Author Topic: Platon: Timaios  (Read 15696 times)

Offline sandhofer

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Platon: Timaios
« on: 06. Oktober 2013, 17.36 Uhr »
Hallo!

Ich werde wie abgemacht heute Abend mit der Lektüre anfangen. Jetzt nur kurz zu meiner Ausgabe: Es handelt sich um die Jubiläumsausgabe sämtlicher Werke, eingeleitet von Olof Gigon, übertragen von Rudolf Rufener, 8 Bände, Artemis, Zürich/München 1974. Band VI. Spätdialoge 2. Ich werde heute kaum mehr über die Einleitung hinauskommen, wenn überhaupt.

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sandhofer
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Offline orzifar

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Re: Platon: Timaios
« Reply #1 on: 07. Oktober 2013, 03.41 Uhr »
Hallo!

Ich lese den Timaios in der Schleiermachschen Übersetzung (ergänzt durch Franz Susemihl und andere) in Platon, Sämtliche Werke Bd VII (griechisch - deutsch). Ohne Vor- oder Nachwort. Am Textrand finden sich bei mir die Angaben zur Stephanusausgabe, ansonsten Unterteilungen, von denen ich nicht weiß, ob sie auch in allen anderen Ausgaben zu finden sind. (Aber wir werden uns mit den Zitaten schon zurechtfinden.)

Timaios gehört (weitgehend übereinstimmend) zu den späten Dialogen Platons und es ist der Dialog, der am ausführlichsten seine kosmologische (= naturwissenschaftliche) Position erörtert. Und - wie schon erwähnt - der bis zum Hochmittelalter einzige Dialog, der auch in Europa bekannt und einflussreich war. Ich habe einige Seiten nun gelesen, die sich mit dem Staat, vor allem der Funktion der Wächter und der Kindeserziehung beschäftigen (im "Staat" findet man das Ganze ausführlicher und Sokrates dient auch explizit dazu, bereits bekannte Einstellungen zu rekapitulieren). Klar wird damit aber auch, "welchen" Platon wir hier vor uns haben: Hier spricht er selbst zu uns, kein halb oder ganz verborgener Sokrates.

lg

orzifar
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Offline sandhofer

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Re: Platon: Timaios
« Reply #2 on: 07. Oktober 2013, 06.41 Uhr »
Hallo!

Diese Nummerierung gibt es bei mir auch. Ansonsten hat Gigon in der Einleitung auch darauf hingewiesen, dass es dieser "Dialog", dass es Platon war, der die Naturphilosophie und Kosmologie bis ins Mittelalter geprägt hat, nicht Aristoteles. Ich vermute, dass das auch explizit gegen Gomperz z.B. gerichtet war, der ja die Schuld an der negativen Entwicklung der Naturwissenschaften (in seinen Augen) Aristoteles in die Schuhe geschoben hat.

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sandhofer
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Offline orzifar

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Re: Platon: Timaios
« Reply #3 on: 08. Oktober 2013, 06.23 Uhr »
Hallo!

Diese Nummerierung gibt es bei mir auch. Ansonsten hat Gigon in der Einleitung auch darauf hingewiesen, dass es dieser "Dialog", dass es Platon war, der die Naturphilosophie und Kosmologie bis ins Mittelalter geprägt hat, nicht Aristoteles.

Naja, das scheint mir trotz des Timaios eine gewagte These zu sein, für die man erstmal Belege aufzeigen müsste. Auch wenn man durchaus der Meinung sein kann, dass Platon wesentlich besser zur christlichen Lehre gepasst hätte (eine Meinung, die ich teile), so waren es vor allem die Konzeptionen des "Philosophen" (= Aristoteles), die ausschlaggebend waren (bis in die Neuzeit). Und ob ein platonischer Naturbegriff sich wissenschaftlich besser geeignet hätte (wobei man diesen erst definieren müsste), darf auch bezweifelt werden, vor allem deshalb, weil - wie wir in diesem Dialog ohnehin noch sehen werden - Platon bekannterweise von den Phänomenen nur mittelbar sprach.

lg

orzifar

der sich nun den von Kritias erzählten Mythos von Atlantis zu Gemüte geführt hat. Nicht von ungefähr wird dieser Dialog als einer der Digressionen bezeichnet.
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Offline sandhofer

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Re: Platon: Timaios
« Reply #4 on: 08. Oktober 2013, 20.47 Uhr »
Naja, das scheint mir trotz des Timaios eine gewagte These zu sein, für die man erstmal Belege aufzeigen müsste.

