenschaft auch glauben. Nicht alles, was sie erforscht, kann man sehen. Kann man eigentlich subatomare Teilchen wie Quarks sehen? Oder eine Raumkrümmung? Ich habe vor Monaten irgendwo gelesen, dass die Darwinsche Theorie im Begriff ist zu wanken. Sicher ist hier nichts.

Natürlich weiß ich, warum Russel so schreibt. Metaphysisches wie Gott o.a. kann man nicht sehen oder jemand öffnet sein kontemplatives Auge und schreibt wie Meister Eckhart (aber über so was reden wir hier lieber nicht ;D).
Was allerdings richtig ist, die Theologie glaubt alles mögliche zu wissen, aber die Sache hat einen Haken. Wenn wir einem Moslem sagen würden, Allah sei dreieinig, würde er das nicht glauben. Wenn es einen Gott gibt, dann kann es aber nur einen geben und nicht zwei verschiedene.  Es klingt wenig überzeugend, wenn sich die THeologie, wie Russel sagt, "auf eine Autorität, etwa die der Tradition oder die der Offenbarung" bezieht. Da es bei den Buddhisten keine Seele gibt, unterscheidet sich deren Reinkarnationslehre vom Brahmanismus und Hinduismus, auch die Lehre vom Karma ist bei den Buddhisten anders. Hier sind wir auch in dem Dilemma, welche Theorie gilt nun? Wir wissen es nicht oder keine der Theorien ist wahr. Platon hat im "Phaidon" die Reinkarnationstheorie wohl von Pythagoreern übernommen, es mag sein, dass diese Theorie vom Brahmanismus aus Indien importiert worden ist. Pythagoras war ein Zeitgenosse Buddhas, die Hände haben die beiden sicher nicht geschüttelt. Bei Platon gibt es wie im Brahmanismus eine Seele, die von Inkarnation zu Inkarnation wandelt. Buddha übrigens, wich metaphysischen Fragen aus.

Am Wochenende beginne ich mit den Vorsokratikern.

Liebe Grüße
mombour
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Offline orzifar

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Re:Bertrand Russel: Philosophie des Abendlandes
« Reply #6 on: 27. Januar 2011, 18.50 Uhr »
Außerdem versucht er Philosophie zu definieren als ein Mittelding zwischen Theologie und Wissenschaft, wobei er unter ersterem alle metaphysischen Systeme subsummiert, von Wissenschaft hingegen als von einer "sicheren Kenntnis" spricht.

Das mit der "sicheren Kenntnis" in der Wissenschaft ist gar nicht so sicher. Eine wissenschaftliche Hypothese gilt nur solange als bestimmt sicher, solange sie nicht wiederlegt ist. Wenn man so will, kann man an die Wissenschaft auch glauben. Nicht alles, was sie erforscht, kann man sehen. Kann man eigentlich subatomare Teilchen wie Quarks sehen? Oder eine Raumkrümmung? Ich habe vor Monaten irgendwo gelesen, dass die Darwinsche Theorie im Begriff ist zu wanken. Sicher ist hier nichts.

Deshalb auch die Anführungszeichen bei der "sicheren Kenntnis". Bei Russel gibt es immer wieder Hinweise, dass er sich derlei wünscht (im Prinzip mehr als verständlich), auch postuliert, allerdings ist dieses Bemühen gescheitert. Dennoch gibt es einen Unterschied zwischen dem fliegenden Spaghettimonster und einer naturwissenschaftlichen Hypothese, etwas, das Russel (bzw. Hume) umgetrieben hat, als er etwa die beunruhigenden Schlussfolgerungen aus dem Induktionsproblem zog, wo er meinte, dass nach Humes Analyse die Feststellung, jemand sei ein Spiegelei, nur deshalb abzulehnen sei, weil dieser mit seiner Behauptung in der Minderheit sich befinde. (Immer wieder in diesem Zusammenhang der Hinweis auf Poppers "Lösung" des Induktionsproblems in "Objektive Erkenntnis", der eben zeigte, dass zwischen solchen Hypothesen sehr wohl unterschieden werden kann, allerdings der Gewissheits- (nicht der Wahrheits-) anspruch aufgegeben werden muss.)

Es geht im übrigen nicht um einen primitiven Sensualismus, sodass nur erforscht werden kann, was man sehen kann (das ist nun wirklich Stammtischphilosophie und einer weiteren Erörterung nicht wert), sondern um Interpretationen von Messergebnissen, die bestimmte Theorien (etwa über den Aufbau der Materie) plausibel machen. Poppers Idealisierung der Naturwissenschaft muss hier revidiert werden: Immer öfter ist das Bemühen dahin gerichtet, nicht irgendwelche Hypothesen anhand von Experimenten zu bestätigen, sondern die Resultate auf konsistente Weise zu interpretieren.

