Author Topic: Virtuelle Geschichte  (Read 7397 times)

Offline sandhofer

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Virtuelle Geschichte
« on: 18. Juli 2018, 20.24 Uhr »
Hallo!

Niall Fergusons "Virtuelle Geschichte" geäußert

Du sagst da: "Wie das von Deutschland dominierte Europa ausgesehen hätte (wenn England im Ersten Weltkrieg neutral geblieben wäre) hat sich mir ebensowenig erschlossen wie die Folgen, die eine Eroberung Englands (oder der Sowjetunion) im Zweiten Weltkrieg gehabt hätten." - Ich frage mich sowieso, ob so etwas nicht letzten Endes in der Fiktion besser aufgehoben gewesen wäre:

- Philipp K. Dick: Das Orakel vom Berge für eine Eroberung Englands (und der USA) durch Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg
oder
- Hannes Stein: Der Komet für einen gar nicht erst stattgefundenen Ersten Weltkrieg, weil der Thronfolger schon nach dem ersten Attentat wieder "z'haus" ging

scheinen mir zumindest ebenso valable virtuelle Geschiche anzubieten wie die Profis.
Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

Offline orzifar

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Re: Virtuelle Geschichte
« Reply #1 on: 19. Juli 2018, 03.20 Uhr »

Du sagst da: "Wie das von Deutschland dominierte Europa ausgesehen hätte (wenn England im Ersten Weltkrieg neutral geblieben wäre) hat sich mir ebensowenig erschlossen wie die Folgen, die eine Eroberung Englands (oder der Sowjetunion) im Zweiten Weltkrieg gehabt hätten." - Ich frage mich sowieso, ob so etwas nicht letzten Endes in der Fiktion besser aufgehoben gewesen wäre:

- Philipp K. Dick: Das Orakel vom Berge für eine Eroberung Englands (und der USA) durch Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg
oder
- Hannes Stein: Der Komet für einen gar nicht erst stattgefundenen Ersten Weltkrieg, weil der Thronfolger schon nach dem ersten Attentat wieder "z'haus" ging

scheinen mir zumindest ebenso valable virtuelle Geschiche anzubieten wie die Profis.

Dick wird im Vorwort erwähnt (und ich gestehe, dass ich deine Besprechung schon vergessen hatte). - Die Subsumption unter ein bestimmtes Genre scheint mir so wichtig nicht: Wenn ich aber von vornherein SF zu produzieren vorgebe, muss ich mich sehr viel weniger um die Plausibilität der Darstellung kümmern. Letztere aber scheint mir zumindest für einen Historiker wichtig, die Darstellung der Alternativen sollte schon Hand und Fuß haben. Im vorliegenden Buch wurde auf diese Alternativen aber weitgehend verzichtet (was nicht unbedingt schlecht sein muss). Es stellt sich immer die Frage, wann denn ein Ereignis tatsächlich Bedeutung hat: Wohl immer dann, wenn man es aller Voraussicht nach nicht aus der Geschichte eliminieren kann, ohne deren Verlauf großartig zu ändern. Natürlich ist das im Endeffekt immer Spekulation - aber sie kann eben reine SF sein oder aber auch einleuchtend sein. (Vieles liegt natürlich im Auge des Betrachters.)

Außerdem ein paar Zeilen zum Roman von Betty Smith. Hatte Schlimmeres befürchtet.

lg

orzifar
« Last Edit: 02. August 2018, 02.48 Uhr by orzifar »
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Offline sandhofer

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Re: Virtuelle Geschichte
« Reply #2 on: 20. Juli 2018, 17.42 Uhr »
[...] die Darstellung der Alternativen sollte schon Hand und Fuß haben.

Kann sie das wirklich haben? Mir ist Fiktion, die sich von Anfang an als Fiktion ausgibt lieber ... ;)
« Last Edit: 02. August 2018, 02.49 Uhr by orzifar »
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Offline orzifar

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Re: Re: Virtuelle Geschichte
« Reply #3 on: 21. Juli 2018, 03.51 Uhr »
[...] die Darstellung der Alternativen sollte schon Hand und Fuß haben.

Kann sie das wirklich haben? Mir ist Fiktion, die sich von Anfang an als Fiktion ausgibt lieber ... ;)

Um nicht missverstanden zu werden: Ich habe nichts gegen eine solche SF. Und die Übergänge werden wohl fließend sein: Trotzdem kann man sicherlich zwischen wahrscheinlicheren und weniger wahrscheinlichen Szenarien unterscheiden. Entscheidend aber wird sein, wie klug und geistreich sich der Schreibende bei all dem verhält, ob nun Historiker oder Romanautor (jener wird - je weiter das alternative Ereignis zurückliegt - desto mehr Vorsicht walten lassen (weil eben nur noch spekulativ), während dieser sich darum nicht zu bekümmern braucht). Aber wie erwähnt - klug (oder dämlich) kann dann beides sein.

lg

orzifar
« Last Edit: 02. August 2018, 02.49 Uhr by orzifar »
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Offline sandhofer

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Re: Re: Virtuelle Geschichte
« Reply #4 on: 25. Juli 2018, 19.17 Uhr »
Trotzdem kann man sicherlich zwischen wahrscheinlicheren und weniger wahrscheinlichen Szenarien unterscheiden.

Da bin ich eben nicht sicher. Die meisten Autoren (ob nun von SF oder Historiker) scheinen mir davon auszugehen, dass irgendein ganz bestimmtes Ereignis stattfindet oder eben nicht stattfindet. Damit wird aber dieses Ereignis aus der Reihe der notwendigen Ereignisse herausgenommen und für unwahrscheinlich erklärt. Wie können sie sicher sein, dass die Folgeergnisse nun wahrscheinlicher sind?
« Last Edit: 02. August 2018, 02.49 Uhr by orzifar »
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Offline orzifar

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Re: Re: Virtuelle Geschichte
« Reply #5 on: 25. Juli 2018, 21.32 Uhr »
Trotzdem kann man sicherlich zwischen wahrscheinlicheren und weniger wahrscheinlichen Szenarien unterscheiden.

Da bin ich eben nicht sicher. Die meisten Autoren (ob nun von SF oder Historiker) scheinen mir davon auszugehen, dass irgendein ganz bestimmtes Ereignis stattfindet oder eben nicht stattfindet. Damit wird aber dieses Ereignis aus der Reihe der notwendigen Ereignisse herausgenommen und für unwahrscheinlich erklärt. Wie können sie sicher sein, dass die Folgeergnisse nun wahrscheinlicher sind?

Doch, da gibt es offenkundige Unterschiede. Als Beispiel der Anschlag auf Hitler 1939 im Bürgerbräukeller, der durchaus hätte gelingen können. Oder aber die Annahme, dass er plötzlich zum Menschenfreund oder Kommunisten mutiert wäre (weil er aufgrund von Blähungen schlecht geträumt hat). Dieses kann sehr wohl als Ausgangspunkt eines Romans dienen, wird aber vom einem Historiker nicht in Erwägung gezogen werden. Gerade bei Ereignissen, bei denen der Zufall eine Rolle für den Ausgang spielte, kann man legitimerweise alternative Szenarien entwickeln. Im übrigen tut genau das ohnehin auch die Geschichtsforschung: Wenn man etwa die Bedeutung Hitlers für das Dritte Reich einzuschätzen sucht hat man automatisch eine Geschichte im Blick, die ohne Hitler auskommt.