Muss schauen, dass ich am Wochenende Zeit finde, das ganze Zitat abzutippen; vielleicht habe ich Gigons Argument jetzt auch überzeichnet.
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Offline sandhofer

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Re: Platon: Timaios
« Reply #5 on: 13. Oktober 2013, 17.44 Uhr »
Der Anfang ist ganz offenbar das Werk des Literaten Platon. Er stellt vier Männer auf die Bühne, die offenbar gerade von einer andern Diskussion kommen - eben der über den Staat. Platon setzt voraus, dass man weiss, worüber diskutiert wurde - d.h., er setzt die Kenntnis seines Staats voraus -, damit man die Anspielungen versteht. Sokrates scheint mit den Resultaten der Diskussion nicht so ganz zufrieden, also holt man noch einmal Anlauf.

Diesmal will man systematisch und von Grund auf vorgehen. Das Ganze ist offenbar als Trilogie angelegt, in der im ersten Buch (eben Timaios) ebendieser Timaios die kosmologischen Grundlagen legt, im zweiten soll Kritias die staatspolitischen Grundlagen darstellen, im dritten Hermokrates wohl den Schluss machen - allerdings sehe ich nicht ganz, wie. Und wer war der vierte, dessen Abwesenheit ganz zu Beginn moniert wurde? War er eventuell als Überraschungsgast für den Schluss gedacht?

Sobald allerdings Timaios - nach dem Atlantis-Exkurs - loslegt, geht die Fiktion des Gesprächs verloren. Timaios doziert. Als erstes legt er gleich einmal einige Grundgesetze seiner Kosmologie dar. Das Seiende kann nicht geworden sein, das Werdende kann nicht sein. [...] die Welt ist das Schönste von allem Entstandenen, und der Meister ist der beste und vollkommenste von allen Urhebern. So ist denn jene als eine solche ins Leben gerufen worden, die nach dem Urbilde dessen entstanden, was der Vernunft und Erkenntnis erfaßbar ist und beständig dasselbe bleibt.
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Offline orzifar

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Re: Platon: Timaios
« Reply #6 on: 13. Oktober 2013, 22.31 Uhr »
Hallo!

Man verdrängt doch so einiges, so ich die Lektüre des Timaios (da ich Anmerkungen in der Angabe von meiner Hand gefunden habe). Und wenn man das so liest, so ist das Faktum des Verdrängens durchaus verständlich.

Nach einer allgemeinen Gesprächseinleitung, einer Kurzcharakteristik des Wächterstaates wird also der (erste) kosmogonische Entwurf vorgestellt (ab 28 a). Und eine wichtige Unterscheidung getroffen - zwischen Seiendem und Werdendem, wobei letzteres eines Urhebers bedauf, eines Demiurgen. Dieses Werdende ist unstet, immer im Vergehen begriffen, es wird nach dem Seienden der Ideen, nach dem Ewigen gebildet, wobei nur über dieses Seiende mit Gewissheit gesprochen werden kann, über das Werdende (= die physische Welt und alles in ihr Enthaltene) nur im Sinne von etwas Wahrscheinlichem. (Das ist im übrigen wortgleich auch von Gassendi gesagt worden, wobei es bei ihm dazu diente, die Sphäre des Göttlichen von dem der Wissenschaft Zugängigen zu unterscheiden.)