Und so gibt es eben einen Unterschied zwischen Dreifaltigkeitshypothesen, meiner bevorstehenden Wiedergeburt als Grottenolm (schlechtes Karma) und wissenschaftlichen Hypothesen: Letztere können sich als falsch erweisen, in irgendeiner Form überprüft werden, während ich mir täglich neue Weltentstehungsphantasien aus den Fingern saugen kann (bevorzugt Plüschmonaden mit rosa und blauen Punkten, die sich mit Demiurgenaufgaben befassen), welche ebenso viel Wahrheit beanspruchen können wie sämtliche aktuellen und vergangenen Mythologien.

Natürlich weiß ich, warum Russel so schreibt. Metaphysisches wie Gott o.a. kann man nicht sehen oder jemand öffnet sein kontemplatives Auge und schreibt wie Meister Eckhart (aber über so was reden wir hier lieber nicht ;D).

Es handelt sich nicht um ein Diskussionsverbot, sondern um den Schlusssatz des Tractatus, der genau hier angebracht wäre und von Wittgenstein genau so auch gemeint war. Weil es schlicht eine Unmöglichkeit ist, sich argumentativ über die Farbe von Einhörner oder den Willen Gottes zu unterhalten.

lg

orzifar
« Last Edit: 27. Januar 2011, 19.55 Uhr by orzifar »
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Offline sandhofer

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Re:Bertrand Russell: Philosophie des Abendlandes
« Reply #7 on: 30. Januar 2011, 17.12 Uhr »
Das erste Kapitel über die Dionysiker und Orphiker habe ich mittlerweile gelesen. Klassische Schulbuchlektüre. Ob Russells Aussagen noch dem aktuellen Stand der Forschung entsprechen, habe ich nun nicht nachgeforscht. Alles in allem aber erfrischend unvoreingenommen, aber für mich im Moment wenig Zündstoff für Diskussionen.
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Offline sandhofer

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Re:Bertrand Russell: Philosophie des Abendlandes
« Reply #8 on: 06. Februar 2011, 10.52 Uhr »
Hallo!

Die milesische Schule

wird von Russell recht positiv eingestuft - sozusagen die ersten ernstzunehmenden Wissenschafter der Geschichte. Sicher spekulierten Thales, Anaximander und Anaximenes über die elementare Zusammensetzung der Dinge. Und insofern, als dass sie wohl als erste sich überhaupt darüber Gedanken machten, kann man sie wohl auch als die ersten Wissenschafter der Geschichte bezeichnen. Für mein Auge wirken die 3 Milesier in dieser Beziehung eher wie die späteren Scholastiker. Spekulation ohne Verankerung in irgendwelchen Fakten oder gar wissenschaftlichen Untersuchungen. Und die mathematischen oder astronomischen Erkenntnisse der Milesier redet Russell selber klein.

Aber bisher haben sich meine Erinnerungen an einen philosophiegeschichtlich überforderten Russell (noch?) nicht bestätigt.

Grüsse

sandhofer
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Offline orzifar

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Re:Bertrand Russell: Philosophie des Abendlandes
« Reply #9 on: 07. Februar 2011, 21.18 Uhr »
Deine Vorbehalte bezüglich Russel kann ich nicht nachvollziehen (ich meine, dass wir uns schon im Klassikerforum darüber unterhalten haben). Er kann schreiben (was bei Philosophiegeschichte keine Selbstverständlichkeit ist, auch wenn man über die Berechtigung des Literaturnobelpreises selbstredend geteilter Meinung sein kann), ist witzig, ironisch, trotzdem bescheiden (wenn man ihn etwa mit der hochnäsigen Diktion eines Hegel vergleicht, der seine Verachtung für all jene Philosophen, die nicht in sein Konzept passten, auf arrogante Art und Weise Ausdruck verliehen hat) - und gerade diese Zurückhaltung ist es, die ihn für mich selbst dort angenehm macht, wo ich keineswegs mit seiner Haltung übereinstimme. Ich glaube mich erinnern zu können, dass du ihm Selbstgefälligkeit vorgeworfen hast: Aber ich könnte mich an keine seiner Schriften erinnern, anhand derer sich solches belegen ließe.

An seiner Kompetenz zu zweifeln hat er mir bisher auch keinen Anlass gegeben. Ich lese im übrigen alternierend im Nestle, Diels und Grünwald die (vom Umfang her bisher höchst bescheidenen) Fragemente der Vorsokratiker. In den Kommentaren und Einleitungen zu diesen Fragmenten wird der Unterschied zu Russel deutlich: Die Bemerkungen sind häufig in eine Form altbacken und von einem seltsamen Pathos getragen, das bei Russel (glücklicherweise) völlig fehlt.