Wie die Bedeutung eines Ereignisses einzuschätzen ist hat m. E. Alexander Demandt am besten anhand des H-O-Schemas gezeigt, indem er jene Rand- und Anfangsbedingungen zu eliminieren versuchte, die wahrscheinlich (und für eine solche Einschätzung bedarf es wohl historischen Wissens, obschon man sich auch unter Historikern sicher nicht immer einig sein wird) keine Änderung des Explanandums zur Folge gehabt hätte. Für obiges Beispiel des Nationalsozialismus: Welche Ereignisse kann man weglassen, auf welche Personen verzichten, ohne den historischen Ablauf zu verändern? Man wird dabei - wie gesagt - selbstredend zu unterschiedlichen Einschätzungen gelangen, aber man kann rationale Begründungen für seine Ansicht angeben. Dass ohne Hitler es einen anderen Geschichtsverlauf gegeben hätte scheint leicht einsichtig, was aber wäre ohne Hess, Goebbels, Heydrich oder Himmler gewesen? Während irgendein Blockwart in einem Vorort von München wohl keinen entscheidenden Einfluss gehabt haben dürfte (aber selbst das ist beileibe nicht sicher).

lg

orzifar
« Last Edit: 02. August 2018, 02.49 Uhr by orzifar »
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Offline sandhofer

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Re: Re: Virtuelle Geschichte
« Reply #6 on: 26. Juli 2018, 19.15 Uhr »
Während irgendein Blockwart in einem Vorort von München wohl keinen entscheidenden Einfluss gehabt haben dürfte (aber selbst das ist beileibe nicht sicher).

Eben da habe ich meine Probleme: Wie weit kann so etwas, das m.M.n. oft von irgendwelchen dummen Zufällen abhängt, wirklich sinnvoll in einer alternativen Geschichtsschreibung berücksichtigt werden? Wir haben hier das wissenschaftstheoretische Problem, dass keine Versuche nach standardisierten Regeln durchgeführt werden können. Oder?
« Last Edit: 02. August 2018, 02.49 Uhr by orzifar »
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Offline orzifar

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Re: Re: Virtuelle Geschichte
« Reply #7 on: 27. Juli 2018, 05.12 Uhr »
Während irgendein Blockwart in einem Vorort von München wohl keinen entscheidenden Einfluss gehabt haben dürfte (aber selbst das ist beileibe nicht sicher).

Eben da habe ich meine Probleme: Wie weit kann so etwas, das m.M.n. oft von irgendwelchen dummen Zufällen abhängt, wirklich sinnvoll in einer alternativen Geschichtsschreibung berücksichtigt werden? Wir haben hier das wissenschaftstheoretische Problem, dass keine Versuche nach standardisierten Regeln durchgeführt werden können. Oder?

Da gebe ich dir völlig Recht: Methodologisch kann man sich da bestenfalls annähern und mit Plausibilität argumentieren (wobei das mit der Annäherung auch für die Naturwissenschaft gilt). Ist im übrigen ein Gedanke, der mich schon als Kind beschäftigt hat: Wenn ich nun morgens nur Sekundbruchteile später aus dem Bett gestiegen wäre - hätte ich dann diesen beschissenen Tag mir ersparen können? H. G. Wells hat - wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht - einen SF-Roman zu diesem Thema geschrieben (man reist in einer Zeitmaschine ins Mesozoikum und zertritt - trotz aller Vorsicht - irgendein Kleinstlebewesen. Als sie zurückkommen, haben Ameisen die Macht übernommen.) - Trotzdem ist das Hitler-Beispiel für mich insofern treffend, als dass man historisch vernünftig über seinen möglichen Tod sprechen kann, während der Fall des Blockwarts aus München ein literarischer Topos wäre: Den man mit Hitler so verknüpfen könnte, dass er zum Bürgerbräukeller eben nicht zu spät kommt.

Aber vom Prinzipiellen her gesehen stimmt es: Es könnte für die Welt entscheidend sein, ob ich mir morgen den linken oder rechten Fuß kratze.

lg

orzifar

Nachtrag: Das Beispiel eines Nationalsozialismus ohne Hitler zeigt, worauf ich auch in meiner Besprechung schon hinwies. Solche Szenarien sind für die Gegenwart bedeutend, sie legitimieren politisches Handeln. Elser war mit Sicherheit der Überzeugung, durch den Anschlag etwas ändern zu können und ähnlich ist es ja auch mit unserem politischen Handeln. Ob wir nun zur Wahl gehen oder uns mit einem Bombengürtel rüsten: Wir glauben dadurch, irgendetwas bewirken zu können. Erst wenn man zur Erkenntnis käme, dass die Geschichte vollkommen streng deterministisch abläuft, könnte man (oder müsste, weil man eben müsste) sich zurücklehnen. Diese Überlegungen sind so beim Blockwart (dessen Furunkel theoretisch die Welt ebenso aus den Angel zu heben vermöchte wie mein Kratzen) nicht möglich, er bedeutet nichts für unser rezentes Handeln.
« Last Edit: 02. August 2018, 02.50 Uhr by orzifar »
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Offline Karamzin

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Re: Re: Virtuelle Geschichte
« Reply #8 on: 30. Juli 2018, 12.10 Uhr »
Wenn mir noch eine Nachbetrachtung zu Eurer Diskussion über den Zufall und das Handeln bestimmter Persönlichkeiten gestattet sein soll: Das Problem der "Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte" ist in letzter Zeit in der Geschichtswissenschaft nur wenig untersucht worden, obwohl das Erscheinen von Führungspersönlichkeiten, wie Trump, Putin, Macron, Merkel oder Orban, die einen ganz erheblichen Einfluss auf den Kurs der von ihnen regierten Länder ausüben, verallgemeinernde Betrachtungen erforderlich machen dürfte.

Ich kann mich hier allerdings auch täuschen, und Ihr könnt mir sagen, dass es da doch neue grundlegende Arbeiten zur Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte gibt, da wäre ich auch sehr dankbar dafür.

Und das ist so schwierig, weil hier eine Reihe von Gründen ins Spiel kommt:

Sowohl im Osten als auch im Westen war jahrzehntelang die These von der "Austauschbarkeit" der Führungspersönlichkeiten verbreitet.
1.) In der Sowjetunion und in der DDR war lediglich eine Arbeit dazu von Belang erschienen: Georgi Plechanov (1856-1918): "Über die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte" (1898), die in deutscher Sprache nach 1948 häufig, besonders unmittelbar nach 1956, den Enthüllungen über Stalins Personenkult,  aufgelegt wurde, zum letzten Mal 1982 in Berlin. Plechanov vertrat die These von der "Austauschbarkeit" von Führungspersönlichkeiten in der Geschichte als Vertretern der Interessen einer bestimmten Klasse. Das konnte nicht befriedigen. Die  besten sowjetischen Napoleon-Biographien, etwa die von Tarle und Manfred, konnten zwar nachweisen, weshalb sich der Korse gegenüber anderen Generalen durchsetzen konnte, die ebenfalls Diktatoren in Frankreich hätten werden können (Bernadotte, Moreau), aber letztlich war für sie für die Bewertung ausschlaggebend, wie Bonaparte die Interessen der Bourgeoisie als der herrschenden Klasse durchsetzte. Dass er scheiterte und Millionen Europäer in den Tod riß, stand wieder auf einem anderen Blatt.