Dann wird weiter argumentiert (in genuin christlichem Sinne, weshalb ich - u. a. - der Meinung bin, dass sich der Platonismus sehr viel besser in das Christentum hätte integrieren lassen als die Lehren des Aristoteles), dass Gott die Welt aus Güte, dass er sie vernünftig geschaffen hätte (weil eine vernünftige Welt besser sei als eine unvernünftige). (Über den philosophischen Wert einer solchen Argumentation will ich lieber nicht mich auslassen.) Die Vernunft hinwiederum bedarf der Seele, deshalb ist die Welt auch insgesamt beseelt, im Besitz einer "Weltseele". Das Argument, dass es nur einen umfassenden Gott geben könne (weil die Existenz von zweien einen dritten, sie umfassenden, implizieren würde, und auch einen vierten, der die vorhergehenden in sich begreift ad infinitum) meine ich in dieser Form auch bei Anselm gelesen zu haben (es schreiben doch immer alle ab).

Physisch ist die Welt aus den vier empedokleischen Grundstoffen zusammengesetzt (dem wird aber noch "widersprochen" werden durch eine Art demokritischen Weltaufbau), diese Weltstoffe erfahren eine Art geometrischer Begründung, die Welt selbst ist rund (Idealform), die Entstehung der Weltseele ist allerdings ein Beispiel von Bruchrechnen für Fortgeschrittene, die der Weltzwischenräume und verschiedenen Sphären ebenso (ich nehme einfach zur Kenntnis, dass einem der Zwischenräume das Verhältnis der Glieder von 243 zu 256 entspricht). Dann werden auch noch vom Ur-Gott die anderen Götter erschaffen (jene, die wir aus der Mythologie kennen), die hinwiederum die Erschaffung des Menschen übernehmen (weil der Mensch ansonsten unsterblich wäre). Für den Menschen ist das Wichtigste die Beherrschung der Leidenschaften, die ganzen Empfindungen sind ein ungestalter Wirbel, den mit der Zeit die Vernunftseele durchdringt und dadurch die Oberhand gewinnt. Außerdem gibt es eine Stufenleiter des Lebendigen: Mann - Frau - Tier - Pflanze ...

Insgesamt aber eine sehr mühsame, wenig begeisternde Lektüre. Wem man die Dialoge Platons zu vermiesen gedenkt, den soll man erstmals mit diesem Stück konfrontieren: Die Erfolgschancen stünden relativ gut.

lg

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Offline sandhofer

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Re: Platon: Timaios
« Reply #7 on: 14. Oktober 2013, 14.16 Uhr »
Hallo!

Ich betrachte diesen Text hier nicht als Dialog. Es ist ein Lehrvortrag, mit einem als Timaios verkleideten Platon als Professor. Hier sieht man so schön, was "ex cathedra" wirklich mal geheissen hat ...  >:D Im übrigen wollte ich mich schon immer mal mit den platonischen Wurzeln des Christentums befassen, die ja meines Wissens über den Neuplatonismus sehr stark ausgebildet sind.

Grüsse

sandhofer
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Re: Platon: Timaios
« Reply #8 on: 14. Oktober 2013, 21.01 Uhr »
Im übrigen wollte ich mich schon immer mal mit den platonischen Wurzeln des Christentums befassen, die ja meines Wissens über den Neuplatonismus sehr stark ausgebildet sind.

Ganz dunkle Erinnerungen habe ich an den Dir sicher bekannten spätantiken Autor Plotin, ein Neuplatoniker, der keine geringe Rolle bei der Herausbildung der Mystik spielte. Wer Platon und Christentum zusammenbringt, befindet sich übrigens in illustrer Gesellschaft. Es war Nietzsche, der im Katholizismus den Platonismus für den Pöbel witterte. 

Offline orzifar

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Re: Platon: Timaios
« Reply #9 on: 15. Oktober 2013, 06.45 Uhr »
Hallo!

Hierin hast du Recht: Ein Monolog ist kein Dialog und ist auch nur schwer als solcher zu betrachten ;). Trotzdem figurieren alle diese Werke als platonische Dialoge, ungeachtet ihres tatsächlichen Charakters. - Dass der Einfluss Platons gering blieb ist u. a. durch die Überlieferungsgeschichte bedingt, auch durch die Auseinandersetzungen der Kirchenväter mit den Neuplatonisten (die zudem im christlichen Mittelalter auch nicht zur Verfügung standen).

