Author Topic: Theodor Fontane: Frühe Erzählungen und diverse Romane  (Read 22064 times)

Offline orzifar

  • Administrator
  • *****
  • Posts: 2 942
Hallo!

Werkausgaben haben es nunmal an sich, dass einem nichts vorenthalten wird: Obschon das manchmal nicht zu bedauern wäre. Und so ist zumindest die erste dieser "frühen" Erzählungen ein mehr als zweifelhafter Kunstgenuss: Was Fontane hier als 20jähriger mit "Geschwisterliebe" abliefert ist völlig inakzeptabel und sollte jedem sich zum Schriftsteller berufenen Forenschreiberling einige Hoffnung machen. Denn nach Durchsicht dieses unerträglichen Rührstücks würde man den Betreffenden zu einer anderen Berufswahl raten, nicht aber ihn zum Weiterschreiben ermutigen.

Blinder Bruder wird von aufopferungsvoller Schwester gepflegt, diese verliebt sich in einen Prediger. Verzweiflung beim Geschwisterpaar, Brüderchen wütet männlich blind, Schwesterchen stirbt an gebrochenem Herzen. Worauf die beiden Trauernden sich versöhnen und das Grab der Dahingeschiedenen pflegen. Das alles wird durch diverse Gedichtchen garniert, erinnert stark an Rührstücke wie etwa das "Schloss Durande" von Eichendorff. Platter, banaler geht kaum noch.

Stellt sich die Frage, was denn in solche Werkausgaben aufgenommen werden soll, muss, kann. Für den Fontaneforscher mag jedes Zettelchen von Bedeutung sein, ob aber solches auch zu seinem "Werk" gehört? Auch jeder Schulaufsatz, jede Beschreibung eines Ferienerlebnisses, die lyrischen Ergüsse eines Pubertierenden? Wobei für die vorliegende Erzählung immerhin gilt, dass sie in einer Zeitschrift veröffentlich wurde. Interessant jedenfalls nur als Kuriosum, wie der große und so sichere Stilist Fontane sein Karriere begonnen hat.

Die nachfolgenden Erzählungen sind dann von bereits ganz anderer Qualität (wenn auch kein großer Kunstgenuss). Sie sind in den Jahren 1853/54 erschienen, also 14 Jahre nach dem unsäglichen Beginn und zeigen tatsächlich, wie durch den Klappentext angekündigt, die Andeutung einer literarischen Meisterschaft. Wobei sich auch ein ungustiöses Stück darunter findet: Die Jagdgeschichten am Cap. Großwildjagd als Abenteuerspektakel ist meines nicht.

Ich habe während der noch eine Zeitlang andauernden Lektüre der Fontane-Biographie Nürnbergers vor, einige Romane des von mir hochgeschätzten Autors wiederzulesen (und bin sicher, dass ich sein schwächstes Werk bereits hinter mir habe).

lg

orzifar
« Last Edit: 09. Juni 2015, 02.14 Uhr by orzifar »
Derzeitige Lektüre:

Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831 - 1933
Hans Albert: Kritik des theologischen Denkens
John Irving: Owen Meany

Offline sandhofer

  • Administrator
  • *****
  • Posts: 6 763
Re: Theodor Fontane: Frühe Erzählungen und diverse Romane
« Reply #1 on: 23. Mai 2015, 23.13 Uhr »
Stellt sich die Frage, was denn in solche Werkausgaben aufgenommen werden soll, muss, kann. Für den Fontaneforscher mag jedes Zettelchen von Bedeutung sein, ob aber solches auch zu seinem "Werk" gehört? Auch jeder Schulaufsatz, jede Beschreibung eines Ferienerlebnisses, die lyrischen Ergüsse eines Pubertierenden?

Diese Frage stellt sich, unabhängig von Fontane immer wieder mal. Aber eben: Der Aficionado wird anderes und mehr erwarten als der rein geniessende Leser. Meine Werk-Ausgabe von Fontane fängt mit seinen Reisen in Schottland und in Frankreich an.

