Hallo!
Irgendwie kann ich sie alle teilen, die Urteile: Den Verriss durch MRR, aber auch Dostoevskijs Feststellung, dass er das Buch gern gelesen habe. Und Karamzins Kritik.
Die Grundkonzeption des Werkes besteht darin, permanente historische Parallelen zu ziehen: Wuttke (auch Fonty genannt), die Hauptfigur des Romans, ist genau 100 Jahre nach Fontane geboren, verehrt den "Unsterblichen" und lebt dessen Leben - mehr-weniger - nach. Und neben diesem wiederauferstandenen Fontane gibt es auch den ewigen Geheimdienstmitarbeiter Hoftaller (Tallhover), eine Figur, die sich Grass aus einem anderen Roman (von Joachim Schädlich) ausgeborgt hat und der schon vor der 1848iger Revolution in der Überwachung unliebsamer Zeitgenossen tätig war. Und so wird ständig zitiert aus den Werken Fontanes, die politische Situation verglichen - oder gar gleichgesetzt und ein historisch-literarischer Blick auf die Gegenwart versucht. Versucht ...
Als ein Werk über die DDR, über die Wende, halte ich das Buch für grandios misslungen. Eine belletristische Behandlung des Themas lässt ja einen bestimmten Mehrwert erwarten, Einsichten und Ansichten, die über das bloß Historische hinausgehen oder aber eine bestimmte Facette des Geschehens auf originelle, besondere Weise beleuchten. Das nun erwartet man hier vergebens: Des Fontane-Wiedergängers Wuttke Auslassungen über die Einheit oder die Treuhand sind recht banal (wie auch die seines "Schattens" Hoftaller), nichts, was man nicht auch an Stammtischen zur Genüge vernommen hat. Kritik, die so berechtigt wie offensichtlich ist (war): "Abgewickelte" Betriebe en masse, sich bereichernde, selbstgefällige Wessis, Korruption allerorten. Und wenig Aussicht auf blühende Landschaften, die von der "regierenden Masse" (Kohl) versprochen worden waren.
Hoftaller, der ewige Geheimdienstmitarbeiter, bleibt auch eine mehr als fragwürdige Figur. Eigentlich ist dies kein ewiger Spitzel oder Agent, sondern ein ewiger und äußerst dienstbeflissener Beamter. Er übernimmt sehr viel häufiger die Funktion des Schutzengels denn des gefürchteten Zuträgers, bewahrt Wuttke vor so mancher Verfolgung (auch schon im Dritten Reich, später in der DDR) und wird schlussendlich zum Krankenpfleger des maroden Fonty. Bestenfalls repräsentiert er ein verknöchertes Beamtentum, keinesfalls aber geht Gefahr von ihm aus: Seine Drohungen sind so durchsichtig wie harmlos und dienen meist dazu, irgendein Unglück von Wuttke bzw. dessen Familie abzuhalten. Die Staatssicherheit stellt man sich nicht nur anders vor, sie war auch anders.
Durch diese ganzen, oft hanebüchenen Parallelen zwischen 19. und 20. Jahrhundert, die Darstellung des fürsorglichen Stasi-Mitarbeiters, die simpel gestrickten Charaktere (sowohl Fontys Söhne als auch etwa der namentlich nie genannte Rohwedder) und die banale Kritik am Einigungsprozess kann man einen völligen Verriss durchaus nachvollziehen. Das Eigenartige aber: Ich habe das Buch trotzdem ganz gern gelesen, weil es Grass recht gut gelingt, Fontanes Sprache zu kopieren, weil es auch immer wieder geistreiche Dialoge oder ebensolche Einfälle gibt, sodass man sich ganz gut unterhalten fühlt. Es scheint mir ein typisches Buch eines sprachgewaltigen Autors über ein ihm völlig entgleitendes Thema zu sein: Die Fontane-Doppelung könnte in einem anderen Zusammenhang durchaus brauchbar sein, wirkt aber in Verbindung mit der Wende deplatziert und aufgesetzt. Und die historische Aufarbeitung der DDR ist ein gänzlicher Fehlschlag: Zwischen Banalität und seltsam anmutender Verharmlosung, die aus der DDR einen Staat macht, der Republikflüchtlinge nicht erschossen, sondern sich etwas betulich und bevormundend um seine Bürger gekümmert hat. Trotz amüsanter Passagen und sprachlich teilweise gelungenen Anleihen bei Fontane ein sehr zweifelhaftes Stück Literatur.
lg
orzifar