Die Ausführungen im Timaios sind mühsam, aber ideal für Dissertationen (die in der Leseliste bei mir aufscheinende ist ein dafür typisches Werk und auch nicht gerade lesbar). Einige Male steht wörtlich: "Setzen wir fest" - und genau diesen Eindruck hat man. Es ist ein kosmogonischer Entwurf - einer von unzähligen möglichen, aber einer, der durch die Überlieferung wirkmächtig wurde.

Die Einzelheiten scheinen mir (der ich keine Dissertation über Plato zu verfassen gedenke) nicht von eben großer Bedeutung (etwa die biologische "Erkenntnis", dass ein runder Kopf seiner Form wegen dominierend im Körper sein müsse). Die Konzeption des Sehens hatte lange einen großen (retartierenden) Einfluss auf die Optik, da Plato mit einem Sehstrahl operierte (er war aber nicht der einzige, ob der erste war, müsste ich nachsehen). Das Auge war ihm auch das wichtigste erkenntnistheoretische Werkzeug, indem vom Sehen auf die Zahl, das Weltall, die Erkenntnis und schließlich die Philosophie geschlossen wurde (beim Hören gibt es eine ähnliche Konzeption: Hören, Harmonie, Musik - Seelenberuhigung). Interessanter der Abschnitt zu den "Ursachen" die da in "wahre" und materiale geteilt werden - und die wahren liegen in uns selbst, während die materialen eigentlich sekundär sind. Solche Betrachtungsweisen kann man auch noch bei Heidegger oder Gadamer finden (für den die Welt eine Art Text war, den es auszulegen galt), hier ist die Spur der idealistischen Sichtweise über die Jahrhunderte erhalten geblieben (vorgenannte Denker habe etwa immer den Naturwissenschaften, den "sekundären" Ursachen, skeptisch gegenüber gestanden).

Dann kommt es zu dem schon erwähnten Wechsel in der Kosmogonie, die die empedokleischen Grundstoffe nicht mehr als letzte Teile betrachtet, sondern diese weiter zerlegbar erscheinen lässt. Ermöglicht wird dies durch die Einführung eines "Dritten" - neben dem Urbild und der realisierten Welt wird der Raum postuliert, ohne den es keine Welt geben könne. Die Urstoffe sind dann zerlegbar in räumlich-geometrische Einheiten (gleichschenkelige und ungleichschenkelige Dreiecke), die durch Vermischung die einzelen Elemente aufbauen (was wiederum geometrisch "bewiesen" wird: Allerdings bleibt der Ikosaeder als platonischer Körper außen vor, wenn ich das richtig gesehen habe). Und sie sind auch für die Bewegung verantwortlich, weil sie einerseits ungleich sind (Gleichheit würde Ruhe bedingen), andererseits durch den kosmogonischen Raum eingeschränkt werden und dadurch sich untereinander vermischen.

Nach derart vielen konzisen Beweisführungen brauche ich mal wieder eine Pause. Aber philosophiehistorisch ist das Ganze natürlich hochinteressant.

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Re: Platon: Timaios
« Reply #10 on: 16. Oktober 2013, 05.02 Uhr »
Hallo!

Der interessantere Teil der Weltentstehung lag hinter mir, das Folgende über den Aufbau des Körpers, dessen Funktionen und Krankheiten sowie die der Seele entbehren nicht eines gehörigen Maßes an Kuriosität. Was diese, eher empirischen Bereiche anlangt, wurde mit Aristoteles ein Sprung gemacht, der mir in dieser Größenordnung erst beim Lesen des Timaios wieder bewusst wurde. Platon erachtet es - entsprechend seiner idealistischen Philosophie - nicht für notwendig, sich mit empirischen Dingen zu beschäftigen, ergeht sich aber dennoch in Spekulationen über diese irdische Welt (erwähnt aber auch, dass all dies nur "Wahrscheinlichkeit" beanspruchen dürfe (72e), was angesichts seiner Theorie wie eine vorbeugende Entschuldigung klingt).