Wobei für die vorliegende Erzählung immerhin gilt, dass sie in einer Zeitschrift veröffentlich wurde. Interessant jedenfalls nur als Kuriosum, wie der große und so sichere Stilist Fontane sein Karriere begonnen hat.

Fontane war ja auch schon im gesetzteren Alter, als er seine eigentliche Karriere erst anfing...
« Last Edit: 09. Juni 2015, 02.14 Uhr by orzifar »
Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

Offline orzifar

  • Administrator
  • *****
  • Posts: 2 942
Re: Theodor Fontane: Frühe Erzählungen und diverse Romane
« Reply #2 on: 09. Juni 2015, 02.14 Uhr »
Hallo!

Ich habe mir das Vergnügen einiger Fontane-Romane gegönnt, ohne diese aber einer allzu eingehenden Betrachung unterziehen zu wollen (schon das Nachwort zu "Graf Petöfy" über die "Präfigurationen" in diesem Roman hat mir gezeigt, dass ich in dieser Form über Belletristik nicht (mehr) nachdenken möchte). Ich belasse es vorerst beim Genießen oder kurzen Bemerkungen: So kann ich das Diktum beim "Grafen Petöfy", dass es sich um ein teilweise misslungenes Werk handle (weil der Autor vom österreichisch-ungarischen Lokalkolorit keine Ahnung habe), ganz und gar nicht teilen. Zum einen ist nach meinem Dafürhalten das "österreichische Wesen" (so es ein solches gibt) ganz gut getroffen, zum anderen aber ist dies ohnehin nicht entscheidend. Sondern etwa die vorkommenden, brillianten Dialoge, Gespräche, die in ihrer sprachlichen Genauigkeit vielleicht nur noch bei Thomas Mann zu finden sind.

Mathilde Möhring imponiert durch eine untypische Fontanegestalt: Sind ansonsten die Frauen oft Spielball ihrer Gefühle (bzw. der Männer), wird hier eine sehr selbstbewusste Frau präsentiert (eine junge, energische, aber sehr viel unabhängigere Jenny Treibel): Die sich einen wenig durchsetzungsfreudigen, aber formbaren Mann erwählt, diesen sanft, doch mit Überlegung in eine Richtung lenkt und nach dessen Tod nicht etwa das freudlose Dasein einer Witwe führt, sondern einen Beruf ergreift und ihr ganz eigenes Leben lebt. Wenngleich sie auch feststellen muss, dass nicht nur sie ihren verstorbenen Ehemann beeinflusst hat, sondern - nach seinem Tode - auch ihrerseits den Einfluss seines ganzen, weichen, fast künstlerischen Wesens spürt und erst dadurch zu einem erfüllten Leben gelangt.

Quitt hinwiederum ist eine Art Kriminalroman: Wilderer erschießt Förster, nachdem dieser als - ungerechter und selbstgefälliger - Repräsentant der Obrigkeit ein entsprechendes Regime führt. Lehnert Menz, der Wilderer, flieht nach Amerika, dem schon zuvor ihm Freiheit versprechenden Land, kommt dort kurz zu Vermögen, verliert alles wieder und tritt in eine Mennonitengemeinde ein, wo er sich in das hübsche Töchterchen des Patriarchen verliebt. Aber es soll nicht sein: Bei der Suche nach einem Vermissten stürzt er von einem Felsen und muss einen ähnlichen Tod erleiden wie der von ihm erschossene Förster: Und beide finden kurz vor ihrem Dahinscheiden verzeihende, an die Gerechtigkeit appellierende Worte.

