Hallo,
im großen und ganzen bin ich weitgehend deiner Meinung (und wir haben uns ja schon per pn darüber ausgetauscht). Mit den ausufernden Beschreibungen hatte ich allerdings schon früher so meine Probleme (nicht nur bei Proust, das gibt's auch bei Wilde, Eco bzw. vielen anderen und immer schien mir das etwas von Bauchpinselei zu haben), allerdings vermute ich, dass du dich ob der Kürze (Weißdorn und Seerosen) täuscht, insofern täuscht, als dass noch ausführlichere Schilderungen kommen werden (oder aber meine Erinnerung spielt mir einen Streich).
Was die Personen angeht bin ich ganz bei dir: Leonie ist großartig, auch Francoise (die mir mit jedem Mal lesen bösartiger und widerwärtiger erscheinen will in ihrer rigiden Moralauffassung), unbedingt aber muss Mme Verdurin erwähnt werden, die Fleisch gewordene neureiche Arroganz und Selbstgefälligkeit nebst ihrem ganzen "Kreis", dessen Mitglieder eine Art von Ewigkeit beanspruchen können (denn nicht wenige habe ich kennengelernt).
Die nächtliche Desorientiertheit ein Trick? Daran habe ich nicht gedacht und mir wollte es auch nicht gekünstelt erscheinen: Solche Zustände meine ich selbst zu kennen (weil ich an unterschiedlichsten Orten gewohnt habe), man vermischt Traum und Realität (denn selbst wenn das geträumte Zimmer jenes sein sollte, in dem man tatsächlich schläft, so ist es doch ein gänzlich anderes), orientiert sich mühsam, schläft wieder ein und nimmt den halbwachen Zustand in den Schlaf mit, vergisst die Zeit (wer etwa zur ungewohnten Zeit der Müdigkeit nachgibt weiß häufig nicht um die Uhrzeit, ist irritiert von Helligkeit oder Dunkel) und sucht auch räumliche Orientierung.
Was mir diesmal besonders aufgefallen (und ich seinerzeit nicht so empfunden habe) ist die mangelnde Motivierung von Swanns Liebe zu Odette. Denn eigentlich sonderbar: Von Anfang an wird betont, dass sie so gar nicht sein Typ gewesen wäre, wird auch nicht als besonders betörendes Wesen dargestellt, aber plötzlich befindet er sich in einer Art Abhängigkeitsverhältnis. Natürlich - so bald sie sich zu entziehen beginnt, erwacht in Swann der eifersüchtige Besitzanspruch - und sie ist sich (wenn auch nur halb) dieses Effekts bewusst. Warum er aber überhaupt ihr verfällt, will mir nicht einleuchten, gerade weil er durch sein promiskuitives Verhalten wohl oft Ähnliches erlebt hat und es einer stärkeren Faszination bedürfte, um diese Besessenheit zu erklären. Diese ist dann hinwiederum (wenn schon mal vorhanden) völlig plausibel (wenn ich sie auch nicht mehr so intensiv empfinde wie vor 35 Jahren, aber mein Hormonspiegel dürfte sich mittlerweile auf anderem Niveau eingependelt haben

), alle diese Verrücktheiten, die sich um Odette drehenden Gedanken, die nie auch nur im Entferntesten die Wahrheit treffen (wobei er sich in kurzen, luziden Momenten dessen bewusst wird, aber aus Lust am Leiden wird derlei sofort wieder verdrängt). Und sie ähneln natürlich den Gedanken des Jungen im Bois de Boulogne, der Gilberte im Geiste Briefe schreibt, von ihr welche empfängt (und sich auch plötzlich darüber klar wird, dass er _seine_ Briefe empfängt und daher ein solches Schreiben gar nie bekommen wird können), der nach allen Äußerlichkeiten giert (die Straße, in der Gilberte wohnt, bei jeder Gelegenheit erwähnt, Francoise in diese Gegend dirigiert und alle Personen aus dem Umkreis Gilbertes mit einer Aura des Wundervollen, schier Unerreichbaren versieht), ihren Schriftzug unzählige Male wiederholt (und ich habe ein Chemiebuch aus dem Gymnasium, in dem ausnahmslos jede Seite ebenso einen damals höchst bedeutsamen Mädchennamen ziert). Das verweist auch schon auf die "junge Mädchenblüte", wo eine repräsentativ für alle anderen ist (und ich erinnere mich noch des Herzklopfens, wenn ich eine Freunding der Angebeteten irgendwo sah; es handelte sich damals ebenso um eine Kleeblatt).
Das Eindruckvollste sind für mich auch die Personen (die eigentlich selten äußerlich beschrieben werden, von denen man - Kennzeichen eines guten Schriftstellers - aber trotzdem eine genaue Vorstellung bekommt (das Gegenteil ist für mich etwa Boris Vian, der sich in genauen morphologischen Beschreibungen der Köpfe ergeht und man hat trotzdem keinen visuellen Eindruck), ähnlich treffend konnte das auch Thomas Mann), von Leonie wird nirgendwo (jedenfalls kann ich mich jetzt nicht erinnern) ihr Aussehen penibel beschrieben und trotzdem erkennt man sie, lächelt, sagt sich "genau so". Weil es gewissermaßen auch Phänotypen sind, die jeder aus seinem eigenen Leben kennt.
Ich genieße das Lesen sehr und da ich das Buch nun zum xten Male lese (gerade den ersten Band), so fand ich auch die entschleunigte Lektüre ausnehmend angenehm, die mich auf Dinge achten ließ, die mir früher nicht auffielen (bzw. von denen ich glaube, dass sie mir nicht auffielen: Meinem Gedächtnis traue ich nicht immer).
lg
orzifar