Hallo!
Der "Herr der Fliegen" pflegt Schullektüre zu sein, Lektüre also, die mir ob meines etwas kontroversen Bildungsweges oftmals entgangen ist. Und so habe ich also Jahrzehnte später nachgeholt, was andere mit 17 im Englischunterricht - mit Missvergnügen - sich aneignen müssen.
Das Buch hat mir überraschend gut gefallen: Denn der Plot mit den auf die Insel verschlagenen Kindern birgt einige Gefahr, in Platitüden und Seichtigkeiten sich zu ergehen. Das mag auch hier nicht immer ganz vermieden worden sein, trotzdem fand ich die Darstellung der sukzessiven Barbarisierung der Kinder gelungen und auch lebensnah. Die Hölle, das sind die anderen - auch schon im Kindesalter. Die dünne Firnis der zivilisatorischen Zurückhaltung zerbricht in diesem Alter möglicherweise leichter als in späteren Jahren, wobei ich den Eindruck habe, dass sich dies im Laufe der letzten Jahrzehnte geändert hat (im Gedenken an die eigenen Kinder). Andererseits ist diese Sichtweise zu relativieren: Denn nicht alle haben das Glück, einen interkulturellen Kindergarten zu besuchen, mit niedrigem Betreuungsschlüssel, unzähligen Aktivitäten und dem immer wiederholten Grundsatz der Toleranz. Besser wäre also: Mein Sohn wächst unter weniger gewaltsamen Umständen auf als sein Vater.
Auf der Insel bilden sich zwei Gruppen aus: Jene um Jack, der jagdbegeistert "seinen" Trupp durch die Wildnis führt und die des besonneneren Ralph, dem es vor allem um die Erhaltung eines Signalfeuers zu tun ist, und der auf Rettung und zivilisiertes Zusammenleben Wert legt. Dazwischen gibt es eine Menge von Außenseitern und Mitläufern - und gerade die Außenseiter sind es, die in der emotional zusehends aufgeheizten Situation zu Tode kommen, ermordet werden. Man mag das Kindern nicht zutrauen wollen: Aber ich vermute, dass dies eher einem Wunschdenken entspricht denn der Realität. Dass auch Erwachsene vor solch barbarischen Ausbrüchen nicht gefeit sind, sie einen rechtsfreien Raum ausnutzen, in eine Masse eingebettet, zu äußerster Brutalität gegenüber einer Minderheit neigen, bedarf kaum der Erwähnung. Das 20. Jahrhundert war voll solcher Ereignisse - von den Massakern an den Armeniern über den nationalsozialistischen und bolschewistischen Terror bis hin zum Völkermord in Ruanda.
Golding beschreibt nüchtern, ohne Pathos dieses langsame Abgleiten in eine Welt, wo das Recht des Stärkeren gilt. Sprachlich behutsam, dem Denken der Heranwachsenden weitgehend gerecht werdend, den Übergang von Spiel zum Ernst genau schildernd, spürt man die Fähigkeit des großen Schriftstellers, zur rechten Zeit Zurückhaltung zu üben, auch leise Töne anzuschlagen. Nirgendwo idealisierte Figuren, sondern unbeholfene kleine Jungen, die mit ihren Ängsten, Wünschen, Träumen nicht umzugehen verstehen, die nur anfangs Freude über die erlangte Freiheit von den Befehlen Erwachsener empfinden, alsbald aber an der Verantwortung für diese Freiheit zerbrechen. Auch wenn man von Beginn an über den Verlauf der Handlung kaum im Unklaren bleibt, so wird der Weg dorthin von Golding mit großer Sicherheit beschritten. Die "Moral der Geschichte" liegt offen zutage, mag platt oder seicht wirken. Aber sie ist äußerst realitätsnah und - leider - aktuell.
lg
orzifar