@Hallo Orzifar,
vielen Dank für diese Umgruppierung der Beiträge zur "Virtuellen Geschichte". Sie erlaubt es nachzuverfolgen, wie die Diskussion hier begonnen hat. Und es ist kein Zufall, dass es mögliche alternative Verläufe in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der Zeit der beiden Weltkriege, waren.
Eines scheint mir schon wichtig zu sein, um entsprechende Überlegungen anzustellen: Warum können solche Debatten oft heftig verlaufen?
Das Durchspielen alternativer Möglichkeiten, das Lösen denksportlicher Aufgaben, das oft das völlig legitime Bedürfnis großer Teile der Leserschaft nach anspruchsvoller Unterhaltung mit Einschaltung des Gehirns befriedigt, kann in Konflikt mit dem Bestreben der Vertreter historischer Spezialdisziplinen geraten, die "historische Wahrheit" möglichst genau anhand der zugänglichen Quellen rekonstruieren zu wollen.
Keiner wird wohl heute noch behaupten, dass er ohne Vorurteile, "sine ira et studio", völlig unbeeinflusst vom Zeitgeist, völlig objektiv an die Geschichte herangeht. Dass die Frage "Was wäre wenn" für die Geschichtsforschung unzulässig sei, wird ebenfalls kaum noch jemand ernsthaft behaupten wollen, es werden immer wieder alternative Entwicklungen hypothetisch durchgespielt. Und eine abgeschlossene Entwicklung als Naturwissenschaftlerin konsequent "von hinten her zu denken", wird wohl nur von Panegyrikern einer Politikerin zugeschrieben, die das Wort von der "alternativlosen" Entscheidung aufgebracht hat (hier unter Schweizern und Österreichern darf ich ja mal offen reden, *vorsichtig umguck?*

)
Geschichtsforschung ist allerdings immer noch in vielem national organisiert. Vor allem im 20. Jahrhundert kommen politische Interessen ins Spiel. Die Engländer wollen um keinen Preis zulassen, dass sie in den Weltkriegen den deutschen Diktatoren und Stahlhelmträgern hätten unterliegen können.
Mit dem Nachweis der Fälschung des "Igorliedes", das traditionell ins 12. Jahrhundert datiert wurde, aber von vorwiegend ausländischen Forschern immer wieder als ein Produkt der Frühromantik des ausgehenden 18. Jahrhundert denunziert wurde, würden die nationalpatriotischen Russen ihr wichtigstes nationales Denkmal aus dieser frühen Zeit verlieren.
Das darf nicht sein. Deshalb wurde dieser amerikanische Historiker, der das versuchte und überdies den Briefwechsel zwischen Zar Iwan IV., dem Schrecklichen, und dem "Landesverräter", dem Fürsten Kurbskij als Fälschung zu entlarven suchte, 1980 kurzerhand bezichtigt, vom Festland aus die militärische Sperrzone Festung Kronstadt auszukundschaften und in ein sowjetisches Gefängnis gesperrt; die antiamerikanisch eingestellten Parteifunktionäre in der DDR feixten über diesen Handstreich.
In der Schweiz hatte 2003 so ein Kunde, der sich allerdings in der historischen Umweltforschung einen Namen erworben hatte (ich komme auf die Schnelle nicht mehr auf den Namen) kurzerhand die ganze Geschichte der Eidgenossenschaft vor dem 17. Jahrhundert als eine einzige Fälschung hingestellt, aber dort in den Bergen sah man über solch einen Unsinn traditionsgemäß gelassen hinweg.
Die Freunde alternativer Datierungen, eine ganze Heerschar in Russland, wo nach dem Wegfall des einzig beherrschenden Marxismus-Leninismus die Verschwörungstheorien üppig aufblühten, ließen schon einmal ganze Jahrhunderte aus dem Mittelalter wegfallen oder die Literatur der Antike zum mittelalterlichen Mythos erklären. Nun sieht es ja schriftquellenmäßig etwa mit dem 7. Jh. in Mittel- und Osteuropa tatsächlich nicht so gut aus, aber das sollte noch kein Anlass dafür sein, es gänzlich verschwinden zu lassen.
Kurzum, wenn es politisch wird und die herrschenden Versionen in den jeweiligen Ländern berührt, können zunächst relativ harmlose Gedankenspiele ernste Folgen haben.
Neue Generationen wachsen heran, denen sind die ganzen im 20. Jahrhundert entfalteten und emotional aufgeheizten Debatten völlig egal. Es ist schick, einmal durchzuspielen, was der Braunauer, der (abgesehen vom Wissen um die Verbrechen, das kann man ja vorübergehend einmal ausblenden), eine ganz putzige Figur als Popfigur abgibt, sonst noch hätte anstellen können. Von meinem 31jährigen Sohn, der mich an Literaturkenntnis und Vielseitigkeit weit übertrifft, höre ich, wie im Geschichtsunterricht immer wieder ein und dasselbe bis zum Überdruss durchgekaut worden sei, dass man sich dann nicht zu wundern braucht, wenn sich die Jugendlichen ganz anderen Geschichtsdeutungen zuwenden.
Heute morgen habe ich bei Durchblättern eines literaturwissenschaftlichen Rezensionsjournals von einem Popautor der Gegenwart gelesen, für den Künstler des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts schon uralte Gestalten der Vergangenheit darstellen (ich kenne keinen einzigen von ihnen und werde ihn vermutlich auch nicht mehr kennen lernen). Hitler ist für diese jungen Leute eine ebenso in der Geschichte versunkene Gestalt wie Luther, mit dem man 2017 pausenlos genervt wurde, oder Bismarck oder Ulbricht. Bei den Jüngeren (und das sind für mich Leute unter 50

) hat sich eine Unbefangenheit im Umgang mit "virtueller Geschichte" durchsetzen können, wenn es auch immer obrigkeitliche Versuche der Sanktionierung abweichender Ansichten gibt. So, und für mich gehört auch die Erzählung von der DDR allein als "Unrechtsstaat, Stasi, Mauer, Stacheldraht ..." auch zu diesen Legenden, denen die Schüler der Bundesrepublik ausgesetzt werden, damit sie darüber vergessen, was alles heute an sehr Merkwürdigem und Rechtswidrigen in der Demokratie abgeht, deren Vorzüge ich ja durchaus aus eigenem Erleben mehrerer Systeme anerkenne.