Author Topic: Vladimir Nabokov: Ada oder das Verlangen  (Read 20089 times)

Offline Gontscharow

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Vladimir Nabokov: Ada oder das Verlangen
« on: 12. Juli 2011, 12.06 Uhr »

Liebe Nabokov- Mitleser!

Hiermit eröffne ich die Leserunde zu Ada oder das Verlangen. Eine Familienchronik.

Im Original heißt der Roman Ada, or ardor.... und spielt wirklich,  jedenfalls im ersten Teil, in der Hitze, Schwüle, Glut des Hochsommers in einer Art Garten Eden. Das nur als kleiner Nachtrag zum Thema Juli-Lektüre. Nach sandhofers Theorie wäre der Roman ja eher etwas für die kalten Monate.

Die ersten drei Kapitel, die so tun, als würde der Leser in die Genealogie der Familie eingeführt, erklären gar nichts,  sind eher verwirrend,  fast unlesbar, abweisend. So wie der unschmackhafte Brei, durch den man sich hindurchfressen muss, bevor man ins Schlaraffenland gelangt ...


Offline sandhofer

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Re: Vladimir Nabokov: Ada oder das Verlangen
« Reply #1 on: 12. Juli 2011, 17.34 Uhr »
Ich habe keine Theorie. Aber Eiswürfel im Kühlfach ...   ;D
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Offline Anna

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Re: Vladimir Nabokov: Ada oder das Verlangen
« Reply #2 on: 12. Juli 2011, 18.41 Uhr »
Und bei mir sind es 36° im Schatten. Kommt mir also bloß nicht mit Sommerlektüre :-[

Hallo Gontscharow!

Ja, die ersten Kapitel sind ein wenig verwirrend. Zunächst weiß man nicht, wo die Geschichte spielt, ob in Russland oder in Amerika, bis man dann merkt, dass es sich um eine imaginäre Welt handelt (was, bitte schön, ist eine L-Katastrophe?), die ein Gemisch aus beiden ist, wobei es mir vorkommt, als sei das moderne Amerika mit dem alten Russland vermengt. Aber ich bin erst im dritten Kapitel, vielleicht irre ich mich auch. Leicht zu lesen ist der Roman wegen der vielen Einschübe und Anspielungen nicht. Ada und Van sind Halbgeschwister, so viel habe ich begriffen, und sehr intelligent und eloquent. Bis jetzt gefällt mir das Buch ganz gut. Ich lese gerne Romane, die abschweifen, sich immer wieder in Einzelheiten und Nebenhandlungen verlieren und ein breites Lebensspektrum vor einem ausbreiten. Nach den ersten Kapitel zu urteilen, könnte „Ada“ so ein Roman sein. Also mach ich mich weiter auf den Weg, der hoffentlich ins Schlaraffenland führt.

Gruß
Anna
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Offline Anita

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Re: Vladimir Nabokov: Ada oder das Verlangen
« Reply #3 on: 12. Juli 2011, 20.40 Uhr »
Hallo liebes und mutiges Leseteam  ;)

Ich habe nach etwa 100/120 Seiten aufgegeben. Ja, ja ich weiß Anna, ich gebe schon mal schnell auf  ;), aber meine Mitstreiterin, die eigentlich nie aufgibt, hat dann (und das dann klammheimlich  ;D ) das Buch auch zurück ins Regal gestellt.
Ich bin sehr gespannt auf eure Kommentare.

LG
Anita
Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.  Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"

Offline orzifar

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Re: Vladimir Nabokov: Ada oder das Verlangen
« Reply #4 on: 12. Juli 2011, 23.25 Uhr »
Liebe Gemeinde,

auch ich kann immerhin 34 Grad im Schatten bieten, dazu Klein-Orzifar, welcher absolut temeraturresistent ist und gleichzeitig seinen alten Herrn für alles und jedes (Schweißtreibende) in Anspruch nimmt. Außerdem warten noch etwa 300 Seiten Proust auf mich, die Kyniker und nach dem Kriton noch der Phaidon (nebst irgendetwas Stoischem, was nun die Signaturgröße einzutragen nicht mehr zulässt). Will sagen: Ich stoße cum tempore zu euch.