Das Paradoxe an der Sache im Realsozialismus war nun, dass man alle Schandtaten und Fehler einer einzelnen Persönlichkeit (Stalin) anlastete, dass sich aber die Parteiführer (Ulbricht, Honecker) selbst wieder in der Nachfolge des völlig überhöhten und als Alternative zu Stalin gefeierten Lenin gern von ihren Untertanen preisen ließen, obwohl sie angetreten waren, den Personenkult abschaffen zu wollen, der also offenkundig strukturbedingt war, ob es die Persönlichkeit so wollte oder nicht.  Aufschlußreich hierzu die m. E.  gute, aus den Quellen gearbeitete neue Breschnew-Biographie von Susanne Schattenberg (2018).

2.) Im Westen setzte sich besonders seit den 1970er Jahren (Annales-Schule, Bielefelder sozialgeschichtliche Schule) die Betrachtung von Strukturen, wirtschaftlichen Prozessen (z. B. lange Wellen) sowie sozialen Gruppen und Schichten in Opposition zu der traditionellen Ereignisgeschichte mit ihren beherrschenden Persönlichkeiten langfristig durch. Daneben gab es zwar immer interessante, gut geschriebene Biographien, auch für ein breiteres Publikum. Aber meines Wissens hat auch kaum jemand einmal versucht, hier ein System hineinzubringen.

3.) Es ist doch kein Zufall, dass immer wieder Hitler wegen der besonderen Monstrosität der unter seiner Herrschaft begangenen Taten für entsprechende Betrachtungen herhalten muss. Besonders seit Joachim Fests Biographie 1973 konnte an der Feststellung seiner beherrschenden Stellung im NS-Machtapparat nicht mehr gerüttelt werden (auch wenn Diskussionen über ein "Kompetenzenchaos" bei ausführenden Organen aufkamen), Alternativen zu ihm boten sich nach der Ausschaltung der Gegenkräfte 1934 nicht mehr an. Einzig im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 wird ein mißglückter Attentatsversuch als Staatsakt gefeiert. Hier ist Politik bei der Bewertung ebenso im Spiel, wie bei der Feststellung der Singularität des Holocaust, die allerdings von anderen politischen Kräften interessengeleitet in Frage gestellt wird.
Was Stalin betrifft, so war er von 1956 bis 1989 in seinem Macht- und Einflussbereich derart zu einer "Unperson" geworden, dass es nicht möglich war, eine Biographie zu schreiben. Von den neueren Biographien können Montefiores erzählerische Leistung und Oleg Chlewnjuks analytische Tiefe hervorgehoben werden, dem es endlich gelang, in die Archive des Moskauer Machtzentrums vorzudringen.

4.) Ihr habt über Möglichkeiten alternativer Geschichtsdarstellung durch mehr oder weniger begabte Schriftsteller diskutiert. Ich glaube kaum, dass man da mehr ein System hineinbringen kann, als es Alexander Demandt versucht hat, wenn es um ansonsten völlig unbekannte Personen geht.
Ob nun eine führende Persönlichkeit eine Grippe oder Magenverstimmung hatte, wie Napoleon bei Waterloo, oder ein potentieller Attentäter wegen Zugverspätung nicht so recht zum Zuge kam - man kann immer nur achselzuckend feststellen, dass sich tiefgreifende Entscheidungen früher oder später doch durchgesetzt hätten, wenn auch etwas anders - das fällt allerdings alles sehr unbefriedigend aus und bleibt letztlich eine Binsenwahrheit.

Ein letztes Beispiel für "alternative" Darstellung eines geschichtlichen Zusammenhanges, mit dem ich gerade zu tun hatte. Der am 5. Juli verstorbene deutsch-russische Schriftsteller jüdischer Herkunft Oleg Jurjew, 1959 in Leningrad geboren, lässt in seinem ersten auf Deutsch verfassten "Roman" Jakob Michael Reinhold Lenz am 23. Mai 1792, also seinem mutmaßlichen Todestag, einen Brief an seinen fünfzehn Jahre jüngeren russischen Schriftstellerfreund Nikolaj Karamzin verfassen, den er angeblich in den Polizeiakten im Archiv des russischen Geheimdienst gefunden haben will. Das Ganze ist nicht ungeschickt gemacht. Bei Lenz vermischen sich ungewollt die Gedanken an seinen Moskauer Freund Karamzin mit den Erinnerungen an den einst so bewunderten Goethe. Dazu muss man wissen, dass an einer der beiden Stellen, an denen sich Lenz brieflich in knapper Form über Karamzin geäußert hat, die Frage nach Goethes Schicksal nach der Rückkehr aus Italien 1788 anschließt.
Wie soll man jetzt mit diesem literarischen Werk Jurjews umgehen? Einerseits könnte man dankbar sein, dass Jurjew wieder auf das Verhältnis Lenzens und Karamzins aufmerksam gemacht hat, hierzulande haben etliche Leser vielleicht das erste Mal von Russlands berühmtestem Schriftsteller seiner Zeit gelesen. Aber andererseits ist man doch angesäuert, weil schon nach wenigen Zeilen die Mystifikation, die literarische Fiktion für den erkennbar wird, der sich viel mit den Persönlichkeiten beschäftigt hat. Angesichts des spürbaren Mangels an authentischen Dokumenten führt jedoch ein solcher "Neufund" unter dubiosen Umständen die Mehrzahl der Leser in die Irre. "Fake News" contra  eine historische Wirklichkeit, die aus den wenigen Quellen nur schwer zu rekonstruieren ist. Der "Ossian" hat wenigstens als Leistung Macphersons viele Spuren in der Literatur des 18. Jahrhunderts hinterlassen, für die wir dankbar sein können.   

Welches Interesse überwiegt? Das an Unterhaltung und gut geschriebener Prosa oder das des Forschers, für den der Neufund eines authentischen Dokuments eine echte Sensation bedeuten würde.

 
« Last Edit: 02. August 2018, 02.50 Uhr by orzifar »

Offline Karamzin

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Re: Re: Virtuelle Geschichte
« Reply #9 on: 01. August 2018, 10.39 Uhr »

Hallo,

danke an Karamzin für die Ausführungen (ich werde noch darauf antworten). Einstweilen eine Besprechung eines hervorragenden Buches von Daniel Lieberman über die evolutionären Wurzeln unseres Körpers.

lg

orzifar
Wenn Interesse daran besteht, könnten wir auch die Diskussion in einen eigenen Thread auslagern, weil sie hier die Nachrichten über Blogeinträge unterbricht. Ich hatte es da auch noch mit dem literaturwissenschaftlich orientierten Titel von Michael Gampers "Der große Mann. Geschichte eines politischen Phantasmas", Göttingen 2016, zu tun.
Es gab zudem "große Frauen", aber Gamper diskutiert vorwiegend Frauenfiguren in der Belletristik, lediglich Königin Luise bleibt die "Königin der Herzen". Katharina II. wurde als Letzte als "die Große" tituliert, während ihre Zeitgenossin Maria Theresia, deren Jubiläum 2017 zu einer Überschwemmung mit einer Bücherflut führte, nur von einigen Landsleuten "die Große" genannt wurde.

Also ist man jetzt von alternativen Geschichtsdarstellungen, ihren Möglichkeiten und Grenzen, über den größten Täter aller Zeiten, dem sich seit seiner Geburt mannigfache Hindernisse hätten in den Weg stellen können, bis hin zur Rolle des Individuums in der Geschichte, da vor allem der herausragenden Persönlichkeit, gekommen. "Es hätte auch anders kommen können", sagen die einen, während andere auf Spielräume und Grenzen verweisen, die dafür sorgten, dass die Entwicklung in einer bestimmten Richtung weiterging.   

