Author Topic: Marcel Proust: In Swanns Welt  (Read 20546 times)

Offline orzifar

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Marcel Proust: In Swanns Welt
« on: 27. April 2018, 05.08 Uhr »
Hallo!

Die Wiedergeburt einer Leserunde, die vor Jahren sanft entschlafen ist. Alles wieder auf Anfang.

Ich freu mich auf Beiträge (Anna ;)). Und wer sonst noch mag und will oder was beizusteuern Lust verspürt.

lg

orzifar
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Offline sandhofer

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Re: Marcel Proust: In Swanns Welt
« Reply #1 on: 13. Mai 2018, 06.18 Uhr »
Hallo!

Ich werde zwar an der Leserunde nicht teilnehmen (Prousts Recherche würde mich aktuell zu sehr in Anspruch nehmen), habe aber mit der zweisprachigen Ausgabe von Prousts Gedichten (dieses Jahr bei Reclam erschienen) eine Lektüre gefunden, die zumindest in den Kommentaren des Herausgebers und in den Bildern eine Ergänzung sein könnte:

http://blog.litteratur.ch/WordPress/?p=9206

Grüsse

sandhofer
Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

Offline Anna

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Re: Marcel Proust: In Swanns Welt
« Reply #2 on: 13. Juni 2018, 20.14 Uhr »
Hallo orzifar!

Nun wollen wir endlich beginnen, schön gemächlich, wie wir es ausgemacht haben. Jeden Tag ein paar Seiten, wir lesen Proust ja nicht zum ersten Mal. Außerdem widmen wir beide uns immer noch mehreren anderen Büchern nebenher, denn ein wacher Geist muss sich schließlich tummeln.

Also Combray. Es ist schön, wieder auf den vertrauten Pfaden zu wandeln und Prousts um Genauigkeit bemühten Beschreibungen psychologischer und philosophischer Gesetzmäßigkeiten zu folgen. Bei jedem erneuten Lesen entdeckt man auch neue Details, sieht Strukturen klarer und Personen anders bzw. deutlicher. Wie Du bei unserer Verabredung zu dieser Leserunde schon festgestellt hast, ist dieses Wiederlesen ganz im Proustschen Sinne nicht nur ein Erinnern an das Gelesene, sondern auch an das eigene Lesen selbst, wobei ich heute einiges anders empfinde als damals. Das betrifft vor allem die Länge vieler Passagen. Die Beschreibungen der Weißdornbüsche oder der Seerosen auf Marcels Spaziergängen schienen sich beim ersten Lesen ins Endlose zu dehnen, jetzt stelle ich fest, dass es sich nur um ein paar Absätze handelt, die ich keineswegs langweilig finde. Das mag an der Erfahrung liegen, die ich mittlerweile nicht nur mit Prousts Stil, sondern auch mit anderen Werken dieses Kalibers habe, vielleicht liegt es aber auch an meinem recht intensiven Arbeitsalltag, dass mir der Roman viel unterhaltsamer und "entspannender" vorkommt als beim ersten Lesen, er hat direkt etwas Meditatives.

Dann gibt es auch Stellen, bei denen ich nicht mehr nachvollziehen kann, warum sie mir damals so gut gefallen haben. Da ist vor allem die Beschreibung der Kirche von Combray, die ich seinerzeit als sehr stimmungsvoll und faszinierend empfunden habe. Heute fasziniert mich eher der kleine Pickel an der Nasenwurzel der Herzogin von Guermantes. Vielleicht bringe ich auch zwei Beschreibungen  durcheinander - beschreibt er nicht auch die Kirche in Balbec? Aber wie es auch dem  kleinen Marcel im Garten von Combray beim Lesen seiner Bücher ergeht - das Lesen ist nicht nur ein rein intellektueller Vorgang, sondern wird auch von emotionalen und atmosphärischen Faktoren beeinflusst. Wahrscheinlich habe ich die Kirchenbeschreibung gerade bei einem stimmungsvollen Sonnenuntergang am Strand gelesen, da ist es kein Wunder, wenn die Fensterszenen auf mich besonders farbig und lebendig gewirkt haben.

