Hallo Gontscharow!
Da bin ich wieder und möchte mich für meine Abwesenheit entschuldigen. Ich hatte zwar angekündigt, dass ich kaum Zeit haben würde, aber dass es nun gar nicht geklappt hat, tut mir wirklich leid. Der italienische Sommer verträgt sich einfach nicht mit Leserunden.
Schön auch, liebe Anna, dass der Roman nicht nur dein Missfallen erregt hat.
Er hat im Gegenteil meinen Gefallen gefunden. Warum der Roman als schwer lesbar gilt, begreife ich nicht. Natürlich ist er, wie Du schon beschrieben hast, voll von Sprachspielereien, Doppelbödigkeiten und literarischen Rätseln, die ich keineswegs alle durchschaut habe - Nabokovs Anmerkungen sind nicht nur dürftig, sondern hätten zum Teil selber eine Erläuterung nötig -, aber trotzdem ist der Roman mit seiner artifiziellen Sprache, seiner Detailfülle und den vielen Abschweifungen sehr unterhaltsam, geradezu amüsant zu lesen. Du hattest Recht, Gontscharow, „Ada“ ist eine Hochsommerlektüre (das auch Frau orzifar zur freundlichen Kenntnisnahme, falls sie das Buch noch nicht gelesen hat). Hier liest man nichts von desolaten Beziehungen und existentieller Trostlosigkeit, hier herrscht die pure Lebensfreude und Sinnenlust.
Dass sie Geschwister sind, kümmert Ada und Van nicht, genauso wenig wie es den Leser kümmert, zu schön ist diese ein Leben lang andauernde Amour fou erzählt. Der erste Teil des Romans gefällt mir auch am besten: der heiße Sommer in Ardis mit seiner schwülen Atmosphäre, das Erwachen der jugendlichen Begierde, die sexuelle Unersättlichkeit des „männlichen Primaten“ Van. Was die Darstellung von Sinnlichkeit und Erotik betrifft, macht Nabokov so leicht keiner etwas vor. Und wie erstaunlich, dass Sex mal nicht als Ausdruck für Frustration, Identitätskrisen und Beziehungsunfähigkeit herhalten muss, sondern einfach nur als ein unkompliziertes, lustvolles Vergnügen beschrieben wird. Vans Schilderungen seiner zahllosen sexuellen Abenteuer im mittleren Teil sind dann wirklich etwas penetrant. Er ist überhaupt eine reichlich selbstgefällige Romangestalt, selbstgefällig wie sein Schöpfer, der es sich leider nicht verkneifen kann, süffisant die erlesene Auswahl an zehn- bis zwölfjährigen Knaben und Mädchen zu beschreiben, die in den Venus-Villen den zahlungskräftigen Kunden zur Verfügung steht.
Die Familie Veen besteht aus einem Haufen schwerreicher Egozentriker, die ausschließlich ihren eigenen Begierden frönen und sich um ihre Mitmenschen einschließlich der anderen Familienmitglieder herzlich wenig scheren. Nabokov erklärt seine Figuren nicht, daher sind sie mit Ausnahme der Hauptfigur Van wenig fassbar. Besonders Ada ist rätselhaft. Ebenso intelligent und begabt wie ihr Bruder entwickelt sie im Gegensatz zu ihm ihre Fähigkeiten weder beruflich noch privat weiter und führt ein Leben der Mittelmäßigkeit. Zwar hat auch sie einige Affären, aber die sind vor allem von Mitleid für die jeweiligen Liebhaber bestimmt, alles schwache und uninteressante Männer. Mitleid ist auch die einzige Erklärung für ihre Eheschließung mit dem schlicht gestrickten kanadischen Pferdehändler Vinelander. Vermutlich ist es auch Ada, die sich dem Diktum des Vaters unterwirft und die inzestuöse Beziehung zu Van für viele Jahre abbricht. Schimmert da nicht das alte Klischee von der intellektuell dem Manne unterlegenen, aber mit einem mütterlich-warmen Herzen ausgestatteten Frau durch?
