Hallo!
Ich beginne nun einfach mal, sonst brauchen wir für die Entscheidung, welchen Philosophen bzw. welches Werk wir uns demnächst zu Gemüte führen länger als für die gesamte Lektüre. Sandhofer hat leider mir gegenüber bereits seinen vorläufigen Zeitmangel bekundet, vielleicht findet sich aber der eine oder andere Mitleser (*mombour angug*). Ich werde in höchst gemütlichem Tempo von Zeit zu Zeit etwas schreiben; wohl auch (weil's bei den Vorsokratikern nicht allzu umfangreich ist) etwas Originalliteratur dazu lesen.
-------------------
Vorwort und Einführung
Russel entwirft das Programm: Eine Philosophiegeschichte, die sowohl die gesellschaftlichen Umstände berücksichtigt und ihren Einfluss auf die Philosophie der jeweiligen Epoche als auch die Wirkung der Philosophen auf genau diese Gesellschaft. Diese Wechselwirkung aufzuzeigen ist sein Ziel.
Außerdem versucht er Philosophie zu definieren als ein Mittelding zwischen Theologie und Wissenschaft, wobei er unter ersterem alle metaphysischen Systeme subsummiert, von Wissenschaft hingegen als von einer "sicheren Kenntnis" spricht. Philosophie und Wissenschaft unterscheidet sich für ihn auch im Anspruch: Dort, wo die Theologie behauptet, sichere Antworten zu haben, offenbartes Wissen anbietet, tastet die Philosophie vorsichtig nach dem vermeintlich Richtigen, versucht Lösungen, wirft Fragen auf, beruft sich aber nirgendwo auf eine allwissende Autorität. Meines Erachtens lässt sich diese Trennung von Religion und Wissenschaft mit der Philosophie als eine Art Bindeglied nicht aufrecht erhalten: Nur dann, wenn man Theologie, also die Lehre von religiösen Vorstellungen als von der Religion losgelöst betrachtet (was durchaus möglich ist). Ansonsten ist Religion in seiner ursprünglichen Entstehung wohl nichts anderes als Wissenschaft mit unzureichenden Mitteln: Erklärungsmodelle für die uns umgebenden (und bedrohende!) Natur werden geliefert, Koinzindenzien aufgezeigt, der Natur in Ermangelung anderer Denk-Möglichkeiten ein spezifisch menschliches Verhalten unterstellt. Nicht nur bei Göttern findet sich der Anthropomorphismus, auch im Animismus wird vom Menschen auf die ihn umgebende Welt geschlossen. Es sind Erklärungsmodelle für unverständliche Naturvorgänge und zum anderen der Versuch, die Unvorstellbarkeit des eigenen Todes in ein Weltbild zu integrieren. Solche gesamtmetaphysischen Systeme, die sowohl sinngebend für den Einzelnen, moralgebend für die Gesellschaft und naturerklärend (als auch zumeist der Natur etwas spezifisch "sinn-haftes" im Sinne von "für den Menschen begreiflich") sind auch in der Philosophie Legion.
Dann erfolgt ein sehr gelungener kurzer historischer Abriss: Die Philosophie beginnt im Griechenland des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts und versteht sich bis Aristoteles als eine Philosophie von Staats-Bürgern, während die Stoa eine Individualisierung einleitet, die vom Christentum, das ursprünglich unpolitisch und machtlos war, übernommen wurde. Es wird der Weg bereitet für ein Denken, das die Pflichten gegenüber Gott über jene gegenüber dem Staat bzw. der Gesellschaft stellt. Ein Konflikt, der das ganze Mittelalter prägt, der Gegensatz von Papst und Kaiser, geistlicher und weltlicher Macht ist symptomatisch. Erst mit der Reformation wird dem Papsttum Einhalt geboten: Dem Landesherrn, der nun auch über religiöse Fragen entscheidet, wird ungeheurer Machtzuwachs zuteil; außerdem entfällt das Interpretationsprivileg der Heiligen Bücher durch die Theologie: Der Mensch selbst muss nach seinem Gewissen leben, ist bei der Auslegung der Bibel nicht mehr verpflichtet, sich an die Mittler zwischen Gott und Mensch zu wenden.
