Hallo!
Minois' kulturgeschichtliche Bücher beeindrucken durch Detailwissen, Faktenreichtum und geistreiche Interpretation, sodass sie einen (fast) durchgehenden Lesegenuss darstellen. (Das "fast" in vorhergehenden Satz bezieht sich auf die lieblose Abhandlung philosophischer Höllenvorstellungen im 19. Jahrhundert: Eine halbe Seite Kierkegaard, eine halbe Seite Nietzsche - so etwas kann man sich sparen - oder aber muss es ausführlicher machen.) Das ungeheure Wissen, das sich in diesen Büchern manifestiert, nötig zu Respekt und Anerkennung.
Beginnend mit den Alten Kulturen (Mesopotamien, Ägypten, Hebräer ...) werden die anfangs wertfreien Jenseitsvorstellungen präsentiert: Wie in der jüdischen Scheol handelte es sich um Aufenthaltsorte für die Toten, die in einer Unterwelt ein reduziertes Leben führen, deren Schicksal aber nicht oder nur in geringem Maße von ihrem diesseitigen Verhalten abhängig war. Es ist ein ähnlich schattenhaftes Dasein, wie es Odysseus in der Nekyia erfährt: Blutleere Gespenster, die das Wort "lebendig" nicht mehr verdienen. Mit den ägyptischen Jenseitsvorstellungen hält erstmals die dann vom Christentum übernommene Bewertung des irdischen Lebens Einzug: Taten werden gewogen und das weitere Schicksal ist von der das Urteil verkündenden Waage abhängig. Allerdings besteht die Strafe noch nicht in Qualen, sondern in der bloßen Nichtexistenz.
Erst mit dem Christentum werden die Höllenstrafen für die Allgemeinheit relevant (in Griechenland blieb dies fast immer dem Götterfrevel vorbehalten): Anfangs - wie bei allen kirchlichen Doktrinen - noch äußerst umstritten, einigt man sich schließlich auf ewige Qualen für Todsünder und eine Hölle light für ungetaufte Kinder (und - manchmal - "Wilde", welchen die Gnade des Christentums nicht aus eigener Schuld verwehrt wurde). Ein Hauptstreitpunkt bezüglich des Schicksals der Verstorbenen bedingt die sich mehr und mehr verzögernde Eschatologie: Was tun mit den Sündern, die da auf den jüngsten Tag warten (der eigentlich schon lange hätte kommen sollen)? Und so werden die theologische Gehirne über die Jahrhunderte immer neue Interpretationen entwerfen (und sie anschließend widerrufen), man wird einmal den allergrößten Teil der Menschheit verdammen, dann wieder vermuten, dass die meisten doch in den Himmel kämen (solcherlei als Theologe im 15. Jahrhundert zu verkünden war allerdings ein nicht ganz ungefährliches Unterfangen: Zuviel Menschenliebe konnte auch schon mal auf dem Scheiterhaufen enden). Die Einführung des Fegefeuers im 12. Jahrhundert befreit die Hölle erstmal von der akuten Platznot (tatsächlich wurden bezüglich des verfügbaren Erdinneren theologische Überlegungen angestellt, wo man denn mit all den Sündern hinsolle), ändert aber nichts an der prinzipiellen Problematik: Man entwirft grauenerregende Folterqualen, Seen von Blut und Eiter, verzehrendes Feuer und gräuliches Gewürm, um die renitenten Gläubigen bei der Stange zu halten. Der Erfolg ist ein pekuniärer: Durch Ablass und letzte Ölungen wird durch diese Angst so einiges an Vermögen in die kirchlichen Kassen gespült, trotzdem kann man nicht verhindern, dass die Aufklärung der Hölle sukzessive den Garaus macht.
Im 20. Jahrhundert wird ab etwa 1950 (und vor allem beim Zweiten Vatikanischen Konzil) zurückgerudert, nicht zur Freude aller Theologen: Nun ist das Schicksal der "Wilden", Andersgläubigen, sogar Atheisten ein sehr viel gnädigeres, sofern diese nach einem "gottgefälligen" Leben gestrebt haben. Paul VI. und Johannes Paul II. haben das bereits wieder in Zweifel gezogen, ein damals noch als Kardinal fungierender Herr namens Ratzinger hatte für die Hölle noch viel mehr Verständnis. Nichtsdestoweniger: Die Hölle in ihrer ursprünglichen Form hat heute nur noch wenige Anhänger (wenngleich etwa 20 - 25 % der Bevölkerung in den westlichen Ländern immer noch an sie glauben: Das ist m. E. so wenig nicht und zeugt nicht unbedingt vom vielgepriesenen, aufklärerischen Geist), die Hölle findet sich heute vielmehr in unserem Leben, in unserer Um-Welt (ein Gedanke, den Sartre nicht als erster ausgesprochen hat, solche Ansätze gab es bereits bei den Gnostikern).
Ein kluges, mit unzähligen Quellenangaben versehenes, sehr lesbares Buch (allerdings ohne eine Literaturliste). Empfehlenswert.
lg
orzifar