Hallo Orzifar,
zu dem Buch von Ernst Werner und Martin Erbstößer gestatte noch ein paar Worte. Hier zeigte sich wieder einmal das Problem "Sicht von innen" - "Sicht von außen". Das Buch ist vor mehr als zwanzig Jahren, 1994, erstmals in einem westlichen Bundesland erschienen. Uns war es jedoch in der DDR schon 1986 unter dem Titel "Ketzer und Heilige" bekannt geworden. Ein solcher Titel lässt aufhorchen. Er war ein Signal: man hat eine Lektüre mit "Zwischentext", mit "doppeltem Boden", vor sich. Wenn von "Ketzern" die Rede ist, kann man sich auf versteckte Kritik an der Parteiideologie gefasst machen. Wie etwa auch 1979 bei dem Buch "Ketzerschicksale" des Osteuropa-Historikers Eduard Winter (1896-1982; Buch in Zusammenarbeit mit Günter Mühlpfordt entstanden), der seine österreichische Staatsbürgerschaft nie aufgegeben hatte, um sich eine Rückzugsmöglichkeit zu schaffen, achtete man auf Zeugnisse des "verdeckten Ketzertums". Solche Literatur war "gegen den Strich" zu lesen. Das Klassenkampf-Vokabular kam überall vor. "Von außen" gesehen, ist sicher nicht einfach zu unterscheiden, was da notwendige Dekoration und was wirklich in all den Jahrzehnten der Beschäftigung mit der Geschichte auf marxistischer Basis auch verinnerlicht war. Man konnte gegenüber der sozialistischen Sache treu geblieben sein und dennoch Kritik an den Dogmen im historischen Gewande üben. Anders als etwa Stefan Heym, der im Westen veröffentlicht wurde, hatten es Universitätsangehörige schwerer. Man hatte das Beispiel Günter Mühlpfordts (geb. 1921 - er arbeitet noch!) vor Augen, eines anderen Erforschers der Ketzerbewegungen, der aus der Universität entfernt wurde, wozu sich Walter Ulbricht 1958 höchstpersönlich an die Universität Halle begab, wo er eine Brandrede gegen Mühlpfordt hielt.
Wenn man ein Buch von Ernst Werner zur Hand nahm, wusste man, dass dieser Leipziger Historiker im Zusammenhang mit der Verfolgung der sogenannten Revisionisten 1958 gemaßregelt wurde. Der 1993 verstorbene Ernst Werner hatte mit Ernst Bloch und Hans Mayer zu tun. 1958 kam es auch zur letzten größeren Begegnung von Historikern der BRD und der DDR auf deutschem Boden bis zu den 1980er Jahren, später in der Regel nur auf "neutralem Boden", in anderen Ländern.
Ernst Werner vereinigte in für die DDR einmaliger Weise Kenntnisse der Byzantinistik, der Osmanistik (zusammen mit Walter Markov verfasste er eine "Geschichte der Türkei") sowie der Geschichte europäischer religiöser Bewegungen. Er wurde 1991 gnadenlos von der in Leipzig besonders rabiaten"Abwicklung" erfasst, worauf sein verfrühter plötzlicher Tod 1993 zum Teil zurückzuführen ist.
Dazu empfehle ich den Zweibänder von Werner Röhr "Die Abwicklung", Berlin 2011-2012, in dem E. Werner und M. Erbstößer häufig erwähnt werden. Gewendete Leipziger Kollegen (die in einem Falle ebenfalls den Hussitismus erforscht hatten) sorgten für Entlassungen.
Bei der Erforschung religiöser Bewegungen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit waren die Kontakte zwischen den Spezialisten beider deutscher Länder indes nicht gänzlich abgebrochen. In der DDR wirkten im Lutherjahr 1983 und im Müntzer-Jahr 1989 "weltliche" Reformationsforscher an Universitäten und Akademie sowie protestantische Kirchenhistoriker zusammen, die ihre Verbindungen nicht aufzugeben brauchten. Man lernte voneinander: im Osten mussten die überwiegend nicht konfessionell Gebundenen die Grundlagen der Religions- und Kirchengeschichte verstehen lernen, und die Kirchenhistoriker, dass man nicht nur die reine Ideengeschichte zu verfolgen hatte, sondern auch eine soziale Einbettung der Entwicklung des Denkens vorzunehmen hatte. Nach 1990 konnte daran zwar angeknüpft werden, jedoch waren die meisten Universitätsangehörigen inzwischen wegen "Staatsnähe" entlassen worden, auch wenn sie sich mit mittelalterlichen Ketzerbewegungen oder mit Byzanz befasst hatten, und die Akademie der Wissenschaften mit ihren 27.000 Mitarbeitern, an der Angela Merkel und Wolfgang Thierse gearbeitet hatten, geschlossen worden. (Die 1992 gegründete Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften ist eine reine Gelehrtengesellschaft, die Leibniz-Gesellschaft hat sich hingegen direkt in die Tradition der Berliner Akademie gestellt, die von Staats wegen gar nicht hätte aufgelöst werden dürfen, das konnten nur die Wissenschaftler selbst machen - so dass nun in Berlin zwei Akademien nebeneinander existieren).
Ich weiss nicht, ob die Freiburger Ausgabe von 1994 ein Vorwort aufzuweisen hat, in dem die Autoren vorgestellt werden müßten.