Durch diese Strömungen wird einem Subjektivismus der Weg bereitet, der in Empfindsamkeit und Romantik mündet und in "schon eher als Irrsinn zu bezeichnenden Formen mündet", wobei nicht ganz klar wird, ob Russel hier etwa Berkeley im Auge hat oder aber solipsistische Strömungen vom Zuschnitt Max Stirners. Russel selbst scheint einer Art Liberalismus zuzuneigen, einem Ausgleich zwischen staatsverherrlichenden Doktrinen eines Hobbes oder Hegel und einem alles zersplitternden Individualismus.
Die Vorsokratiker
1. Der Aufschwung der griechischen Kultur
Große Worte zu Beginn: Nichts sei so überraschend oder schwer erklärlich als das Aufblühen der griechischen Kultur. Solche großen Ankündigungen liebe ich nicht wirklich, denn sie sind meistens bloß Ausdruck dafür, dass etwas ist und nicht nichts. Da wir nun aber auf eine Geschichte zurückzublicken vermögen, die sich "irgendwie" entwickelt hat, ist das Staunen über solche Entwicklungen häufig bloß ein Verwundern über die Kreativität von menschlicher Geschichte - ein Verwundern, dass dem über die Evolution gleicht und etwa zu den grotesken teleologischen Schlussfolgerungen führt, die aus der Unwahrscheinlichkeit unseres Daseins auf eine zielgerichtete Entwicklung schließen, während wir nur Ausfluss von Myriaden Möglichkeiten verschiedenster "Unwahrscheinlichkeiten" sind, wobei jede für sich genommen gleich verwunderlich ist.
Tatsächlich aber sind die philosophischen Überlegungen, die im Griechenland des 6. vorchristlichen Jahrhunderts zum Ausdruck kommen, die ersten ihrer Art. Sie sind mythologisch verbrämt, aber weder das dem Tode und dem Nachtodgedanken verhaftete Ägypten noch das sehr viel lebensfrohere Babylonien haben ein Denken dieser Form hervorgebracht. Und gerade auf diese Verbindung zwischen Religion (Mythologie) und Philosophie (Wissenschaft) nimmt Russel Bezug. Er meint (allerdings bleibt er Beweise weitgehend schuldig), dass in Ermangelung einer Staatsreligion die Philosophie bessere Entwicklungsmöglichkeiten besessen hätte, vergisst allerdings, dass etwa auch in Ägypten es eine Unzahl von lokalen Gottheiten gegeben hat, die nur lose zu einem System sich vereinigen ließen. Und er stellt die Behauptung auf, dass eine Art Staatsreligion wie in den erwähnten Reichen durch die Entwicklung wissenschaftlicher Schulen verhindert worden wäre. Hmm ...
Für Griechenland hatte der Bacchus-Kult (aus Thrakien übernommen) besondere Bedeutung. Ursprünglich ein eher barbarischer Fruchbarkeitskult unterlag er durch Orpheus' Adaptionen einem Wandel hin zum Asketischen, der sich über Platon auch ins Christentum fortsetzte. Orphikern war der Rausch kein im Wein gründender Zustand, sondern sie erstrebten eine mystische Vereinigung mit der Gottheit - und sie entwarfen auch eine erste Theologie inklusive entsprechender Priesterschaft. In der Literatur umstritten sind mögliche Verbindungen zum Buddhismus und dessen Lehre von der Wiedergeburt(von Russel wird eine solche Verbindung bestritten, es gibt aber einiges an gelehrter Literatur, die einen Zusammenhang zwischen Pythagoräern und der indischen Reinkarnationslehre herstellen).
Dann weist Russel auf typische Vorurteile ein: Etwa jenes von den heiteren Griechen, die da fröhlich philosophierend vor sich hin lebten, zeigt die prekären ökonomischen Bedingungen auf (Griechenland ist ein äußert karges Land und sein Reichtum gründete sich im Gegensatz zu den erwähnten Ägyptern oder Babyloniern nicht auf landwirtschaftliche Erzeugnisse, sondern auf den Handel und der damit verbundenen Gründung von Kolonien) oder die Unfreiheit weiter Gesellschaftskreise selbst in klassischer Zeit.
Nächstes Kapitel: Die milesische Schule, beginnend (wie fast jede Philosophiegeschichte) mit Thales.
lg
orzifar
Edit sandhofer: Tippfehler im Titel korrigiert. Nix für Ungut.