Allerdings ist die Lektüre dieser Fragmente ein wenig problematisch: Originales ist selten überliefert (oder aber nur wenige Zeilen wie etwa - wenn überhaupt - bei Thales) und so wird aus ganz wenigen Sätzen und dem von Doxographen Abgeschriebenen und Wiedergekäuten ein ganzes Weltbild gezimmert. Im Grunde bleibt bei Thales nur die Sonnenfinsternis und die Mitgliedschaft im Weisenrate (von denen es, wie wir in einem vor gefühlten 100 Jahren abgehaltenen Altgeschichteseminar feststellten, 51 gegeben hat - wahrscheinlich noch mehr.)

lg

orzifar
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Offline mombour

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Re:Bertrand Russell: Philosophie des Abendlandes
« Reply #10 on: 09. Februar 2011, 12.10 Uhr »
Hallo,

die Milesier waren eigentlich keine Philosophen sondern Wissenschaftler, die Orphiker und die Anhänger des Dionysos, das war noch keine Philosophie, sondern Religionen, die sich wie bei Bacchus auf Fruchtbarkeitskulte beriefen, denn diese Religion kam aus einer ackerbaubetriebenden Kultur aus Thrakien. Eine Art von Naturreligion, die vielleicht auch im Rausch des Weines etwas religiöses zu finden hoffte? Die Orphiker hatten schon religiöse Elemente in ihrer Weltanschauung, die wir heute noch als religiös ansehen, wie Reinkarnation, das Streben nach Reinheit, Reinigungszeremonien. Der Mensch bestehe aus irdischen und himmlischen Elemente. Hochinteressant finde ich dieses:

Quote from: Russel
...durch ein reines Leben erweitert sich der überirdische Anteil

Durch das Reinwerden können Menschen eins mit Bacchus werden,  Eins mit ihrem Gott. Jesus sagte viel später: "Ich und der Vater sind eins". Die Suche nach Einheit mit Gott ist ein früher Impuls in den Religionen. Von den Orphikern ist einiges zum Pythagoras hinübergelangt: Die Seelenwanderung und die Vorstellung eines Gottes. Die homerische bunte Götterwelt hatte wohl ausgedient. Wie wichtig die alten Griechen diesen Gott hielten, davon zeugt der Tod Sokrates', Verurteilt wegen Gottlosigkeit (und ein Jugendverderber war er auch noch). Der Ursprung orphischer Lehren liegt in Ägypten so Russel. Auch Solon soll in Ägypten gewesen sein. Das alte Zeusorakel in Dodoona soll nach Herodot auch ihren Ursprung in Ägypten gehabt haben. Dass Griechen die ägyptische Kultur bewundert haben ist bekannt.

Liebe Grüße
mombour
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Offline sandhofer

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Re:Bertrand Russell: Philosophie des Abendlandes
« Reply #11 on: 09. Februar 2011, 20.54 Uhr »
die Milesier waren eigentlich keine Philosophen sondern Wissenschaftler,

Das weiss ich eben nicht. Das wenige, das von ihnen überliefert ist, deutet meiner bescheidenen Meinung nach eher auf reine Spekulation hin, jedenfalls nicht auf Wissenschaft im modernen Sinn.
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Offline mombour

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Re:Bertrand Russell: Philosophie des Abendlandes
« Reply #12 on: 11. Februar 2011, 10.37 Uhr »
Hallo,

Pythagoras

Ja, es ist denkbar, dass philosophische u.a. Schriften von den Milesiern einfach verschollen sind. Pythagoras ist der erste wirklich greifbare Philosoph des Abendlandes, obwohl er selbst keine Schriften hinterlassen hat und eine erste Biographie, die von Jamblichos, die etwa 600 Jahre nach dem Tod des Philosophen erschienen ist. Warum Russel kein Wort über Jamblichos' Schrift äußert, mag vielleicht daran liegen, weil das Buch des Jamblichos auch Fantasterein enthält, Pythagoras übermenschlich erhöht wird. So soll Pythagoras nach seinem Ableben in den Himmel gefahren sein, Jamblichos sicher von christlichen Theologen beeinfusst war.  Außerdem, mit solchem Gewirr wird sich Russel nicht abgeben, schrieb er doch auch „Warum ich kein Christ bin“, und bemerkt in einem früheren Kapitel, als er Konfuzius und Buddha erwähnt, so in etwa, wenn  sie denn überhaupt gelebt haben. Dann wäre ja die Existenz von Pythagoras auch anzuzweifeln, weil er selbst keine Schriften hinterlassen hat. So etwas fände ich unsinnig, und Russel zweifelt auch nicht an Pythagoras' Existenz. Pythagoras scheint sich selber überhöht zu haben. Sagte er doch (angeblich): „Es gibt Menschen und Götter und Wesen wie Pythagoras.“ Vielleicht hat er das auch nicht gesagt, sondern irgendein Schreiber legte ihm das in den Mund.