lg

orzifar
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Offline Gontscharow

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Re: Vladimir Nabokov: Ada oder das Verlangen
« Reply #5 on: 22. August 2011, 16.22 Uhr »
Seit geraumer Zeit schon habe ich die lange Anfangsepisode von Ada (4. bis 25. Kap) gelesen, hatte bislang aber keine Zeit, etwas dazu zu schreiben. :angel:
 
Übrigens lese ich die rororo-Taschenbuchausgabe aus dem Jahre 1977, die im Gegensatz zu der neu übersetzten Version von 2007(?) nur den Erklärungsanhang von Nabokov höchstselbst und keine zusätzlichen Erläuterungen enthält. Die wären allerdings vonnöten, denn Nabokovs Glossar ist eher dünn und die  Auswahl recht willkürlich und zufällig. Und der Text strotzt nur so von Erklärungsbedürftigem:  literarischen Anspielungen, versteckten Zitaten, mehrdeutigen Verballhornungen, Sprachspielereien, Wortverdrehungen, Anagrammen usw. Hinzu kommt, dass in mindestens drei Sprachen und einem Mischmasch aus denselben parliert wird, in (kanadischem) Französisch, Englisch, Russisch. Denn das ganze spielt in der fiktiven Welt von Antiterra (die aber in den Details unser Terra zum Verwechseln ähnlich ist), und zwar bislang in  Ameruss, einer Art Collage aus vorrevolutionärem Russland und dem heutigen Nordamerika. So ist es möglich, dass Van in hochgekrempelten Jeans einer Gruppe singend von der Ernte heimkehrender altrussischer Mägde begegnet ...

Van ist knapp 14 und verbringt die Sommerferien auf Ardis Hall, einem Anwesen seiner „Tante“, einer ehemaligen Schauspielerin, und seines Kunst sammelnden Onkels. Mit seiner zwölfjährigen Kusine Ada verbindet ihn eine Art amour fou. Als die Kinder herausfinden, dass sie nicht nur nicht Geschwisterkinder, auch nicht Halbgeschwister, sondern Schwester und Bruder sind, tut das der Liebe keinen Abbruch, im Gegenteil! Wälsungenblut lässt grüßen. Geschwisterinzest als gesteigerte Form narzisstischer Eigenliebe, Möglichkeit sich im andern zu spiegeln und von der schnöden Welt abzugrenzen. Denn die enorme erotische Anziehung ist unterfüttert mit einer Seelen- und Geistesverwandtschaft, die andere ausschließt. So setzen diese intellektuellen Wunderkinder ihre (ahnungslose) Umwelt und den Leser in Erstaunen mit ihrer Bildung, ihrer Hellsichtigkeit und ihren altklugen Sarkasmen. Hinzu kommt, dass Ada - wie Nabokov selbst - lepidopterologischen und botanischen Leidenschaften frönt, deren Schilderung zur hypertrophen Treibhausatmosphäre dieses ersten Teils noch beiträgt. Üppigkeit, Opulenz, Sinnlichkeit sind die Stichworte, die  sich einem aufdrängen angesichts der unglaublich frühreifen, erotisch aufgeladenen Protagonisten, ihrem Schwelgen in Kunst und Wissenschaften, der üppigen Flora und Fauna des weitläufigen Gartens,  ja selbst der Architektur des Herrenhauses, dem mit all seinen Kellern, Dachböden, Gauben, Türmchen und labyrinthisch verschlungenen Gängen ebenfalls etwas Wucherndes, Organisches anzuhaften scheint …
__________________________________ _______________________________

Der Text geht eigentlich noch weiter. Aber bei voller Länge erscheint ein: Forbiddden. You don't have the right... Ist das o.K.?

« Last Edit: 22. August 2011, 16.32 Uhr by Gontscharow »

Offline orzifar

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Re: Vladimir Nabokov: Ada oder das Verlangen
« Reply #6 on: 22. August 2011, 16.30 Uhr »
Der Text geht eigentlich noch weiter. Aber bei voller Länge erscheint ein:Forbiddden. You don't have the right... Ist das o.K.?