Was die Personen betrifft, ist da erstmal die wunderbare, hypochondrische Tante Leonie, eine wahrhafte Aristokratin, die über viele Jahre unbeirrbar und mit Grandezza an ihrem bizarren Lebensstil festhält, dem sich alle anderen zu unterwerfen haben, dann die snobistische Dienerin Francoise und die Eltern Marcels, die einzigen Figuren in dem Roman, die auf mich recht blass und unbestimmt wirken, vielleicht aus Gründen der Rücksichtnahme. Im Verhalten der Familie Charles Swann gegenüber klingt schon eines der zentralen Motive des Romans an, dass nämlich die Vorstellungen und Meinungen, die wir von einer Person und ihren Lebensumständen haben, nichts oder oft nichts mit ihrem wahren Charakter und ihrer wahren Lebenssituation zu tun haben. Wegen Swanns Mesalliance pflegt die Familie keinen Umgang mit ihm und seiner Frau, duldet aber freundlich seine gelegentlichen Besuche am Abend in der Meinung, dass er gesellschaftlich abgestiegen sei. Tatsächlich verkehrt er in gesellschaftlich höheren Kreisen als sie, bei Prinzen, Herzoginnen und führenden Politikern, etwas, das Marcels Eltern eigentlich wissen müssten, da sie auch in Paris wohnen. Offenbar können sie sich aber nicht vorstellen, dass der Gesellschaftskodex, an dem sie festhalten, nicht mehr rigoros gilt.

Bei aller Bewunderung für Proust kommt es doch vor, dass ich bestimmte Empfindungen oder Situationen nicht nachvollziehen kann. Nicht weil sie nicht stimmen, sondern weil ich sie so nicht gehabt bzw. erlebt habe. Da gilt z. B. für die seitenlange Eingangserzählung von Marcels Schlafgewohnheiten, seiner nächtlichen Desorientiertheit, seinem Verwechseln von Zeit und Raum. Auch beim erneuten Lesen habe ich mich gefragt, ob Proust hier seine eigenen Erlebnisse schildert oder ob es nur ein literarischer Kunstgriff ist, um das Thema "Suche und Erinnerung" einzuläuten. In "Eine Liebe von Swann" gibt es aber auch einige wenige Bemerkungen über die menschliche Natur und die menschlichen Verhaltensweisen, denen ich nicht zustimmen würde. Leider habe ich sie nicht aufgeschrieben, denn es hätte mich interessiert, was Du darüber denkst. Ich merke, dass ich Proust diesmal mit noch größerem Genuss, aber auch kritischer bzw. genauer lese.

Gruß
Anna
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Offline orzifar

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Re: Marcel Proust: In Swanns Welt
« Reply #3 on: 14. Juni 2018, 21.58 Uhr »
Hallo,

im großen und ganzen bin ich weitgehend deiner Meinung (und wir haben uns ja schon per pn darüber ausgetauscht). Mit den ausufernden Beschreibungen hatte ich allerdings schon früher so meine Probleme (nicht nur bei Proust, das gibt's auch bei Wilde, Eco bzw. vielen anderen und immer schien mir das etwas von Bauchpinselei zu haben), allerdings vermute ich, dass du dich ob der Kürze (Weißdorn und Seerosen) täuscht, insofern täuscht, als dass noch ausführlichere Schilderungen kommen werden (oder aber meine Erinnerung spielt mir einen Streich).

Was die Personen angeht bin ich ganz bei dir: Leonie ist großartig, auch Francoise (die mir mit jedem Mal lesen bösartiger und widerwärtiger erscheinen will in ihrer rigiden Moralauffassung), unbedingt aber muss Mme Verdurin erwähnt werden, die Fleisch gewordene neureiche Arroganz und Selbstgefälligkeit nebst ihrem ganzen "Kreis", dessen Mitglieder eine Art von Ewigkeit beanspruchen können (denn nicht wenige habe ich kennengelernt).

Die nächtliche Desorientiertheit ein Trick? Daran habe ich nicht gedacht und mir wollte es auch nicht gekünstelt erscheinen: Solche Zustände meine ich selbst zu kennen (weil ich an unterschiedlichsten Orten gewohnt habe), man vermischt Traum und Realität (denn selbst wenn das geträumte Zimmer jenes sein sollte, in dem man tatsächlich schläft, so ist es doch ein gänzlich anderes), orientiert sich mühsam, schläft wieder ein und nimmt den halbwachen Zustand in den Schlaf mit, vergisst die Zeit (wer etwa zur ungewohnten Zeit der Müdigkeit nachgibt weiß häufig nicht um die Uhrzeit, ist irritiert von Helligkeit oder Dunkel) und sucht auch räumliche Orientierung.