Wir können es allerdings auch sein lassen, wenn das Ganze zu weit führt oder eine Verschiebung zu viele Mühe bereitet, bin im übrigen auch intensiv mit meinem Umzug von einer Stadt in die andere (Hauptstadt) beschäftigt und nicht immer im Netz.
« Last Edit: 02. August 2018, 02.50 Uhr by orzifar »

Offline orzifar

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Re: Virtuelle Geschichte
« Reply #10 on: 02. August 2018, 02.53 Uhr »
So, das Thema wäre verschoben. Was wohl eigentlich so viel Arbeit nicht ist, mir allerdings fehlt die Sandhofersche Routine (und hätte er mir bei meinem Tun über die Schulter geblickt, ein nachsichtiges Lächeln hätte er sich wohl nicht verkneifen können).

An der Zeit soll es nicht scheitern: Die nächsten Wochen werde auch ich wenig zur Verfügung haben, nichtsdestoweniger freue ich mich über alle klugen Beiträge. Und die Frage, was denn nun Geschichte bestimmt (oder wer) nebst allen deterministischen Einsprengseln, hat mich immer wieder beschäftigt.

lg

orzifar
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Offline Karamzin

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Re: Virtuelle Geschichte
« Reply #11 on: 02. August 2018, 10.15 Uhr »
@Hallo Orzifar,

vielen Dank für diese Umgruppierung der Beiträge zur "Virtuellen Geschichte". Sie erlaubt es nachzuverfolgen, wie die Diskussion hier begonnen hat. Und es ist kein Zufall, dass es mögliche alternative Verläufe in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der Zeit der beiden Weltkriege, waren.

Eines scheint mir schon wichtig zu sein, um entsprechende Überlegungen anzustellen: Warum können solche Debatten oft heftig verlaufen?
Das Durchspielen alternativer Möglichkeiten, das Lösen denksportlicher Aufgaben, das oft das völlig legitime Bedürfnis großer Teile der Leserschaft nach anspruchsvoller Unterhaltung mit Einschaltung des Gehirns befriedigt,  kann in Konflikt mit dem Bestreben der Vertreter historischer Spezialdisziplinen geraten, die "historische Wahrheit" möglichst genau anhand der zugänglichen Quellen rekonstruieren zu wollen.
Keiner wird wohl heute noch behaupten, dass er ohne Vorurteile, "sine ira et studio", völlig unbeeinflusst vom Zeitgeist, völlig objektiv an die Geschichte herangeht. Dass die Frage "Was wäre wenn" für die Geschichtsforschung unzulässig sei, wird ebenfalls kaum noch jemand ernsthaft behaupten wollen, es werden immer wieder alternative Entwicklungen hypothetisch durchgespielt. Und eine abgeschlossene Entwicklung als Naturwissenschaftlerin konsequent "von hinten her zu denken", wird wohl nur von Panegyrikern einer Politikerin zugeschrieben, die das Wort von der "alternativlosen" Entscheidung aufgebracht hat (hier unter Schweizern und Österreichern darf ich ja mal offen reden, *vorsichtig umguck?* ;))

Geschichtsforschung ist allerdings immer noch in vielem national organisiert. Vor allem im 20. Jahrhundert kommen politische Interessen ins Spiel. Die Engländer wollen um keinen Preis zulassen, dass sie in den Weltkriegen den deutschen Diktatoren und Stahlhelmträgern hätten unterliegen können.
Mit dem Nachweis der Fälschung des "Igorliedes", das traditionell ins 12. Jahrhundert datiert wurde, aber von vorwiegend ausländischen Forschern immer wieder als ein Produkt der Frühromantik des ausgehenden 18. Jahrhundert denunziert wurde, würden die nationalpatriotischen  Russen ihr wichtigstes nationales Denkmal aus dieser frühen Zeit verlieren.
Das darf nicht sein. Deshalb wurde dieser amerikanische Historiker, der das versuchte und überdies den Briefwechsel zwischen Zar Iwan IV., dem Schrecklichen, und dem "Landesverräter", dem Fürsten Kurbskij als Fälschung zu entlarven suchte, 1980 kurzerhand bezichtigt, vom Festland aus die militärische Sperrzone Festung Kronstadt auszukundschaften und in ein sowjetisches Gefängnis gesperrt; die antiamerikanisch eingestellten Parteifunktionäre in der DDR feixten über diesen Handstreich.

In der Schweiz hatte 2003 so ein Kunde, der sich allerdings in der historischen Umweltforschung einen Namen erworben hatte (ich komme auf die Schnelle nicht mehr auf den Namen) kurzerhand die ganze Geschichte der Eidgenossenschaft vor dem 17. Jahrhundert als eine einzige Fälschung hingestellt, aber dort in den Bergen sah man über solch einen Unsinn traditionsgemäß gelassen hinweg.

Die Freunde alternativer Datierungen, eine ganze Heerschar in Russland, wo nach dem Wegfall des einzig beherrschenden Marxismus-Leninismus die Verschwörungstheorien üppig aufblühten, ließen schon einmal ganze Jahrhunderte aus dem Mittelalter wegfallen oder die Literatur der Antike zum mittelalterlichen Mythos erklären. Nun sieht es ja schriftquellenmäßig etwa mit dem 7. Jh. in Mittel- und Osteuropa tatsächlich nicht so gut aus, aber das sollte noch kein Anlass dafür sein, es gänzlich verschwinden zu lassen.

Kurzum, wenn es politisch wird und die herrschenden Versionen in den jeweiligen Ländern berührt, können zunächst relativ harmlose Gedankenspiele ernste Folgen haben.

Neue Generationen wachsen heran, denen sind die ganzen im 20. Jahrhundert entfalteten und emotional aufgeheizten Debatten völlig egal. Es ist schick, einmal durchzuspielen, was der Braunauer, der (abgesehen vom Wissen um die Verbrechen, das kann man ja vorübergehend einmal ausblenden), eine ganz putzige Figur als Popfigur abgibt, sonst noch hätte anstellen können. Von meinem 31jährigen Sohn, der mich an Literaturkenntnis und Vielseitigkeit weit übertrifft, höre ich, wie im Geschichtsunterricht immer wieder ein und dasselbe bis zum Überdruss durchgekaut worden sei, dass man sich dann nicht zu wundern braucht, wenn sich die Jugendlichen ganz anderen Geschichtsdeutungen zuwenden.
Heute morgen habe ich bei Durchblättern eines literaturwissenschaftlichen Rezensionsjournals von einem Popautor der Gegenwart gelesen, für den Künstler des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts schon uralte Gestalten der Vergangenheit darstellen (ich kenne keinen einzigen von ihnen und werde ihn vermutlich auch nicht mehr kennen lernen). Hitler ist für diese jungen Leute eine ebenso in der Geschichte versunkene Gestalt wie Luther, mit dem man 2017 pausenlos genervt wurde, oder Bismarck oder Ulbricht. Bei den Jüngeren (und das sind für mich Leute unter 50  ;)) hat sich eine Unbefangenheit im Umgang mit "virtueller Geschichte" durchsetzen können, wenn es auch immer obrigkeitliche Versuche der Sanktionierung abweichender Ansichten gibt. So, und für mich gehört auch die Erzählung von der DDR allein als "Unrechtsstaat, Stasi, Mauer, Stacheldraht ..." auch zu diesen Legenden, denen die Schüler der Bundesrepublik ausgesetzt werden, damit sie darüber vergessen, was alles heute an sehr Merkwürdigem und Rechtswidrigen in der Demokratie abgeht, deren Vorzüge ich ja durchaus aus eigenem Erleben mehrerer Systeme anerkenne.

