Author Topic: E. Werner, M. Erbstößer: Kleriker, Mönche, Ketzer  (Read 2860 times)

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E. Werner, M. Erbstößer: Kleriker, Mönche, Ketzer
« on: 27. Oktober 2015, 21.20 Uhr »
Hallo!

Wenn man bei einem Buch über Mönche, Kleriker und Ketzer ungläubig staunt, dann scheint das in der Natur der Sache zu liegen. Aber der Fall ist denn doch anders gelagert: So wird hier im Vorwort eine nicht greifbare Unterscheidung zwischen Mentalitätsgeschichte und Klassengeschichte gezeichnet, wobei erstere bürgerliche Eigenschaften (ich wüsste wirklich gerne, was bürgerliche Eigenschaften in diesem Zusammenhang sein sollen, aus dem Text hat sich mir das nicht erschlossen), zweitere die - offenkundig zu bevorzugenden - Klasseneigenschaften beschreibt (und das alles im Mittelalter: Denn selbst mit bürgerlichen Klassen hat man da schon seine Probleme, die vielgerühmte Arbeiterklasse wird man aber nicht vorfinden). Man vermutet richtig: Die beiden Autoren waren Geschichtsprofessoren in der DDR, obschon das Buch erst nach der Wende (im reaktionären Herder-Verlag) erschienen ist. Dieser von E. Werner verfasste "Prolog" ist ein klassisches Beispiel für die verdummende Indoktrination eines Staates, obschon er in Diktion und Aussage offenkundig gemildert wurde: Zehn Jahre zuvor im Berliner Akademie-Verlag hätte das sich noch ganz anders geklungen.

Ich bin gespannt, inwieweit sich das Diamat-Denken in den einzelnen Beiträgen kundtut: Wovon ich die weitere Lektüre abhängig machen werde. Zumeist sind die Elaborate solcher mit Ideologie verstopften Gehirne schlicht unlesbar (aber es gibt auch Ausnahmen).

lg

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Re: E. Werner, M. Erbstößer: Kleriker, Mönche, Ketzer
« Reply #1 on: 25. November 2015, 01.06 Uhr »
Hallo!

Nachdem ich mit der Lektüre fast bis ans Ende gekommen bin kann ich Entwarnung geben: Meine Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet. Zwar wird man öfter als normalerweise in solchen Büchern mit der ganz spezifischen Terminologie des Diamat konfrontiert, der Lesbarkeit des Buches tut dies aber keinen Abbruch. Und weil derartige Darstellungen ansonsten zumeist aus der religiösen Ecke kommen, ist das vorliegende Buch eine ganz angenehme Alternative.

Bezüglich der Ketzer bricht das Buch mit den Katharern ab, die Strömungen der Hussiten oder Wicliffisten (ob es diesen Begriff gibt entzieht sich meiner Kenntnis) werden nicht mehr behandelt. Dafür wird (entsprechend dem Buchtitel und im Gegensatz zu Lambert) auf die Enstehung der neuen Orden stärker eingegangen (insbesondere die Zisterzienser werden ausführlich behandelt) als auch die gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung des Mittelalters (und der neu aufstrebenden Städte) berücksichtigt. Insgesamt ein durchaus ernst zu nehmendes Werk, dessen Kapitel auch einzeln gelesen werden können.

lg

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Re: E. Werner, M. Erbstößer: Kleriker, Mönche, Ketzer
« Reply #2 on: 27. November 2015, 02.11 Uhr »
Hallo!

Habe nun noch ein paar abschließende Worte zum Buch im Blog verloren.

lg

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Offline Karamzin

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Re: E. Werner, M. Erbstößer: Kleriker, Mönche, Ketzer
« Reply #3 on: 02. Dezember 2015, 09.22 Uhr »
Hallo Orzifar,