Die Empfindungen werden auf den Aufbau der Dreiecke zurückgeführt (es wird kein Versuch einer erkenntnistheoretischen Aufarbeitung gemacht): So wird Schärfe durch spitze Dreiecke hervorgebracht, herber Geschmack ist durch Raues, süßer durch Glattes verursacht, Härte wird mit der Erde verbunden (weil der die Erde konstituierende Kubus die stabilste Grundfläche besitzt), die hohen Töne bewegen sich schneller, die tiefen langsamer - und die Farbentheorie ist ein einzige Seltsamkeit.

Der Körper besitzt zwei bzw. drei Seelen, wobei die Vernunftseele im Kopf angesiedelt ist und mit der Göttlichkeit am ehesten assoziiert werden kann. Interessant ist später die Krankheitstheorie der Seele (weil modern anmutend): Wahnsinn und Unwissenheit sind die Ursachen, niemand aber ist freiwillig schlecht, sondern wird entweder durch Krankheit oder aber durch Erziehung und Umwelt zur Schlechtigkeit gebracht. Der Vernunftseele wird Priorität eingeräumt: Sie solle man pflegen und fördern, damit man der göttlichen Gedanken teilhaftig werde, während jene Seele, die zwischen Nabel und Zwerchfell angesiedelt ist, für die körperlichen Belange zuständig und insofern "niedriger" einzustufen ist (ein Konzept, das sich für das Christentum als geeignet zeigt).

Die Beschreibung des Körperaufbaus bzw. der Körperfunktionen ist höchst abenteuerlich: Hier wird in freiem Assoziieren vor sich hin spekuliert (immer im Gegensatz zu Aristoteles, der nur wenig später diesen Bereichen sehr viel mehr Aufmerksamkeit, vor allem aber Forschung gewidmet hat). Dennoch scheint es wichtig, dass sämtliche - wenn auch abstruse - Zuschreibungen an die einzelnen Organe und Körperteile im Grunde Erklärungscharakter haben, sie rekurrieren nicht (oder nur mittelbar) auf Numinoses, sondern betonen einen pragmatischen (bzw. teleologischen) Aspekt des Körperaufbaus. Der Kardinalfehler Platons besteht darin, dass er auf empirische Beweisbarkeit verzichtet, was natürlich durch seine Ideenlehre begründet wird: Die erschaffene, den Sinnen zugängige Welt lohnt eine solche Untersuchung nicht. Deshalb sind diese Spekulationen für ihn legitim.

Bezüglich der Krankheiten ist Platon der Meinung, dass eine ungehörige Vermischung der Elemente die Ursache darstellen: Im Grunde referiert er - mit kleinen Veränderungen - die Viersäftelehre (wobei er die Lymphe statt der gelben Galle erwähnt). Auch hier werden "wunderbare" Einwirkungen außen vor gelassen: Möchte man angesichts der Theorie sich zwar von keinem Arzte platonischer Prägung behandeln lassen, so sind es doch zumindest theoretische Erklärungen (ohne Wunderglauben), die er den Krankheiten zugrunde legt. Und er trifft auch manchmal ins Schwarze, so, wenn er das Fieber als eine Art Heilmittel, nicht als Krankheit selbst bezeichnet.

Ganz zum Schluss noch zur Entstehung der Frauen: Sie waren in ihrem ersten Leben feige Männer, die dann eben als Frauen wiedergeboren wurden. Dadurch kommt es zur Ausbildung der Sexualität, wobei diese ausgelebt werden müsse, um nicht zu Frustrationen (Verstopfungen im Körper) zu führen. Das klingt ein wenig nach Freud und dessen Ansichten über die Hysterie.

