Ich eröffne hier mal ein Forum mit der Überschrift „Kapitalismuskritik – Pasolini und Piketty“. Ich lese eines der meistdiskutierten Bücher des letzten Jahres, Thomas Pikettys „Le capital au XXIème siècle“, das auf Deutsch unter dem Titel „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ letzten Herbst bei Beck erschienen ist. Orzifar liest Pier Paolo Pasolinis „Freibeuterschriften“, die bei Wagenbach 1998 erschienen sind. Orzifar ist so nett, mir ein bisschen Vorsprung zu lassen, da ich ungefähr 850 Seiten mehr zu bewältigen habe.
Gerade heute geht die Meldung durch die Presse, dass eine Oxfam-Studie errechnet hat, dass im Jahr 2016 das reichste Prozent der Bevölkerung mehr Vermögen hat als der Rest der Menschheit. Die Konzentration von Kapital bei immer weniger Menschen ist eines der wichtigsten sozialpolitischen Themen wenigstens des letzten Jahrzehnts. Thomas Piketty stellt die These auf, dass diese Konzentration in der Wirtschaftswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert diskutiert wird (er führt als Beispiele die Theorien von Ricardo, bei dem es um Konzentration des Grundbesitzes geht, und natürlich von Marx an, der einen weiter gefassten Begriff der „Produktionsmittel“ verwendet, wenn ich mich recht entsinne – meine Marxlektüre liegt allerdings Jahre zurück), außerdem dass sie unvermeidlich ist, sobald in der Wirtschaft gilt, dass die Rendite aus Kapital höher liegt als das Wachstum. Meine etwas schwammige Formulierung an dieser Stelle zeigt zweierlei: Zum einen habe ich kein vertieftes Wissen über die Terminologie der Wirtschaftswissenschaft, noch dazu lese ich auf Französisch und muss daher die Begriffe übersetzen. Ich hoffe, das wird nicht zu Konfusion führen. Zum zweiten ist die Frage, wie der Wirtschaftsraum für Pikettys Theorie einzugrenzen ist. Er nimmt zu Beginn eine Parzellierung in die bekannten Volkswirtschaften vor, betrachtet also Frankreich, Großbritannien, die USA, Japan, Deutschland usw. Vielleicht gibt er am Ende auch einen Ausblick auf das Gefüge der Weltwirtschaft, das versuche ich im Hinterkopf zu behalten. Die langfristig bessere Datenlage gibt es aber natürlich in den klassischen Industrieländern, die einfach schon viel länger Wirtschaftszahlen aufzeichnen als z.B. vergleichsweise junge Player wie China.
Piketty wendet sich mit seiner Analyse gegen die lange Zeit als gegeben hingenommene „Kuznets-Kurve“, eine Glockenkurve, die der Ökonom Simon Smith Kuznets in den 50er und 60er Jahren entwickelte und die für eine sich industrialisierende Wirtschaft zunächst eine wachsende Ungleichheit der Einkommen, bei fortschreitender Industrialisierung dann aber wieder eine Angleichung der Einkommen voraussagt. Kuznets war laut Piketty der erste Ökonom, der für seine Theorie eine breite statistische Datenmenge zur Verfügung hatte – allerdings zu einem eher untypischen Zeitpunkt, nämlich in der Zwischenkriegszeit und der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Weltwirtschaftskrise und Krieg hätten allerdings, so Piketty, Kapital vernichtet und daher die Ungleichheit zweimal nivelliert.
Für mich stellt sich die Frage, ob Kuznets nicht auch etwas anderes analysierte, nämlich die Ungleichheit von Einkommen aus Erwerbsarbeit, wohingegen Piketty ja den Fokus auf die Ungleichheit zwischen unterschiedlichen Einkommensarten legt, nämlich solchem aus Erwerbsarbeit und solches aus bereits akkumuliertem Kapital. Ich bin mir sicher, dass diese Frage im Laufe des Buches beantwortet werden wird.