zu dem Buch von Ernst Werner und Martin Erbstößer gestatte noch ein paar Worte. Hier zeigte sich wieder einmal das Problem "Sicht von innen" - "Sicht von außen". Das Buch ist vor mehr als zwanzig Jahren, 1994, erstmals in einem westlichen Bundesland erschienen. Uns war es jedoch in der DDR schon 1986 unter dem Titel "Ketzer und Heilige" bekannt geworden. Ein solcher Titel lässt aufhorchen. Er war ein Signal: man hat eine Lektüre mit "Zwischentext", mit "doppeltem Boden", vor sich. Wenn von "Ketzern" die Rede ist, kann man sich auf versteckte Kritik an der Parteiideologie gefasst machen. Wie etwa auch 1979 bei dem Buch "Ketzerschicksale" des Osteuropa-Historikers Eduard Winter (1896-1982; Buch in Zusammenarbeit mit Günter Mühlpfordt entstanden), der seine österreichische Staatsbürgerschaft nie aufgegeben hatte, um sich eine Rückzugsmöglichkeit zu schaffen, achtete man auf Zeugnisse des "verdeckten Ketzertums". Solche Literatur war "gegen den Strich" zu lesen. Das Klassenkampf-Vokabular kam überall vor. "Von außen" gesehen, ist sicher nicht einfach zu unterscheiden, was da notwendige Dekoration und was wirklich in all den Jahrzehnten der Beschäftigung mit der Geschichte auf marxistischer Basis auch verinnerlicht war. Man konnte gegenüber der sozialistischen Sache treu geblieben sein und dennoch Kritik an den Dogmen im historischen Gewande üben. Anders als etwa Stefan Heym, der im Westen veröffentlicht wurde, hatten es Universitätsangehörige schwerer. Man hatte das Beispiel Günter Mühlpfordts (geb. 1921 - er arbeitet noch!) vor Augen, eines anderen Erforschers der Ketzerbewegungen, der aus der Universität entfernt wurde, wozu sich Walter Ulbricht 1958 höchstpersönlich an die Universität Halle begab, wo er eine Brandrede gegen Mühlpfordt hielt.

Wenn man ein Buch von Ernst Werner zur Hand nahm, wusste man, dass dieser Leipziger Historiker im Zusammenhang mit der Verfolgung der sogenannten Revisionisten 1958 gemaßregelt wurde. Der 1993 verstorbene Ernst Werner hatte mit Ernst Bloch und Hans Mayer zu tun. 1958 kam es auch zur letzten größeren Begegnung von Historikern der BRD und der DDR auf deutschem Boden bis zu den 1980er Jahren, später in der Regel nur auf "neutralem Boden", in anderen Ländern. 

Ernst Werner vereinigte in für die DDR einmaliger Weise Kenntnisse der Byzantinistik, der Osmanistik (zusammen mit Walter Markov verfasste er eine "Geschichte der Türkei") sowie der Geschichte europäischer religiöser Bewegungen. Er wurde 1991 gnadenlos von der in Leipzig besonders rabiaten"Abwicklung" erfasst, worauf sein verfrühter plötzlicher Tod 1993 zum Teil zurückzuführen ist.
Dazu empfehle ich den Zweibänder von Werner Röhr "Die Abwicklung", Berlin 2011-2012, in dem E. Werner und M. Erbstößer häufig erwähnt werden. Gewendete Leipziger Kollegen (die in einem Falle ebenfalls den Hussitismus erforscht hatten) sorgten für Entlassungen.
Bei der Erforschung religiöser Bewegungen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit waren die Kontakte zwischen den Spezialisten beider deutscher Länder indes nicht gänzlich abgebrochen. In der DDR wirkten im Lutherjahr 1983 und im Müntzer-Jahr 1989 "weltliche" Reformationsforscher an Universitäten und Akademie sowie protestantische Kirchenhistoriker zusammen, die ihre Verbindungen nicht aufzugeben brauchten. Man lernte voneinander: im Osten mussten die überwiegend nicht konfessionell Gebundenen die Grundlagen der Religions- und Kirchengeschichte verstehen lernen, und die Kirchenhistoriker, dass man nicht nur die reine Ideengeschichte zu verfolgen hatte, sondern auch eine soziale Einbettung der Entwicklung des Denkens vorzunehmen hatte. Nach 1990 konnte daran zwar angeknüpft werden, jedoch waren die meisten Universitätsangehörigen inzwischen wegen "Staatsnähe" entlassen worden, auch wenn sie sich mit mittelalterlichen Ketzerbewegungen oder mit Byzanz befasst hatten, und die Akademie der Wissenschaften mit ihren 27.000 Mitarbeitern, an der Angela Merkel und Wolfgang Thierse gearbeitet hatten, geschlossen worden. (Die 1992 gegründete Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften ist eine reine Gelehrtengesellschaft, die Leibniz-Gesellschaft hat sich hingegen direkt in die Tradition der Berliner Akademie gestellt, die von Staats wegen gar nicht hätte aufgelöst werden dürfen, das konnten nur die Wissenschaftler selbst machen - so dass nun in Berlin zwei Akademien nebeneinander existieren).
Ich weiss nicht, ob die Freiburger Ausgabe von 1994 ein Vorwort aufzuweisen hat, in dem die Autoren vorgestellt werden müßten.
 