 

Offline orzifar

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Re: Virtuelle Geschichte
« Reply #12 on: 03. August 2018, 04.25 Uhr »
Hallo!

Eine erste Antwort, die zur Verfügung stehende Zeit lässt mehr noch nicht zu.

Wenn mir noch eine Nachbetrachtung zu Eurer Diskussion über den Zufall und das Handeln bestimmter Persönlichkeiten gestattet sein soll: Das Problem der "Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte" ist in letzter Zeit in der Geschichtswissenschaft nur wenig untersucht worden, obwohl das Erscheinen von Führungspersönlichkeiten, wie Trump, Putin, Macron, Merkel oder Orban, die einen ganz erheblichen Einfluss auf den Kurs der von ihnen regierten Länder ausüben, verallgemeinernde Betrachtungen erforderlich machen dürfte.

Im Buch von Ferguson war das zum Teil Thema, konkret im letzten Beitrag (über den Umsturz in der Sowjetunion), der nach Meinung des Autors (auch ein Engländer, dessen Namen ich leider vergessen habe) ohne die Person Gorbatschow nicht stattgefunden hätte. Eine Ansicht, die ich teile, wie überhaupt dieser Beitrag einer der besten war: Weil er die retrospektiven Weisheiten zurückgewiesen hat, die da von einer Zwangsläufigkeit des Niederganges zu sprechen belieben.

Ich kann mich hier allerdings auch täuschen, und Ihr könnt mir sagen, dass es da doch neue grundlegende Arbeiten zur Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte gibt, da wäre ich auch sehr dankbar dafür.

Damit kann ich leider nicht dienen, ich habe über die Jahre zugegebenermaßen die Geschichte sehr vernachlässigt.

Sowohl im Osten als auch im Westen war jahrzehntelang die These von der "Austauschbarkeit" der Führungspersönlichkeiten verbreitet.
1.) In der Sowjetunion und in der DDR war lediglich eine Arbeit dazu von Belang erschienen: Georgi Plechanov (1856-1918): "Über die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte" (1898), die in deutscher Sprache nach 1948 häufig, besonders unmittelbar nach 1956, den Enthüllungen über Stalins Personenkult,  aufgelegt wurde, zum letzten Mal 1982 in Berlin. Plechanov vertrat die These von der "Austauschbarkeit" von Führungspersönlichkeiten in der Geschichte als Vertretern der Interessen einer bestimmten Klasse. Das konnte nicht befriedigen. Die  besten sowjetischen Napoleon-Biographien, etwa die von Tarle und Manfred, konnten zwar nachweisen, weshalb sich der Korse gegenüber anderen Generalen durchsetzen konnte, die ebenfalls Diktatoren in Frankreich hätten werden können (Bernadotte, Moreau), aber letztlich war für sie für die Bewertung ausschlaggebend, wie Bonaparte die Interessen der Bourgeoisie als der herrschenden Klasse durchsetzte. Dass er scheiterte und Millionen Europäer in den Tod riß, stand wieder auf einem anderen Blatt.

Das Paradoxe an der Sache im Realsozialismus war nun, dass man alle Schandtaten und Fehler einer einzelnen Persönlichkeit (Stalin) anlastete, dass sich aber die Parteiführer (Ulbricht, Honecker) selbst wieder in der Nachfolge des völlig überhöhten und als Alternative zu Stalin gefeierten Lenin gern von ihren Untertanen preisen ließen, obwohl sie angetreten waren, den Personenkult abschaffen zu wollen, der also offenkundig strukturbedingt war, ob es die Persönlichkeit so wollte oder nicht.  Aufschlußreich hierzu die m. E.  gute, aus den Quellen gearbeitete neue Breschnew-Biographie von Susanne Schattenberg (2018).

Für den Westen vermag ich das nicht zu beurteilen, für den Osten scheint mir eine solche Betrachtung eine Art von Selbstverständlichkeit beanspruchen zu können: Wer - wie der Marxismus - den Gang der Geschichte zu kennen glaubt, wird natürlich den einzelnen Personen sehr viel weniger Gewicht zugestehen. Die Wege mögen aus dieser Sicht verschlungen sein, das Ziel aber bleibt dasselbe - die klassenlose Gesellschaft.

2.) Im Westen setzte sich besonders seit den 1970er Jahren (Annales-Schule, Bielefelder sozialgeschichtliche Schule) die Betrachtung von Strukturen, wirtschaftlichen Prozessen (z. B. lange Wellen) sowie sozialen Gruppen und Schichten in Opposition zu der traditionellen Ereignisgeschichte mit ihren beherrschenden Persönlichkeiten langfristig durch. Daneben gab es zwar immer interessante, gut geschriebene Biographien, auch für ein breiteres Publikum. Aber meines Wissens hat auch kaum jemand einmal versucht, hier ein System hineinzubringen.

Erinnert mich daran, dass ich immer wieder mal Fernand Braudel lesen wollte und von Duby steht auch noch einiges ungelesen im Regal. Im übrigen bin ich aber bezüglich solcher Betrachtungen a posteriori (bzw. der Erkenntnis von Strukturen) ein wenig skeptisch: Es scheint oft ein wenig billig, post festum Derartiges herauszulesen - und auch etwas willkürlich. Da drängt sich dann der Verdacht auf, dass die geschichtlichen Ereignisse der Geschichtstheorie untergeordnet werden. Denn mit ein bisschen Kreativität lässt sich für jede Theorie ein Beleg finden.

3.) Es ist doch kein Zufall, dass immer wieder Hitler wegen der besonderen Monstrosität der unter seiner Herrschaft begangenen Taten für entsprechende Betrachtungen herhalten muss. Besonders seit Joachim Fests Biographie 1973 konnte an der Feststellung seiner beherrschenden Stellung im NS-Machtapparat nicht mehr gerüttelt werden (auch wenn Diskussionen über ein "Kompetenzenchaos" bei ausführenden Organen aufkamen), Alternativen zu ihm boten sich nach der Ausschaltung der Gegenkräfte 1934 nicht mehr an. Einzig im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 wird ein mißglückter Attentatsversuch als Staatsakt gefeiert. Hier ist Politik bei der Bewertung ebenso im Spiel, wie bei der Feststellung der Singularität des Holocaust, die allerdings von anderen politischen Kräften interessengeleitet in Frage gestellt wird.

Dazu habe ich mir <a href="https://blog.litteratur.ch/WordPress/?p=5865" target="_blank">hier[/url] geäußert. Ich halte eine solche "Feststellung einer Singularität" per se für Unsinn: Allein um sie feststellen zu können, muss bereits verglichen werden. Der Holocaust verliert durch Vergleiche nichts von seiner Schrecklichkeit - und ich glaube auch, dass hier "interessengeleitete" Politik (egal welcher Richtung) im Spiel sein dürfte.

Was Stalin betrifft, so war er von 1956 bis 1989 in seinem Macht- und Einflussbereich derart zu einer "Unperson" geworden, dass es nicht möglich war, eine Biographie zu schreiben. Von den neueren Biographien können Montefiores erzählerische Leistung und Oleg Chlewnjuks analytische Tiefe hervorgehoben werden, dem es endlich gelang, in die Archive des Moskauer Machtzentrums vorzudringen.