Die Psychologie seiner Figuren interessiert Nabokov nicht. Die Lehre vom Unbewussten lehnt er ab, Freud, von dem er bekanntlich nichts hielt, lässt er im Roman als Leiter einer Irrenanstalt unter dem Namen Dr. Sig Heiler auftreten, ein ziemlich dummer Scherz übrigens. Es geht ihm um den Genuss des Augenblicks, den intensiv durchlebten Moment, der die kurze Gegenwart zwischen dem vergangenen „Nicht mehr“ und dem zukünftigen „Noch nicht“ bildet. Bewusstsein und Zeiterfahrung des Menschen ist das zentrale Thema des Romans und wird eingehend im vierten Kapitel des Buches behandelt, das eine Art Resümee von Vans Buch „Textur der Zeit“ beinhaltet. Es ist sicher der schwierigste Teil des Romans, zumal Van seine philosophischen Ausführungen mit der Beschreibung seines Wiedersehens mit Ada vermischt.
Fasziniert bin ich wieder von seinen wunderbar sinnlichen Beschreibungen flüchtiger Sinneseindrücke und vor allem auch seiner bildhaften Veranschaulichung innerer gedanklicher Vorgänge, [...]
Da kann ich Dir nur zustimmen. Nabokovs Prosa steckt voller Subtilitäten und stimmiger Metaphern. Manchmal ist sie sehr filigran, dann wieder nahezu ekstatisch. Er kann unglaublich präzise Gefühlszustände nachzeichnen und flüchtige Stimmungen einfangen. Sehr schön beschrieben ist auch das Wiedersehen zwischen Van und Ada nach dem Tod ihres Mannes. Siebzehn Jahren sind seit dem letzten Treffen vergangen, beide sind deutliche gealtert und für einen Moment finden sie in sich die alte Leidenschaft füreinander nicht mehr wieder. Was andere Schriftsteller wieder seitenlang erklärt hätten, wird bei Nabokov in wenigen Absätzen und eher zwischen den Zeilen spürbar.
Trotzdem ist mein Eindruck von dem Roman etwas zwiespältig. Auf der einen Seite hat er mir großen Spaß gemacht, auf der anderen Seite wurde ich zwischendurch immer mal wieder von einem leichten Gefühl des Überdrusses ergriffen. Bei aller Bewunderung für die Erzählkunst Nabokovs bleibt sie zumindest in diesem Buch für meinen Geschmack zu sehr artifizielles Spiel, nicht nur, was die Sprache mit ihren Mehrdeutigkeiten, Anagrammen und Wortschöpfungen betrifft, sondern auch die Geschichte selbst. Terra und Antiterra, Amerus bzw. Estotyland, die idealisierte, allem Alltag enthobene Geschwisterliebe, das Personal, das zwar schön schräg, aber nicht von dieser Welt ist, selbst der Suizid Lucettes, der mit seiner gewollten Melodramatik nicht tragikomisch, noch nicht einmal komisch, sondern einfach nur unernst wirkt. Alles erscheint irgendwie beliebig und bewegt sich an einer sehr kunstvollen Oberfläche entlang, ohne dass ein tieferer Nachhall bliebe. Es fehlt mir auch ein wenig ein wärmerer, menschlicherer Ton (oh mein Gott, sollte das mit dem mütterlich-warmen Herzen am Ende etwa doch stimmen?

). Das heißt aber nicht, dass ich den Roman nicht äußerst lesenswert finde, lesenswerter als viele andere Romane. Und da ich bis jetzt außer „Ada“ nur noch „Dolores“ und „Pnin“ kenne, habe ich noch einige schöne Nabokov-Erlebnisse vor mir.
Gruß
Anna
Anm.: Ich schreibe ja selten, aber wenn, dann lang.
