Hallo,
Der Roman beginnt mit einer Zugfahrt. Die Bahn, das modernste Fortbewegungsmittel. Die erste Kurzstrecke in Russland wurde 1837 eingeweiht, die 23 km lange Strecke von Petersburg zur Zarenresidenz Zarskoje Selo. Im Roman wird diese Zugverbindung noch genutzt. Die erste Verbindung zum Ausland war die Strecke Warschau-Leningrad, erbaut in den Jahren 1851-1862. Da „Der Idiot“ im Jahre 1867 verfasst worden ist, muss die Strecke bis hin zur Schweiz noch sehr neu gewesen sei. Der schnelle wirtschaftliche Fortschritt wird kritisiert. Zu große Betriebsamkeit auf Kosten geistiger Ruhe. Dieses Problem haben wir heute noch.
" 'Es ist zu laut und zu betriebsam um den Menschen geworden, er findet keine geistige Ruhe', klagt ein Denker, der sich von der Welt zurückgezogen hat. 'Mag sein, aber das Rattern der Wagenräder, die der hungernden Menschheit Brot bringen, ist vielleicht besser als geistige Ruhe' "
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Fast fünf Jahre verbringt Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin aufgrund von Epilepsie in einem Schweizer Sanatorium und kehrt nun heim nach Russland, welches ihm bisher ziemlich unbekannt geblieben ist. Er knüpft Kontakt zu Lisaweta Prokofjjewna Jepantschina, er glaubt mit ihr verwandt zu sein. Die Generalin hat drei Töchter, in eine, Aglaja Iwanowna, wird sich Myschkin verlieben.
Es gibt aber eine andere Frau, um die sich erst einmal alles zentriert: Natassja Filippowna Baraschkowa, die von einem gewissen Afanassij Iwanowitsch Tozkij im Alter von sechzehn Jahren sexuell missbraucht und jahrelang als Mätresse gehalten wird, der nun aber genug von ihr hat, sie verheiraten will. Infolge darauf steht Natassja zwischen zwei Männern: Parfion Semjonowitsch Rogoschin und dem Fürsten Myschkin.
Dostojewskij wäre nicht Dostojewskij wenn er es bei einem Melodrama belassen würde. Der philosophische Unterbau des Romans ist ebenso beeindruckend. Das große Thema ist die Liebe und auch die Religion. Fürst Myschkin verkörpert die christliche Liebe. Er ist gutmütig, naiv, zaghaft, ja, sogar schüchtern und verlegen. Der Fürst ist ein guter Mensch, ein sehr guter, man möge sich wünschen, solch einen Menschen zu begegnen. Der Fürst ist aber nicht vollkommen, er ist zu zaghaft, um etwas in der Welt verändern zu können, um die Welt besser zu machen, um eine Tragödie zu verhindern. Aus dieser zugegebenen engen Sichtweise versagt er natürlich. Darum ist er nicht Christus. Er ist ein guter Christ, der aus Mitleid liebt und von der Gesellschaft aufgrund seiner Naivität schief angesehen, als „Idiot“ gebrandmarkt wird. Menschen wie Myschkin muss es natürlich geben, damit die Welt weiß, was es heißt, ein guter Mensch zu sein, von einigen empfängt er durchaus Wertschätzung. Die Tragik liegt darin, dass ein vereinzelt guter Mensch die Welt nicht ändern kann. Myschkin ist die Liebe (Agape), das ist es. Mir kommen die Tränen, wenn ich Lisawetas letzte Worte über den Fürsten lese. Der Fürst nimmt die Schuld anderer auf sich. Das wird erstmals klar, wenn sich Myschkin in einem Geschwisterstreit dazwischenstellt, und anstelle der Schwester er den Schlag ins Gesicht bekommt.
Die unterschiedlichen Wirkungen, die Myschkin auf seine Umgebung auslöst, zeigt folgendes Zitat:
„Sie verstehen es vorzüglich, sich ihre...gelinde gesagt Krankheit zunutze zu machen und ihre Freundschaft und ihr Geld auf eine so geschickte Art und Weise anzubieten, daß ein anständiger Mensch sie auf keinen Fall annehmen kann. Das ist entweder zu naiv oder zu gerissen.“
Rogoschin verkörpert die leidenschaftliche Liebe, die Myschkin fehlt. Rogoschins Liebe kann leicht in Hass umschlagen. Ein sehr unruhiger Geist, dem die Gemütsruhe des Fürsten fremd bleibt. Durch Tausch ihrer Christuskreuze befinden sich beide in Bruderschaft. Für Dostojewskij kann die Religion in jedem Russenmenschen gegenwärtig sein, sei er ein Mörder, der während einem Mord ein Gebet spricht, oder sei es in einer Frau, die gerade ihr Baby anlächelt. Darum wird die Bruderschaft zwischen Myschkin und Rogoschin verständlich, obwohl sie Gegenspieler sind.
In Natassja hat Dostojewsjkij eine beeindruckende psychisch kranke Frau geschaffen, deren Charakter psychologisch eingehend durchleuchtet wird. Sie leidet an Gemütsschwankungen und ist sehr ambivalent. Sie fühlt sich schmutzig, wertlos, darin gibt sie sich selber die Schuld, obwohl sie für ihr tragisches Geschick unter den Fittichen Tozkijs nicht verantwortlich gemacht werden kann. Warscheinlich ist es sogar so, das Natassja zu körperlicher Liebe unfähig ist, wie auch auf Myschkin dieses Handicap zutrifft.
Dostojwskij kann unheimlich spannend schreiben. Seine Auseinandersetzungen mit der Todesstrafe sind sehr intensiv, hat doch Dostojewskij selbst einmal vor einem Erschießungskommando gestanden und hat überlebt. Das Thema der Mensch im Angesicht des Todes wird im Schicksal des schwindsüchtigen Atheisten Ippolit noch einmal ausgebreitet. Sehr gelungen finde ich auch, wie Dostojewskij Myschkins epileptischen Anfall literarisch vorbereitet, bevor es dazu kommt. Das Romanende hat mich betroffen zurückgelassen, eine kleine seelische Erschütterung. Welcher Roman bewirkt das schon.
Nun gibt es ja Leute, die sagen Dostojewskij sei schwer zu lesen. Dem kann ich nicht zustimmen. Allerdings empfehle ich, etwas zur Lesevorbereitung zu tun. Man kaufe sich ein Leseexemplar mit einer Namensliste der Romanfiguren am Ende des Buches. Dann hat man schon ein Problem gelöst.
Die andere Sache ist die, Dostojewskij kommt auf Themen zu sprechen, die schon hundert Seiten oder mehr vorher schon mal angesprochen wurden. Damit muss man allerdings rechnen. Der Roman ist etwas sprunghaft. Während des Lesens habe ich mir Notizen gemacht. Diese Methode hat sich bewährt. Irgendwie bekommt man doch das Gefühl, was wichtig sein könnte, nicht wahr? Das erste Buch des Romans (über 200 Seiten) behandelt einen Tag. Es wird viel diskutiert und einige Themen werden lang gedehnt. Meiner Ansicht nach birgt der Roman viele interessante Denkanstöße. Und am Ende des Romans, man klappt das Buch zu, und wird nicht fertig mit dem, worüber man drei Wochen lang gelesen hat. In ein paar Jahren once more. So wird es wieder sein und jedesmal eröffnet sich ein anderes Tor.
Liebe Grüße
mombour