Die diesbezügliche russische Literatur ist mir leider völlig unbekannt (und auch an die Lektüre Bullocks kann ich mich nicht mehr wirklich erinnern, könnte sie aber mal wieder auffrischen).

4.) Ihr habt über Möglichkeiten alternativer Geschichtsdarstellung durch mehr oder weniger begabte Schriftsteller diskutiert. Ich glaube kaum, dass man da mehr ein System hineinbringen kann, als es Alexander Demandt versucht hat, wenn es um ansonsten völlig unbekannte Personen geht.
Ob nun eine führende Persönlichkeit eine Grippe oder Magenverstimmung hatte, wie Napoleon bei Waterloo, oder ein potentieller Attentäter wegen Zugverspätung nicht so recht zum Zuge kam - man kann immer nur achselzuckend feststellen, dass sich tiefgreifende Entscheidungen früher oder später doch durchgesetzt hätten, wenn auch etwas anders - das fällt allerdings alles sehr unbefriedigend aus und bleibt letztlich eine Binsenwahrheit.

Bezüglich Demandt stimme ich zu. Was den zweiten Absatz betrifft, stellt sich die Frage, was den tiefgreifende Entscheidungen sind. Hier kann ich Sandhofers prinzipielle Bedenken schon nachvollziehen: Vielleicht hätten solche Nebensächlichkeiten doch eine dauerhafte Wirkung entfaltet und wir sind einfach nicht in der Lage, die eigenen historischen Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen. Anregend finde ich solche Spekulationen allemal - ob sie nun eher der Fiktion oder aber der "ernsthaften" Geschichtswissenschaft zugerechnet werden.

Ein letztes Beispiel für "alternative" Darstellung eines geschichtlichen Zusammenhanges, mit dem ich gerade zu tun hatte. Der am 5. Juli verstorbene deutsch-russische Schriftsteller jüdischer Herkunft Oleg Jurjew, 1959 in Leningrad geboren, lässt in seinem ersten auf Deutsch verfassten "Roman" Jakob Michael Reinhold Lenz am 23. Mai 1792, also seinem mutmaßlichen Todestag, einen Brief an seinen fünfzehn Jahre jüngeren russischen Schriftstellerfreund Nikolaj Karamzin verfassen, den er angeblich in den Polizeiakten im Archiv des russischen Geheimdienst gefunden haben will. Das Ganze ist nicht ungeschickt gemacht. Bei Lenz vermischen sich ungewollt die Gedanken an seinen Moskauer Freund Karamzin mit den Erinnerungen an den einst so bewunderten Goethe. Dazu muss man wissen, dass an einer der beiden Stellen, an denen sich Lenz brieflich in knapper Form über Karamzin geäußert hat, die Frage nach Goethes Schicksal nach der Rückkehr aus Italien 1788 anschließt.
Wie soll man jetzt mit diesem literarischen Werk Jurjews umgehen? Einerseits könnte man dankbar sein, dass Jurjew wieder auf das Verhältnis Lenzens und Karamzins aufmerksam gemacht hat, hierzulande haben etliche Leser vielleicht das erste Mal von Russlands berühmtestem Schriftsteller seiner Zeit gelesen. Aber andererseits ist man doch angesäuert, weil schon nach wenigen Zeilen die Mystifikation, die literarische Fiktion für den erkennbar wird, der sich viel mit den Persönlichkeiten beschäftigt hat. Angesichts des spürbaren Mangels an authentischen Dokumenten führt jedoch ein solcher "Neufund" unter dubiosen Umständen die Mehrzahl der Leser in die Irre. "Fake News" contra  eine historische Wirklichkeit, die aus den wenigen Quellen nur schwer zu rekonstruieren ist. Der "Ossian" hat wenigstens als Leistung Macphersons viele Spuren in der Literatur des 18. Jahrhunderts hinterlassen, für die wir dankbar sein können.   

Welches Interesse überwiegt? Das an Unterhaltung und gut geschriebener Prosa oder das des Forschers, für den der Neufund eines authentischen Dokuments eine echte Sensation bedeuten würde.

Ich kenne Jurjews Buch nicht. Wenn es gut geschrieben ist, hat es m. E. seinen Zweck in jedem Fall erfüllt. Es stellt sich die Frage, was der Autor mit seinem Werk wollte: Wenn er nicht vorsätzlich die Leser hintergeht und Fakten dort vortäuscht, wo es sie nicht gibt, dann ist ihm kein Vorwurf zu machen. Denn man kann doch davon ausgehen, dass ein Leser den Unterschied zwischen Roman und historischer Biographie kennt. Das einzige Kriterium eines solchen Romans bezüglich seiner Beurteilung scheint mir darin zu bestehen, ob der Autor ein talentierter Lügner ist - oder nicht. Um bei Lenz zu bleiben: Inwieweit Büchers Darstellung einer Überprüfung auf historische Wirklichkeit standhält ist für mich zweitrangig - er hat ein nach meinem Dafürhalten glänzendes Werk geschrieben. McPherson hat hingegen bewusst getäuscht: Das ist ihm vorzuwerfen (während man die "Gesänge Ossians" trotzdem hochschätzen kann.

lg

orzifar
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Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831 - 1933
Hans Albert: Kritik des theologischen Denkens
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Offline Karamzin

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Re: Virtuelle Geschichte
« Reply #13 on: 03. August 2018, 10.04 Uhr »
Vielen Dank, @Orzifar, für Deine Beobachtungen.

Nur kurz zu Oleg Jurjews "Roman" unter dem Titel "Unbekannte Briefe". Es handelt sich um drei gleichermaßen fiktive Briefe: "Dobytschin an Tschukowski" über den Literaturbetrieb der Sowjetzeit - niemandem ist ein Verwurf zu machen, wenn im deutschen Sprachraum niemand etwas damit anfangen kann. Im zweiten Brief eines Pryschow (armer Literat mit Alkoholproblem) kennt man den Adressaten Fjodor Dostojewski recht gut - und nun Lenz an Karamzin.

Natürlich ist zu fragen, ob hierzulande überhaupt Leser für dieses Buch vorhanden sind. Als aber auf einer internationalen Tagung in Regensburg über den späten Jakob M. R. Lenz 1780-1792, seine "Moskauer Periode", über diese Publikation Jurjews berichtet wurde, war das den Teilnehmern nicht nur neu, sondern die Verkaufszahlen mochten von nun an in die Höhe geschnellt sein.

Da standen nicht die literarischen Qualitäten im Vordergrund, die bei Büchners "Lenz" nicht zu bezweifeln sind, sondern der Umstand, dass hier angesichts einer völlig dürren Quellenlage ein "Neufund" suggeriert wurde. Und das Ganze ist geschickt gemacht, allerdings muss man wissen, dass der Ausdruck "Zivilisation" in Russland eben nicht vor dem Jahr 1797 nachweisbar ist, und das in einem Artikel von Karamzin.
Den Ausdruck "Lüge", verbunden mit bewusster Täuschung, würde ich angesichts der dichterischen Freiheiten der Schriftsteller hier nicht verwenden wollen: es ist Experimentierfreude am Werk gewesen, die Deutschen wurden auf Karamzin und Lenz aufmerksam, und Jurjew hätte sich höchstwahrscheinlich gefreut, wenn er noch erfahren hätte, wie sein Werk aus dem "Verbrecherverlag" ankam, von dem ich zuvor auch noch nichts gehört hatte.