Ich vermute, dass du irgendwo im Text L.o.l.i.t.a. gesagt hast ;), die Serversoftware ist da ganz pingelig. Mach ein Anagramm draus :).

lg

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Offline sandhofer

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Re: Vladimir Nabokov: Ada oder das Verlangen
« Reply #7 on: 22. August 2011, 16.48 Uhr »
Der Text geht eigentlich noch weiter. Aber bei voller Länge erscheint ein:Forbiddden. You don't have the right... Ist das o.K.?

Ich vermute, dass du irgendwo im Text L.o.l.i.t.a. gesagt hast ;), die Serversoftware ist da ganz pingelig. Mach ein Anagramm draus :).

Guckst Du hier:

http://litteratur.ch/SMF/index.php?topic=135.0 :)
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Offline Gontscharow

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Re: Vladimir Nabokov: Ada oder das Verlangen
« Reply #8 on: 22. August 2011, 17.46 Uhr »
Fortsetzung:
...
Das Ganze sollen die Memoiren eines über Neunzigjährigen sein. Nicht immer nachzuvollziehen, da nicht in der Ich-Form geschrieben und auch die personale Erzählhaltung und Perspektive nicht konsequent eingehalten sind. Auch die Detailfülle spricht eigentlich gegen die Erinnerungsfiktion. Ich hatte sie streckweise ganz vergessen.  Dann unterbrechen in Klammern wiedergegebene Anmerkungen der im gleichen Alter befindlichen Ada den Erzählfluss  und erinnern daran, dass das Memoiren sein sollen. Aufgefallen in puncto Detailfülle und -genauigkeit sind mir besonders die Farben. Da wird z. B. erzählt, dass der Handschuh, den ein van Veen einem Nebenbuhler ins Gesicht schlägt, was ein (tödlich endendes) Duell zur Folge hat, lavendelfarbig gewesen sei. Und sehr wichtig scheint auch der Umstand  zu sein, dass die Zuckerstange, die Van als Kleinkind von seiner Tante (in Wahrheit seiner Mutter) spendiert bekommt, smaragdgrün war. Oder das maulbeerfarbene Stück Seife in Adas Hand, als er sie zum ersten Mal nackt sieht…
Aber so funktioniert Erinnerung. Es sind Details, meist visueller Art, Momentaufnahmen, Bilder, die aus der Tiefe der Erinnerung auftauchen. Und Nabokov malt in Ada flash-back-artige Bilder. Beispiel – ein blauer Morgen auf dem Balkon, Ada eine tartine au miel (ich kann ja schlecht Honigstulle sagen) verzehrend:

Quote from:  Nabokov
Ihr Haar … glänzte dunkel im Gegensatz zur matten Blässe ihres Halses und ihrer Arme. Sie trug das gestreifte T-Shirt, das er in seinen einsamen Phantasien besonders gern von ihrem sich windenden Torso pellte. Das Wachstuch war in weiße und blaue Karos geteilt. Eine Schliere Honig klebte an dem Rest Butter im kühlen Steintopf….Sie betrachtete ihn. Ein feuriges Tröpfen im Winkel ihres Mundes betrachtete ihn. Ein dreifarbiges, samtenes Veilchen, das sie am Abend aquarelliert hatte, betrachtete ihn aus einer kannelierten Kristallvase. Sie sagte nichts. Sie leckte an ihren gespreizten Fingern, noch immer ihn ansehend.

Man hat dem  Roman Unlesbarkeit, Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Leser vorgeworfen, seinen Mangel an Realismus und Wahrscheinlichkeit und seinen doofen Plot gerügt. Ich muss gestehen, dass mir die Einbettung der Romanhandlung in Dolores zum Beispiel in das (gut getroffene) Mittelstandsamerika der Fünfziger auch mehr zusagt, als dieses aus europäischen und amerikanischen Versatzstücken verschiedener Zeiten zusammengebaute Amerus… Aber ich habe da meine Vermutungen und Hypothesen, mal schauen, ob sie sich mit fortschreitender Lektüre bestätigen ….
Ada ist ein Alterswerk, das seine Entstehungszeit, die Sechziger, nicht verleugnen kann und  Nabokovs Diktum aus seinem Kommentar zu Eugen Onegin aufs Trefflichste bestätigt:

Quote from:  Nabokov
Die Gewagtheiten des einen Zeitalters sind die Plattitüden des nächsten.

