Author Topic: Virtuelle Geschichte  (Read 7398 times)

Offline Karamzin

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Re: Virtuelle Geschichte
« Reply #15 on: 08. August 2018, 08.33 Uhr »
Vielen Dank, @Orzifar,

zum Thema, das am Schluss angesprochen wurde: ich habe 35 Jahre in der DDR verbracht und dann 28 Jahre in der BRD, größtenteils in Westberlin und in Niedersachsen lebend, dazu zusammengerechnet mehrere Jahre in Sowjetunion /Russland. Ich fasse mich als "Wanderer zwischen den Welten" auf, muss mir aber für meine Memoiren noch einen anderen Titel aussuchen. 1,20 Meter Tagebücher seit 1965 werden durchgesehen, die Jahre werden noch einmal durchdacht und bewertet.
1965 gehörte ich zu den Pionieren, die auf dem Erfurter Flughafen Walter Ulbricht die Blumen überreichen durften, der daraufhin sagte: "Nicht alle zu mir, die anderen wollen auch noch welche!", woraufhin ich zu dem deutlich jüngeren Erich Honecker eilte, was meine am Rande stehenden Eltern zu der Überlegung veranlasste, dass der Personenkult an seine natürlichen  Grenzen stoße ... 1970 sah ich in Erfurt Willy Brandt am Fenster ...
Man könnte endlos erzählen. Vom Leid der in Bautzen und Hohenschönhausen Inhaftierten haben wir erst nach 1989 erfahren, aber allein das Wort "Schwedt" erzeugte schon früher Schrecken und sollte es auch (Militärhaftanstalt).

Über Alternativen wurde in den 1980er Jahren nachgedacht, es lief auf einen "Dritten Weg" hinaus. Der war nicht möglich, das Großkapital hatte schon seine Hände nach dem Staatseigentum der DDR ausgestreckt.
Ich war am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz zu der großen Demonstration und kam gerade in dem Moment, als Heym die Worte vom aufgestoßenen Fenster aussprach, hörte Christa Wolf den Begriff "Wende" durchdeklinieren... Für einige Stunden dachte ich, dass es sogar einmal eine "Deutsche Demokratische Republik" geben könnte.

Die Älteren kannten noch den Kapitalismus aus der Weimarer Zeit. Mein Großvater war auch noch 1937 ein arbeitsloser Tischler (Autobahn-Mythos), ein anderer ließ 1941 in der von ihm betriebenen Dresdener Kneipe vernehmen, dass Hitler diesen Krieg verlieren würde, worauf ihn seine Freunde erregt warnten, dass das KZ bedeuten könne.

Und dann kam der Kapitalismus über uns, und viele waren optimistisch angesichts der glitzernden Warenwelt. Die war mir völlig gleichgültig, ein Auto habe ich nie gehabt, heute kein Smartphone ... Aber die Bücher! Was war alles bisher nicht zugänglich und konnte jetzt gelesen werden!
Reisefreiheit gut und schön, um zu reisen muss man aber auch Geld haben, daran haben viele nicht gedacht, für die es zuerst bis Mallorca reichte, heute nur noch bis nach Balkonien, Millionen können sich schlicht keinen Urlaub leisten.

Ich sage, was für mich das Schlimmste an diesem System ist: in ihrer Gier nach Profit schrecken Unternehmen und Banken vor nichts zurück. Als "Steuersparmodell" ausgegebene Schrottimmobilien wurden von als seriös angesehenen Großbanken an die Leute gebracht. Hunderttausende, wenn nicht Millionen nichtsahnende, unbescholtene Bürger wurden um ihr gesamtes Vermögen gebracht, da war es nur ein schwacher Trost, dass auch Westdeutsche, selbst Bänker und Anwälte, auf diesen Betrug hereinfielen. "Ihr Ossis könnt nicht das Kleingedruckte lesen, alle werden betrogen!", daran zerbrachen Freundschaften. Der Staat war, wie sich erwies, mit den Banken liiert und deckte ihr Gebaren. Natürlich wussten wir in der DDR nichts von Geldgeschäften. Wir glaubten, was der Staat sagte: "Ihr müsst für das Alter vorsorgen!" und an die Seriosität von Geldinstituten.

2002 kam es vor dem Reichstag zu einer Demonstration von tausenden Geschädigten, über die natürlich in der Presse nicht berichtet wurde, nachdem sich in Meiningen eine Krankenschwester umgebracht hatte, weil sie buchstäblich bis aufs Hemd von den Betrügerbanken ausgezogen wurde. Ich bin überzeugt, dass diese Raubzüge mehr Menschen das Leben gekostet haben, als die Original-Stasi in der DDR. Steile These? Ich habe Material dazu.

DDR = "Diktatur des Proletariats" (sprich der staatskapitalistischen Funktionärskaste) , BRD = Diktatur der Großbanken und eines Riesenheers von Anwälten, darunter Figuren, die man aus Balzacs Romanen zu kennen glaubt - "Vater Goriot", "Verlorene Illusionen" und "Glanz und Elend der Kurtisanen".

Ich kenne niemanden, der der DDR eine Träne nachweinen würde. Jeder vermisst aber etwas anderes. Mit diesem Zusammenhalt in der Hausgemeinschaft war es nicht immer so weit her, wie berichtet wird, in einem Plattenbau wusste man oft nicht, wer neben einem wohnte.

Am 4. November 1989 sagte Stefan Heym: "Dieses Land ist krank!" Eine beträchtliche Anzahl der einstigen "Bürgerrechtler" unterstützt heute die AfD, die wissen, wie es sich anfühlt, wenn ein Gemeinwesen zu implodieren droht. Das Wort von der "Alternativlosigkeit" ist nicht nur unbedarft, sondern auch dazu geeignet, die Stimmung zusätzlich zur Witterung anzuheizen, denn es gibt kaum Hoffnungen auf eine Alternative.

Ich habe in den kommenden Tagen vor allem einen großen Umzug zu bewältigen.