So, das ist wohl genug von meiner Seite über dieses kleine Werkchen, über "virtuelle Schreibkunst" lässt sich sicher noch mehr sagen.

Dabei muss ich mir eingestehen, dass mein literarischer Horizont recht eng beschränkt ist, ich von so vielem keine Ahnung habe, und kaum ein Historiker in der Lage sein dürfte, über alle Geschichtsepochen gleichermaßen zu urteilen. Alexander Demandt, ursprünglich Althistoriker, steht wohl ziemlich allein damit da, immer wieder interessante übergreifende Fragestellungen in den Mittelpunkt eines Buches zu rücken.

Noch etwas zu den Stalin-Biographien: Sie liegen beide in deutscher Übersetzung vor. Simon Sebag Montefiore ist ein in England lebender Millionär, dem sich viele sonst verschlossene Türen öffneten, der es sich leisten konnte, auf der Suche nach der Herkunft Stalins auch in Georgien noch lebende Zeitzeugen zu befragen, dessen Zweibänder Auskunft über Machtkämpfe, Intrigen, Morde auf der höchsten Etage gibt, wie es so ohne Spekulationen (Kremlastronomie) bisher noch nicht versucht worden ist. Seriös ist hingegen Oleg Chlewjuk, der Stalins Wirken auch in die Strukturen einbettet.
Hier ist immer wieder die Frage: für welches Publikum schreiben die Leute: Jurjew dachte vielleicht an einige Dutzend Leser, Montefiore fand ein Millionenpublikum in aller Welt mit mehreren Übersetzungen, und Chlewnjuks russisches Werk erschien erst auf Englisch, dann auf Deutsch, was zu Mißverständnissen führen muss (russischer Irrglaube übrigens, dass im Osten Deutschlands alle Englisch lesen; es können aus verständlichen Gründen viel mehr Leser der älteren Generationen Russisch).



« Last Edit: 03. August 2018, 10.15 Uhr by Karamzin »

Offline orzifar

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Re: Virtuelle Geschichte
« Reply #14 on: 08. August 2018, 04.35 Uhr »
Hallo,

wieder nur eine Teilantwort.

Eines scheint mir schon wichtig zu sein, um entsprechende Überlegungen anzustellen: Warum können solche Debatten oft heftig verlaufen?
Das Durchspielen alternativer Möglichkeiten, das Lösen denksportlicher Aufgaben, das oft das völlig legitime Bedürfnis großer Teile der Leserschaft nach anspruchsvoller Unterhaltung mit Einschaltung des Gehirns befriedigt,  kann in Konflikt mit dem Bestreben der Vertreter historischer Spezialdisziplinen geraten, die "historische Wahrheit" möglichst genau anhand der zugänglichen Quellen rekonstruieren zu wollen.
Keiner wird wohl heute noch behaupten, dass er ohne Vorurteile, "sine ira et studio", völlig unbeeinflusst vom Zeitgeist, völlig objektiv an die Geschichte herangeht. Dass die Frage "Was wäre wenn" für die Geschichtsforschung unzulässig sei, wird ebenfalls kaum noch jemand ernsthaft behaupten wollen, es werden immer wieder alternative Entwicklungen hypothetisch durchgespielt. Und eine abgeschlossene Entwicklung als Naturwissenschaftlerin konsequent "von hinten her zu denken", wird wohl nur von Panegyrikern einer Politikerin zugeschrieben, die das Wort von der "alternativlosen" Entscheidung aufgebracht hat (hier unter Schweizern und Österreichern darf ich ja mal offen reden, *vorsichtig umguck?* ;))

Die Heftigkeit der Debatten wird wohl von der Geschichtsauffassung abhängig sein: Wer ein teleologisches Geschichtsbild sein eigen nennt (egal ob theologisch oder politisch) wird sich sehr viel leichter auf den Schlips getreten fühlen, weil mit solchen Alternativen das gesamte Bild ins Wanken gerät. Und politische Interessen sind natürlich auch im Spiel: Indem man retrospektiv den zweiten Weltkrieg nebst Holocaust als unverhinderbar betrachtet, schafft man ein festgelegtes Bild vom bösen Deutschen, dem die Bösartigkeit inhärent ist. Bei anderen mögen revisionistische Gründe eine Rolle spielen.

Natürlich - völlig unbeeinflusst kann niemand agieren (auch nicht in den Naturwissenschaften), allein die Wahl des Themas ist schon eine Entscheidung (so habe ich beim Geschichtsstudium etwa das Dritte Reich immer außen vor gelassen - bewusst). Die Tatsache, dass man niemals völlig objektiv sein kann, darf aber m. E. nicht dazu verführen, jedes Bemühen um Objektivität aufzugeben (weil das Ideal nicht erreicht werden kann). Das ist ähnlich wie mit der Gewissheit in der Wissenschaft: Deren Unerreichbarkeit impliziert keineswegs einen Relativismus postmoderner Prägung, da man sehr wohl Kritierien hat, zwischen Interpretationen zu unterscheiden. Ich habe im Blog schon mehrfach darauf hingewiesen, dass es gerade Trump ist, der die höchst problematische Natur dieses Denkens durch seinen Umgang mit "Wahrheit" aufgezeigt hat. Natürlich ist ein Forschen "sine ira et studio" ein Ding der Unmöglichkeit (man würde dann gar nicht forschen, weil man kein Interesse daran hat), aber es gibt sehr wohl eine Integrität des Wissenschaftlers, die dann zum Tragen kommen sollte, wenn die Ergebnisse nicht seinen Wünschen entsprechen. (Wenn Politiker von "alternativlos" sprechen, so nehme ich das ohnehin nicht ernst: Das gehört wohl zum tagespolitischen Geschäft und soll - wie so vieles andere in der Politik - wohl nicht einer genaueren Prüfung standhalten - was interessieren schon die Worte von gestern.)

Geschichtsforschung ist allerdings immer noch in vielem national organisiert. Vor allem im 20. Jahrhundert kommen politische Interessen ins Spiel. Die Engländer wollen um keinen Preis zulassen, dass sie in den Weltkriegen den deutschen Diktatoren und Stahlhelmträgern hätten unterliegen können.
Mit dem Nachweis der Fälschung des "Igorliedes", das traditionell ins 12. Jahrhundert datiert wurde, aber von vorwiegend ausländischen Forschern immer wieder als ein Produkt der Frühromantik des ausgehenden 18. Jahrhundert denunziert wurde, würden die nationalpatriotischen  Russen ihr wichtigstes nationales Denkmal aus dieser frühen Zeit verlieren.
Das darf nicht sein. Deshalb wurde dieser amerikanische Historiker, der das versuchte und überdies den Briefwechsel zwischen Zar Iwan IV., dem Schrecklichen, und dem "Landesverräter", dem Fürsten Kurbskij als Fälschung zu entlarven suchte, 1980 kurzerhand bezichtigt, vom Festland aus die militärische Sperrzone Festung Kronstadt auszukundschaften und in ein sowjetisches Gefängnis gesperrt; die antiamerikanisch eingestellten Parteifunktionäre in der DDR feixten über diesen Handstreich.