Das soll für heute aber erstmal genügen. Ich hoffe nun, liebe Anna und lieber orzifar, auf eure geschätzten Beiträge. Lasst mich mit den beiden hochbegabten Sexmonstern nicht allein!

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Danke orzifar, danke sandhofer! Ja, Lo... äh Dolores war's.
« Last Edit: 22. August 2011, 17.51 Uhr by Gontscharow »

Offline orzifar

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Re: Vladimir Nabokov: Ada oder das Verlangen
« Reply #9 on: 22. August 2011, 18.29 Uhr »
Quote from:  Nabokov
Die Gewagtheiten des einen Zeitalters sind die Plattitüden des nächsten.

Da hat er nicht Unrecht, der gute Mann.

Das soll für heute aber erstmal genügen. Ich hoffe nun, liebe Anna und lieber orzifar, auf eure geschätzten Beiträge. Lasst mich mit den beiden hochbegabten Sexmonstern nicht allein!

Ich gestehe: Die Ada wurde von mir (wegen der nicht gerade umfänglichen Beitragszahl in diesem Thread) vorläufig beiseite gelegt. Nun, nach gut 4500 Seiten Harry Potter (und deinem Beitrag) überlege ich ernsthaft eine Reaktivierung.

lg

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Re: Vladimir Nabokov: Ada oder das Verlangen
« Reply #10 on: 25. August 2011, 16.28 Uhr »
Das soll für heute aber erstmal genügen. Ich hoffe nun, liebe Anna und lieber orzifar, auf eure geschätzten Beiträge. Lasst mich mit den beiden hochbegabten Sexmonstern nicht allein!

Aller mir innewohnenden Ritterlichkeit zum Trotz, die die Rettung einer edlen Dame als hohes und höchstes Ziel sieht: Ich schaffe es nicht und fürchte, dass du den Kampf mit den Sexmonstern ohne meine Unterstützung bestehen und gewinnen musst. In der nächsten Woche habe ich mir vorgenommen, die sehr umfangreiche (und wunderbare) Biographie Humes auszulesen, zwecks Auffrischung meiner Kenntnisse der Aufklärung habe ich nun noch "Das Zeitalter der Vernunft" von Harold Nicholson begonnen (knapp 500 Seiten Einzeldarstellungen), die meine Lesezeit (neben allem anderen) über Gebühr beanspruchen werden. Ich hoffe dadurch nicht in Ungnade zu fallen ...

lg

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Offline Anna

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Re: Vladimir Nabokov: Ada oder das Verlangen
« Reply #11 on: 29. August 2011, 12.46 Uhr »
Ich hoffe nun, liebe Anna und lieber orzifar, auf eure geschätzten Beiträge. Lasst mich mit den beiden hochbegabten Sexmonstern nicht allein!

Auf keinen Fall lasse ich Dich mit den hochbegabten Sexmonstern allein, aber wegen meiner Gäste werde ich vor dem nächsten Wochenende leider nicht zum Schreiben kommen. Den Roman habe ich mittlerweile beendet, wieso der schwer zu lesen oder gar unlesbar sein soll, ist mir schleierhaft. Mir hat er Spaß gemacht, ganz glücklich bin ich allerdings nicht mit ihm. Doch davon später.

Gruß
Anna
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Offline Gontscharow

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Re: Vladimir Nabokov: Ada oder das Verlangen
« Reply #12 on: 02. September 2011, 10.31 Uhr »

Immer wenn du denkst, es geht nicht mehr / kommt von irgendwo ein Lichtlein her
(Volksweisheit)

Welch eine Freude zu erfahren, dass da jemand mitgelesen hat! Ich hatte schon gar nicht mehr damit gerechnet. Schön auch, liebe Anna, dass der Roman nicht nur dein Missfallen erregt hat.