Was mir diesmal besonders aufgefallen (und ich seinerzeit nicht so empfunden habe) ist die mangelnde Motivierung von Swanns Liebe zu Odette. Denn eigentlich sonderbar: Von Anfang an wird betont, dass sie so gar nicht sein Typ gewesen wäre, wird auch nicht als besonders betörendes Wesen dargestellt, aber plötzlich befindet er sich in einer Art Abhängigkeitsverhältnis. Natürlich - so bald sie sich zu entziehen beginnt, erwacht in Swann der eifersüchtige Besitzanspruch - und sie ist sich (wenn auch nur halb) dieses Effekts bewusst. Warum er aber überhaupt ihr verfällt, will mir nicht einleuchten, gerade weil er durch sein promiskuitives Verhalten wohl oft Ähnliches erlebt hat und es einer stärkeren Faszination bedürfte, um diese Besessenheit zu erklären. Diese ist dann hinwiederum (wenn schon mal vorhanden) völlig plausibel (wenn ich sie auch nicht mehr so intensiv empfinde wie vor 35 Jahren, aber mein Hormonspiegel dürfte sich mittlerweile auf anderem Niveau eingependelt haben ;)), alle diese Verrücktheiten, die sich um Odette drehenden Gedanken, die nie auch nur im Entferntesten die Wahrheit treffen (wobei er sich in kurzen, luziden Momenten dessen bewusst wird, aber aus Lust am Leiden wird derlei sofort wieder verdrängt). Und sie ähneln natürlich den Gedanken des Jungen im Bois de Boulogne, der Gilberte im Geiste Briefe schreibt, von ihr welche empfängt (und sich auch plötzlich darüber klar wird, dass er _seine_ Briefe empfängt und daher ein solches Schreiben gar nie bekommen wird können), der nach allen Äußerlichkeiten giert (die Straße, in der Gilberte wohnt, bei jeder Gelegenheit erwähnt, Francoise in diese Gegend dirigiert und alle Personen aus dem Umkreis Gilbertes mit einer Aura des Wundervollen, schier Unerreichbaren versieht), ihren Schriftzug unzählige Male wiederholt (und ich habe ein Chemiebuch aus dem Gymnasium, in dem ausnahmslos jede Seite ebenso einen damals höchst bedeutsamen Mädchennamen ziert). Das verweist auch schon auf die "junge Mädchenblüte", wo eine repräsentativ für alle anderen ist (und ich erinnere mich noch des Herzklopfens, wenn ich eine Freunding der Angebeteten irgendwo sah; es handelte sich damals ebenso um eine Kleeblatt).

Das Eindruckvollste sind für mich auch die Personen (die eigentlich selten äußerlich beschrieben werden, von denen man - Kennzeichen eines guten Schriftstellers - aber trotzdem eine genaue Vorstellung bekommt (das Gegenteil ist für mich etwa Boris Vian, der sich in genauen morphologischen Beschreibungen der Köpfe ergeht und man hat trotzdem keinen visuellen Eindruck), ähnlich treffend konnte das auch Thomas Mann), von Leonie wird nirgendwo (jedenfalls kann ich mich jetzt nicht erinnern) ihr Aussehen penibel beschrieben und trotzdem erkennt man sie, lächelt, sagt sich "genau so". Weil es gewissermaßen auch Phänotypen sind, die jeder aus seinem eigenen Leben kennt.

Ich genieße das Lesen sehr und da ich das Buch nun zum xten Male lese (gerade den ersten Band), so fand ich auch die entschleunigte Lektüre ausnehmend angenehm, die mich auf Dinge achten ließ, die mir früher nicht auffielen (bzw. von denen ich glaube, dass sie mir nicht auffielen: Meinem Gedächtnis traue ich nicht immer).

lg

orzifar
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Offline sandhofer

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Re: Marcel Proust: In Swanns Welt
« Reply #4 on: 04. August 2018, 05.55 Uhr »
Hallo zusammen!

Wenn ich kurz hineinrufen darf:

Ich habe soeben ein sehr gutes Buch über die Gemälde in Prousts Suche nach der verlorenen Zeit beendet. (Gelesen kann man kaum sagen; ich habe vor allem Bilder beguckt.) Ein paar Impressionen dazu stehen nun auch im Blog. Vielleicht interessiert es Euch ja.

Grüsse

sandhofer
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