Ich glaube, dass eine solche Instrumentalisierung der Geschichte auch schon früher stattgehabt hat. Und am offenkundigsten wird dies von den Israelis betrieben (Shlomo Sand hat darüber zwei großartige Bücher geschrieben - siehe Blog - und wurde dafür natürlich als Nestbeschmutzer und unpatriotisch denunziert). Nun wurde die Apartheit ohnehin gesetzlich festgeschrieben, einen solch faschistoiden Passus kann sich im Westen wohl nur Israel leisten.

Die Freunde alternativer Datierungen, eine ganze Heerschar in Russland, wo nach dem Wegfall des einzig beherrschenden Marxismus-Leninismus die Verschwörungstheorien üppig aufblühten, ließen schon einmal ganze Jahrhunderte aus dem Mittelalter wegfallen oder die Literatur der Antike zum mittelalterlichen Mythos erklären. Nun sieht es ja schriftquellenmäßig etwa mit dem 7. Jh. in Mittel- und Osteuropa tatsächlich nicht so gut aus, aber das sollte noch kein Anlass dafür sein, es gänzlich verschwinden zu lassen.

Kurzum, wenn es politisch wird und die herrschenden Versionen in den jeweiligen Ländern berührt, können zunächst relativ harmlose Gedankenspiele ernste Folgen haben.

Genau. Immer dann, wenn Geschichte (oder Wissenschaft ganz allgemein) einem bestimmten Zweck dienen soll (und ihre Richtung damit vorgegeben ist), sind Alternativen bedrohlich. Das ist das grundsätzlich Gefährliche an der Meinungsfreiheit. Polen ist auch ein gutes Beispiel dafür, Geschichtsbücher werden umgeschrieben, ein bestimmten Geschichtsbild wird aufoktroyiert und all jene, die dem widersprechen, werden kriminalisiert. (Im übrigen halte ich genau deshalb nichts von Gesetzen, die die Auschwitzlüge unter Strafe stellen: Man kann geschichtliche Wahrheiten nicht gesetzlich festlegen. Ein Rechtsstaat muss das locker aushalten und in der Lage sein, die Unsinnigkeit solcher Feststellungen anhand der geschichtlichen Fakten zu widerlegen. Und entsprechend bestrafen, so sie mit eindeutigen Absichten verbunden sind. Aber man kann historische Wahrheit nicht durch die Justiz verordnen. (Das heißt nicht, dass es nicht Paragraphen geben soll und kann, die solche Aussagen unter Strafe stellen - etwa wegen Verhetzung.))

Neue Generationen wachsen heran, denen sind die ganzen im 20. Jahrhundert entfalteten und emotional aufgeheizten Debatten völlig egal. Es ist schick, einmal durchzuspielen, was der Braunauer, der (abgesehen vom Wissen um die Verbrechen, das kann man ja vorübergehend einmal ausblenden), eine ganz putzige Figur als Popfigur abgibt, sonst noch hätte anstellen können. Von meinem 31jährigen Sohn, der mich an Literaturkenntnis und Vielseitigkeit weit übertrifft, höre ich, wie im Geschichtsunterricht immer wieder ein und dasselbe bis zum Überdruss durchgekaut worden sei, dass man sich dann nicht zu wundern braucht, wenn sich die Jugendlichen ganz anderen Geschichtsdeutungen zuwenden.

Das ist und war in Österreich ganz ähnlich (wobei die Schuld eine immer größere Anerkennung erfuhr, je länger das Ereignis zurücklag - honi soit, qui mal y pense ...). Ich habe diesen betroffenheitstriefenden Unterricht immer kritisiert, weil er kontraproduktiv ist. Im übrigen ist eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dieser Zeit auch von der Persönlichkeit des Unterrichtenden abhängig: Man kann als Lehrer nicht über Zivilcourage im Dritten Reich sprechen und gleichzeitig ein devotes Verhalten an Schule oder Universität (dem Rektor oder Direktor gegenüber) an den Tag legen, ein solcher Unterricht wäre höchst unglaubwürdig, ja lächerlich (und genau das habe ich mehrfach erlebt).

Heute morgen habe ich bei Durchblättern eines literaturwissenschaftlichen Rezensionsjournals von einem Popautor der Gegenwart gelesen, für den Künstler des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts schon uralte Gestalten der Vergangenheit darstellen (ich kenne keinen einzigen von ihnen und werde ihn vermutlich auch nicht mehr kennen lernen). Hitler ist für diese jungen Leute eine ebenso in der Geschichte versunkene Gestalt wie Luther, mit dem man 2017 pausenlos genervt wurde, oder Bismarck oder Ulbricht. Bei den Jüngeren (und das sind für mich Leute unter 50  ;)) hat sich eine Unbefangenheit im Umgang mit "virtueller Geschichte" durchsetzen können, wenn es auch immer obrigkeitliche Versuche der Sanktionierung abweichender Ansichten gibt. So, und für mich gehört auch die Erzählung von der DDR allein als "Unrechtsstaat, Stasi, Mauer, Stacheldraht ..." auch zu diesen Legenden, denen die Schüler der Bundesrepublik ausgesetzt werden, damit sie darüber vergessen, was alles heute an sehr Merkwürdigem und Rechtswidrigen in der Demokratie abgeht, deren Vorzüge ich ja durchaus aus eigenem Erleben mehrerer Systeme anerkenne.

Glaubst du tatsächlich, dass mit solchen Aussagen von rezenten Demokratiedefiziten abgelenkt werden soll? Ich habe eher das Gefühl, dass sich die allermeisten um derlei Formulierungen einfach keine Gedanken machen, dass sie sich in dieser Welt mit bestimmten Ansichten eingerichtet haben und diese nicht hinterfragen (wobei das Geschichtswissen, das man haben müsste, um derlei zu kritisieren, meist nicht vorhanden ist). Andererseits verstehe ich die Bezeichnung als Unrechtsstaat sehr gut: Ich habe die Erzählungen eines Bekannten im Ohr, der einige Jahre im Zuchthaus verbracht hat und dessen Beschreibungen auf "Unrechtsstaat" wunderbar zutreffen. Nämlich dergestalt, dass es nicht die geringste Möglichkeit ab, auf Rechte (obschon festgeschrieben) rekurrieren zu können (ohne nicht seine Strafe zu erhöhen). Dass die DDR nicht nur aus Bautzen bestand stimmt sicherlich, verständlich aber auch, dass sie auf Stasi und Unterdrückung reduziert wird (denn das waren konstituierende Merkmale) - wie im NS-Staat etwa die Rassengesetzgebung, die auch nicht jeden betraf, aber paradigmatisch für das Regime war. (Wenn etwa für die DDR auf eine weitgehende Gleichberechtigung - oder Kinderbetreuung - hingewiesen wird, fällt mir die positive Anerkennung dessen relativ schwer: Weil sie nur für all jene wirksam war, die sich mit dem Regime anfreundeten. Wobei die Kinderbetreuung offensichtlich sehr stark der Indoktrination diente - überhaupt die ganze Einbindung der Kinder und Jugendlichen in Organisationen sehr stark an den NS-Staat erinnert.) Jedenfalls konnte ich die noch immer vorhandene Wut meines Bekannten gut verstehen, wenn jemand die DDR auch nur in Ansätzen lobte: Denn die Voraussetzung für alles Positive sei immer gewesen, die Klappe zu halten oder gar jemanden in den Arsch zu kriechen. Wobei ich ein Junktim mit heutigen Ungerechtigkeiten überhaupt höchst problematisch finde: Das eine kann niemals das andere entschuldigen.

lg

orzifar
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