Quote from: Anna« am: 29. August 2011, 12.46 Uhr »
Mir hat er Spaß gemacht, ganz glücklich bin ich allerdings nicht mit ihm.

Natürlich habe ich den Roman mittlerweile auch ausgelesen. Ich muss sagen , dass mir der Anfangsteil, der den  ersten gemeinsamen  Sommer Adas und Vans auf Ardis Hall und - nach unzähligen Briefen und kurzen sporadischen Treffen -  seine Neuauflage etwa vier Jahre später schildert,  eigentlich am besten gefällt. Den Mittelteil finde ich etwas öde - öde die Puffbesuche und Sexprotzereien Vans, die triviale Beziehung zu Cordula, die allerdings nicht einer gewissen satirischen Pikanterie entbehrt, und die vermutlich (wir erfahren, da aus der Sicht Vans erzählt wird, nicht viel darüber) ebenso triviale und trostlose Ehe Adas mit dem Fleischproduzenten Vinelander … 
Das Verlangen, die Sehnsucht der beiden, dieses „Sie- konnten- zusammen- nicht- kommen“  entbehrt eigentlich jeglicher Tragik, da die  gesellschaftlichen Zwänge und Werte  dieser fiktiven  Gesellschaft im luftleeren Raum sich dem Leser entziehen bzw. beliebig erscheinen. Warum die Liebenden bei ihrem märchenhaften Reichtum, ihren Möglichkeiten überall auf der Welt zu leben, ihren freizügigen Familien nicht einfach zusammenleben, wie Lucette und auch Ada es in der Tat auch irgendwann einmal vorschlagen, ist nicht ganz einzusehen. Im vierten und letzten Teil geht’s dann ja auch …

Ada ist nicht mein Lieblings-Nabokov. Lilota, Pnin, Lushin habe ich mit größerer Begeisterung gelesen. In Ada scheint  Nabokov noch mal alle Themen, Motive, Obsessionen seines Lebens und Werkes  aufzugreifen und zu vereinen : das alte Russland, die Gärten seiner Kindheit , Emigration, Fremd-Sein, Europa und Amerika, das in Vielen- Zungen- Reden, Kunst und Literatur, Schmetterlingskunde und Botanik, Inzest, Hebephilie, Sexualität, Liebe …
Fasziniert bin ich wieder von seinen wunderbar sinnlichen Beschreibungen flüchtiger Sinneseindrücke und vor allem auch seiner  bildhaften  Veranschaulichung innerer gedanklicher Vorgänge, hier z. B. des Sich-Erinnerns:
Quote from:  Nabokov
Wenn wir uns an unserer früheres Ich erinnern, gibt es da immer jene kleine Gestalt mit langem Schatten, die wie ein ungewisser verspäteter Besucher auf der erleuchteten Schwelle am hinteren Ende eines unfehlbar sich verengenden Korridors stehenbleibt …


Oder an anderer Stelle:

Quote from:  Nabokov
Aber als Van beiläufig den Scheinwerfer des Zurückdenkens in jenes Labyrinth der Vergangenheit richtete, wo die spiegelgesäumten Pfade nicht nur verschiedene Kehren, sondern auch verschiedene Ebenen durchliefen ( wie wenn ein Maultierkarren unter dem Bogen eines Viadukts hindurchfährt, auf dem ein Motorwagen dahinsaust) …

Offline Anna

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Re: Vladimir Nabokov: Ada oder das Verlangen
« Reply #13 on: 29. September 2011, 16.05 Uhr »
Hallo Gontscharow!

Da bin ich wieder und möchte mich für meine Abwesenheit entschuldigen. Ich hatte zwar angekündigt, dass ich kaum Zeit haben würde, aber dass es nun gar nicht geklappt hat, tut mir wirklich leid. Der italienische Sommer verträgt sich einfach nicht mit Leserunden.