« Last Edit: 02. Dezember 2015, 10.32 Uhr by Karamzin »

Offline Karamzin

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Re: E. Werner, M. Erbstößer: Kleriker, Mönche, Ketzer
« Reply #4 on: 02. Dezember 2015, 10.20 Uhr »
Jetzt könnte noch die Frage aufkommen: wo blieb denn 1986 die Zensur, wenn solch ein subversiver Titel über die mittelalterlichen Ketzer erscheinen konnte?
Auch bei der Betrachtung der Zensur in der DDR sollten a) verschiedene Phasen unterschieden und b) reines "Schwarz-Weiss-Denken" nach dem Motto "Hie Zensur - da oppositionelle Autoren" vermieden werden. Bereits in der Zeit der Aufklärung waren etwa in Frankreich zahlreiche Autoren zugleich Zensoren in Personalunion. Ernst Werner war überaus angesehen und man wusste, dass seine Texte wissenschaftlicher Kritik standhalten würden, im Inland wie im Ausland. In den Verlagen und Redaktionen saßen zum Teil Absolventen solcher Universitätsprofessoren. 1986 setzte die "Perestrojka" Gorbatschows ein, bevor dann im darauf folgenden Jahr "Glasnost'" ins Spiel gebracht wurde. Es wurden Spielräume ausgelotet: was kann, was darf in dieser Situation gesagt werden (so etwas gibt es auch heute, zum Erstaunen von Menschen, die so etwas noch nicht erlebt haben).

Online orzifar

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Re: E. Werner, M. Erbstößer: Kleriker, Mönche, Ketzer
« Reply #5 on: 03. Dezember 2015, 00.00 Uhr »
Hallo Karmazin,

vielen Dank für deinen Beitrag. - Nein, es gab kein erklärendes Vorwort, es wurde auch nicht erwähnt, dass das Buch bereits 1986 einmal erschienen ist. Im Impressum erscheint nur ein Copyright-Verweis auf den BVU-Verlag, wo das Buch 1992 verlegt wurde (aber nach deinen Ausführungen zu schließen eben nicht das erste Mal).

Mit dem von dir mitgeteilten Hintergrundwissen liest sich das alles natürlich anders (und es tut mir leid, dass ich das nicht schon vorher wusste: Ich hätte bestimmte Passagen sicher mit mehr bzw. anderer Aufmerksamkeit gelesen). Das Erscheinungsjahr 1986 und der Erscheinungsort "DDR" machen aus dem Buch (das ja - wie im Blog nachzulesen - einen recht guten Eindruck auf mich gemacht hat) eine umso bemerkenswertere Leistung, denn im Text selbst war (von einer spezifischen Terminologie abgesehen) von dialektisch-materialistischer Geschichtsschreibung nichts zu spüren. Und das ist angesichts der ansonsten erschienenen Fachliteratur (ich beziehe mich hier vor allem auf den Bereich der Philosophie) die absolute Ausnahme. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich auch an ein Buch über die Geschichte der Mathematik (leider ist mir der Autor nicht mehr präsent), das von einem ostdeutschen Professor verfasst und erst nach der Wende verlegt wurde: In einem Vorwort hat er darauf hingewiesen, dass für eine Veröffentlichung in der DDR es noch einiger Erwähnungen von Marx oder Engels bedurft hätte. Das aber war gegen die Überzeugungen des Autors, weshalb er von einer Publikation Abstand nehmen musste.

Die beiden von dir erwähnten Bände von Werner Röhr sind leider vergriffen (und auch an der hiesigen Universität nicht vorhanden). Die von dir erwähnten Umstände zeigen aber sehr gut, dass man für die Beurteilung eines Buches manchmal mehr kennen muss als den bloßen Inhalt. Danke nochmal für die Informationen.

lg

orzifar

edit: Der inkriminierte Mathematiker hieß Max Draeger, das Buch hatte den Titel: "Die Philosophie in der Mathematik : Geschichte der Mathematik im Überblick".
« Last Edit: 03. Dezember 2015, 02.30 Uhr by orzifar »
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