Der (für mich) interessanteste Teil war eindeutig jener über die kosmologischen und kosmogonischen Bereiche. So etwa die Tatsache, dass Platon niemals Demokrit erwähnt, obwohl er ganz eindeutig sich mit dessen Lehre auseinandersetzt und den Abderiten auch sicherlich gekannt haben wird. Denkschulen scheinen auch vor 2500 Jahren nicht anders funktioniert zu haben als in der Gegenwart ;)

Du hast natürlich Recht, Sandhofer: Eigentlich müssten wir uns nun den Kritias vornehmen (der denn auch sehr viel interessanter zu lesen sein wird), weil dort der Aufbau eines idealen Staates beschrieben wird. Ich wäre dazu bereit, vor allem weil dieses Stück auch sehr viel kürzer ist. Gegen eine kurze Pause hätte ich aber nichts einzuwenden.

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Re: Platon: Timaios
« Reply #11 on: 16. Oktober 2013, 07.10 Uhr »
Gegen eine kurze Pause hätte ich aber nichts einzuwenden.

Du bist mir sowieso weit voraus geeilt. Ich stecke noch ganz am Anfang, ungefähr 30b.
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Re: Platon: Timaios
« Reply #12 on: 20. Oktober 2013, 19.00 Uhr »
Ich habe jetzt gerade mal den runden Kopf hinter mir ... Ob Timaios sogar philosophie- bzw. geistesgeschichtlich den Aufwand lohnt?  ::)
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Re: Platon: Timaios
« Reply #13 on: 22. Oktober 2013, 05.17 Uhr »
Hallo!

Ich habe jetzt gerade mal den runden Kopf hinter mir ... Ob Timaios sogar philosophie- bzw. geistesgeschichtlich den Aufwand lohnt?  ::)

Eine nicht unberechtigte Frage :). Die ich aber dann doch eher positiv beantworten würde. Allerdings ist diese Art der Beschäftigung mit Philosophie (eine rein philosophiehistorische) nicht mein liebstes Steckenpferd. Wobei Untersuchungen über die philosophiegeschichtlichen Auswirkungen des Timaios auf Neuplatoniker, das mittelalterliche Denken noch interessant sein können.

Gänzlich unverständlich sind mir hingegen Arbeiten wie die von Fackeldey (die ich in der Leseliste hatte): Er beschäftigt sich fast ausschließlich mit einem Artikel von I. Müller-Jensen, die eine bestimmte Interpretation des Timaios vorlegte und sucht nun diese zu widerlegen, in dem er auf philologische, noch stärker aber auf eigene Interpretationen beruhende Schlussfolgerungen (die dann wohl wieder Anlass für eine Dissertation sind) zurückgreift. Das ist akademische Philosophie, wie sie zurecht scheel betrachtet wird: Die Interpretation einer Interpretation einer Interpretation ... Eine Form von Sekundärliteraturfetischismus, der nichts anderes ist als ein müßiges Rätsellösen mit hermeneutisch-analytischen Mitteln, wobei das Rätsel möglicherweise gar keines ist. Wodurch die Philosophie - verständlicherweise - in den Ruf einer völlig unfruchtbaren Orchideenwissenschaft kommt.

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Re: Platon: Timaios
« Reply #14 on: 26. Oktober 2013, 17.12 Uhr »
Hallo!

Ich habe nun die Passage mit den Dreiecken hinter mir, mit Hilfe derer die Welt geformt wurde. Was Platon dabei unterschlägt: Wie kommt das Eckige ins Runde? Denn die Welt ist ja ursprünglich als Kugel erschaffen worden. (Worauf Platon-Timaios ja unmittelbar nachher Wert legt, wenn er abstreitet, dass es ein "Unten" und ein "Oben" gebe.) Das widerspricht sich nur schon geometrisch ...

Wenn Gomperz übrigens von den Molekülen gewusst hätte, hätte er wohl Platons Theorie so interpretiert, dass die verschiedenen Dreiecke = den Atomen sind; die daraus zusammengesetzten Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft = den Molekülen.

Und dann plötzlich der Sehstrahl. Alle andern Empfindungen des menschlichen Körpers geschehen rein passiv - beim Sehen soll plötzlich ein aktiver Strahl das Auge verlassen?

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