Ziemlich seltsam sind manche pythagoreischen Ordensregeln. Warum sollte man denn keine Bohnen essen, nicht auf Landstraßen gehen. Das ist doch seltsam, und ich finde es total bedeutungslos. Auch Aristoteles, den Russel zitiert, konnte damit nichts anfangen.

Quote from: Aristoteles
Er arbeitete anfangs auf mathematischem Gebiet und ließ sich plötzlich zu den Scharlanterien des Pherekydes herab.

(es sei vermerkt, auch wenn ein Vergleich mit Pythagoras vielleicht nicht genau passt: Im Alter beschäftigte  Newton sich plötzlich mit religiösen Fragen).

Bedeutung für die Nachwelt sind seine Erkenntnisse in der Mathematik. Russel zitiert den Philosophen: „Alle Dinge sind Zahlen“. Was hat das zu bedeuten? Er entdechte die Zahlen in der Musik und in der Arithmetik. Allerdings, ich hatte mal Kontakt mit einem Komponisten, einem Enkelschüler Glasunows, der war nicht der Ansicht, dass Musik etwas mit Mathematik zu tun hat. Wenn jemand komponiert, hat er nicht Zahlen im Kopf, sondern Harmonielehre, Kontrapunkt u.ä.

Noch am interessantesten findet der untalentierte Mathematiker mombour folgenen Gedanken, den Russel hier so schön wiedergibt:

Quote from: Russel"
...denn die mathematischen Objekte, zum Beispiel Zahlen, sind, wenn überhaupt real, ewig und nicht zeitgebunden. Solche ewigen Objekte kann man als Gedanken Gottes auffassen. Daher Platons Doktrin, daß Gott Mathematiker sei, und Sir James Jeans' Überzeugung, er habe eine Vorliebe für die Arithmetik.....Die Verbindung von Mathematik mit Theologie, die mit Pythagoras begann, ist  für die Religionsphilosophie in Griechenland, im Mittelalter und in der modernen Zeit bis zu Kant charakteristisch.

Pythagoras versuchte offenbar, die Ewigkeit, einen Begriff, den man sonst nur mit Gott in Beziehung setzt,  mit dem Kosmos zu verbinden, in dem er sinngemäß sagt, der Kosmos ist eine ewige Harmonie, die von Mathematik, Zahlen durchdrungen ist. Das scheint mir, wenn ich Pythagoras richtig verstanden habe, die Kernlehre seines Denkens zu sein. Dabei ist der Kosmos nicht ewig. Durch einen Urknall erst entstanden, dehnt sich der Kosmos immer weiter aus, und wird entweder irgendwann mal in sich wieder zusammen, oder er wird bei maximaler Ausdehnung in Kälte erstarren. In der dinglichen Welt ist nichts ewig. Wir sterben genauso, wie der Kosmos einmal sterben wird. Zu gleicher Zeit des Pythagoras entstand in Indien der Buddhismus, der lehrt, alles Seiende sei Unbeständig. Das scheint, ein scharfer Kontrast zu sein. Die Mathematik also ewig? Wenn man von einem Gott, oder von einem Nirwana ausgehen möchte, nur so etwas von Bestand wäre. Im Übrigen ich nun von orzifars Weisheiten der Mathematik kosten möchte. :)

Liebe Grüße
mombour
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Offline sandhofer

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Re:Bertrand Russell: Philosophie des Abendlandes
« Reply #13 on: 13. Februar 2011, 16.52 Uhr »
Hallo!

Was mich am meisten interessierte im Kapitel zu Pythagoras, ist die Idee des Gentleman-Wissenschafters bzw. -Philosophen. Ein Ideal, das wir z.B. ja auch in Stifters Nachsommer wiederfinden. Oder in den Detektiven von E.A. Poe und Arthur Conan Doyle ...

Und die Verbindung von Pythagoras zur Scholastik. Leuchtet mir ein.

Grüsse

sandhofer
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Offline sandhofer

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Re:Bertrand Russell: Philosophie des Abendlandes
« Reply #14 on: 20. Februar 2011, 07.33 Uhr »
Hallo!

Heraklit

Ein Kapitel, das mich ratlos zurücklässt. Wenig Heraklit, viel Allgemeines. Vielleicht habt Ihr ja eine Idee.

Grüsse

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