Schön auch, liebe Anna, dass der Roman nicht nur dein Missfallen erregt hat.

Er hat im Gegenteil meinen Gefallen gefunden. Warum der Roman als schwer lesbar gilt, begreife ich nicht. Natürlich ist er, wie Du schon beschrieben hast, voll von Sprachspielereien, Doppelbödigkeiten und literarischen Rätseln, die ich keineswegs alle durchschaut habe - Nabokovs Anmerkungen sind nicht nur dürftig, sondern hätten zum Teil selber eine Erläuterung nötig -, aber trotzdem ist der Roman mit seiner artifiziellen Sprache, seiner Detailfülle und den vielen Abschweifungen sehr unterhaltsam, geradezu amüsant zu lesen. Du hattest Recht, Gontscharow,  „Ada“ ist eine Hochsommerlektüre (das auch Frau orzifar zur freundlichen Kenntnisnahme, falls sie das Buch noch nicht gelesen hat). Hier liest man nichts von desolaten Beziehungen und existentieller Trostlosigkeit, hier herrscht die pure Lebensfreude und Sinnenlust.
 
Dass sie Geschwister sind, kümmert Ada und Van nicht, genauso wenig wie es den Leser kümmert, zu schön ist diese ein Leben lang andauernde Amour fou erzählt. Der erste Teil des Romans gefällt mir auch am besten: der heiße Sommer in Ardis mit seiner schwülen Atmosphäre, das Erwachen der jugendlichen Begierde, die sexuelle Unersättlichkeit des „männlichen Primaten“ Van. Was die Darstellung von Sinnlichkeit und Erotik betrifft, macht Nabokov so leicht keiner etwas vor. Und wie erstaunlich, dass Sex mal nicht als Ausdruck für Frustration, Identitätskrisen und Beziehungsunfähigkeit herhalten muss, sondern einfach nur als ein unkompliziertes, lustvolles Vergnügen beschrieben wird. Vans Schilderungen seiner zahllosen sexuellen Abenteuer im mittleren Teil sind dann wirklich etwas penetrant. Er ist überhaupt eine reichlich selbstgefällige Romangestalt, selbstgefällig wie sein Schöpfer, der es sich leider nicht verkneifen kann, süffisant die erlesene Auswahl an zehn- bis zwölfjährigen Knaben und Mädchen zu beschreiben, die in den Venus-Villen den zahlungskräftigen Kunden zur Verfügung steht.

Die Familie Veen besteht aus einem Haufen schwerreicher Egozentriker, die ausschließlich ihren eigenen Begierden frönen und sich um ihre Mitmenschen einschließlich der anderen Familienmitglieder herzlich wenig scheren. Nabokov erklärt seine Figuren nicht, daher sind sie mit Ausnahme der Hauptfigur Van wenig fassbar. Besonders Ada ist rätselhaft. Ebenso intelligent und begabt wie ihr Bruder entwickelt sie im Gegensatz zu ihm ihre Fähigkeiten weder beruflich noch privat weiter und führt ein Leben der Mittelmäßigkeit. Zwar hat auch sie einige Affären, aber die sind vor allem von Mitleid für die jeweiligen Liebhaber bestimmt, alles schwache und uninteressante Männer. Mitleid ist auch die einzige Erklärung für ihre Eheschließung mit dem schlicht gestrickten kanadischen Pferdehändler Vinelander. Vermutlich ist es auch Ada, die sich dem Diktum des Vaters unterwirft und die inzestuöse Beziehung zu Van für viele Jahre abbricht. Schimmert da nicht das alte Klischee von der intellektuell dem Manne unterlegenen, aber mit einem mütterlich-warmen Herzen ausgestatteten Frau durch?

Die Psychologie seiner Figuren interessiert Nabokov nicht. Die Lehre vom Unbewussten lehnt er ab, Freud, von dem er bekanntlich nichts hielt, lässt er im Roman als Leiter einer Irrenanstalt unter dem Namen Dr. Sig Heiler auftreten, ein ziemlich dummer Scherz übrigens. Es geht ihm um den Genuss des Augenblicks, den intensiv durchlebten Moment, der die kurze Gegenwart zwischen dem vergangenen „Nicht mehr“ und dem zukünftigen „Noch nicht“ bildet. Bewusstsein und Zeiterfahrung des Menschen ist das zentrale Thema des Romans und wird eingehend im vierten Kapitel des Buches behandelt, das eine Art Resümee von Vans Buch „Textur der Zeit“ beinhaltet. Es ist sicher der schwierigste Teil des Romans, zumal Van seine philosophischen Ausführungen mit der Beschreibung seines Wiedersehens mit Ada vermischt.

Fasziniert bin ich wieder von seinen wunderbar sinnlichen Beschreibungen flüchtiger Sinneseindrücke und vor allem auch seiner  bildhaften  Veranschaulichung innerer gedanklicher Vorgänge, [...]

Da kann ich Dir nur zustimmen. Nabokovs Prosa steckt voller Subtilitäten und stimmiger Metaphern. Manchmal ist sie sehr filigran, dann wieder nahezu ekstatisch. Er kann unglaublich präzise Gefühlszustände nachzeichnen und flüchtige Stimmungen einfangen. Sehr schön beschrieben ist auch das Wiedersehen zwischen Van und Ada nach dem Tod ihres Mannes. Siebzehn Jahren sind seit dem letzten Treffen vergangen, beide sind deutliche gealtert und für einen Moment finden sie in sich die alte Leidenschaft füreinander nicht mehr wieder. Was andere Schriftsteller wieder seitenlang erklärt hätten, wird bei Nabokov in wenigen Absätzen und eher zwischen den Zeilen spürbar.

Trotzdem ist mein Eindruck von dem Roman etwas zwiespältig. Auf der einen Seite hat er mir großen Spaß gemacht, auf der anderen Seite wurde ich zwischendurch immer mal wieder von einem leichten Gefühl des Überdrusses ergriffen. Bei aller Bewunderung für die Erzählkunst Nabokovs bleibt sie zumindest in diesem Buch für meinen Geschmack zu sehr artifizielles Spiel, nicht nur, was die Sprache mit ihren Mehrdeutigkeiten, Anagrammen und Wortschöpfungen betrifft, sondern auch die Geschichte selbst. Terra und Antiterra, Amerus bzw. Estotyland, die idealisierte, allem Alltag enthobene Geschwisterliebe, das Personal, das zwar schön schräg, aber nicht von dieser Welt ist, selbst der Suizid Lucettes, der mit seiner gewollten Melodramatik nicht tragikomisch, noch nicht einmal komisch, sondern einfach nur unernst wirkt. Alles erscheint irgendwie beliebig und bewegt sich an einer sehr kunstvollen Oberfläche entlang, ohne dass ein tieferer Nachhall bliebe. Es fehlt mir auch ein wenig ein wärmerer, menschlicherer Ton (oh mein Gott, sollte das mit dem mütterlich-warmen Herzen am Ende etwa doch stimmen? :o). Das heißt aber nicht, dass ich den Roman nicht äußerst lesenswert finde, lesenswerter als viele andere Romane. Und da ich bis jetzt außer „Ada“ nur noch „Dolores“ und „Pnin“ kenne,  habe ich noch einige schöne Nabokov-Erlebnisse vor mir.

Gruß
Anna

Anm.: Ich schreibe ja selten, aber wenn, dann lang. ;D
« Last Edit: 29. September 2011, 16.14 Uhr by Anna »
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Re: Vladimir Nabokov: Ada oder das Verlangen
« Reply #14 on: 29. September 2011, 20.08 Uhr »
Hallo!
Der italienische Sommer verträgt sich einfach nicht mit Leserunden.

Wohnst du in Sizilien? Dann ist es klar, oder musstest Du etwa nicht auch so viel Schnee schaufeln?

http://www.otz.de/web/zgt/leben/detail/-/specific/Sizilianer-bekommt-Geld-fuer-Schneeschaufeln-im-Sommer-2092950824  :angel:

scnr

Grüsse

sandhofer

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