Sowohl bei diesem letzten Werk als auch bei "Graf Petöfy" wirkt die starke Betonung der Frömmigkeit bzw. der Tatsache, dass man seinem Schicksal offenbar nicht entfliehen kann, ein wenig deplatziert: Wobei in "Quitt" mit dem bei den Mennoniten weilenden Freidenker L'Hermite ein Gegengewicht zu dem fatumhaften Verlauf des Lebens geschaffen wird (jedoch nur zum Teil: Auch dem Franzosen werden allerlei "seherische" Erkenntnisse zuteil). Diese phantastischen Einsprengsel zerstören einiges der ansonsten so wunderbaren Ironie und Souveränität der Figuren (wie sie etwa einem Stechlin eignet).

lg

orzifar
Derzeitige Lektüre:

Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831 - 1933
Hans Albert: Kritik des theologischen Denkens
John Irving: Owen Meany

Offline Berneir

  • Newbie
  • *
  • Posts: 11
Re: Theodor Fontane: Frühe Erzählungen und diverse Romane
« Reply #3 on: 09. Juni 2015, 12.12 Uhr »
Ich habe ehrlich gesagt nur Irrungen, Wirrungen gelesen. Leider trifft es nicht ganz meinen Geschmack. Kann daran liegen, dass es damals noch zu meiner Pflichtlektüre in der Schule gehörte. ;) Da hatte ich noch nicht erkannt, wie toll Literatur sein kann. Vielleicht sollte ich mich noch einmal an Fontane heranwagen. Hat denn jemand einen Tipp?

Offline sandhofer

  • Administrator
  • *****
  • Posts: 6 763
Re: Theodor Fontane: Frühe Erzählungen und diverse Romane
« Reply #4 on: 09. Juni 2015, 22.16 Uhr »
Hat denn jemand einen Tipp?

Nicht die frühen Erzählungen. Der Stechlin: Unbedingt. Die Frau Jenny Treibel habe ich mit grossem Spass gelesen. Nicht zum in einem Rutsch durchlesen: Die Wanderungen durch die Mark Brandenburg.
Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

Offline orzifar

  • Administrator
  • *****
  • Posts: 2 942
Re: Theodor Fontane: Frühe Erzählungen und diverse Romane
« Reply #5 on: 09. Juni 2015, 23.55 Uhr »
Hallo!

Mir ist es ganz ähnlich wie dir gegangen: Nachdem ich mit 16 oder 17 erstmals Fontane las (Frau Jenny Treibel) konnte ich rein gar nichts damit anfangen. Mir entgingen völlig die Feinheiten der Sprache, ihre Genauigkeit, der augenzwinkernde Humor. Ich empfand den Roman als eine irgendwie langweilige Gesellschaftsgeschichte und habe über 10 Jahre keinen Fontane mehr angerührt. Dann aber war ich baff erstaunt: Was für ein großartiger Stilist, welche Sprachgewandtheit.

Vielleicht ist Fontane das Gegenstück zu Hesse: Als ich den wieder zu lesen versuchte war ich peinlich berührt ob all der Plattheiten. Bei Fontane war ich ebenso berührt: Ob meiner eigenen Unfähigkeit, die Qualität der Bücher zu verstehen. Mag sein, dass andere Jugendliche mehr Gespür hatten: Ich jedenfalls habe Fontane erst postadoleszent verstanden.

Lesen? Fast alles (außer das frühe Werk, wie von mir auch oben beschrieben). Der Stechlin aber vor allem anderen. Ich könnte mir hingegen vorstellen, dass du selbst "Irrungen, Wirrungen" mit ganz anderen Augen liest als damals. Insofern vielleicht der ideale Einstieg.

lg

orzifar
Derzeitige Lektüre:

Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831 - 1933
Hans Albert: Kritik des theologischen Denkens
John Irving: Owen Meany

Offline sandhofer

  • Administrator
  • *****
  • Posts: 6 763
Re: Theodor Fontane: Frühe Erzählungen und diverse Romane
« Reply #6 on: 10. Juni 2015, 08.42 Uhr »
Nachdem ich mit 16 oder 17 erstmals Fontane las (Frau Jenny Treibel) konnte ich rein gar nichts damit anfangen.

Ich hatte das Glück, als Student im ersten Semester eine Vorlesung von Walter Killy zu (u.a.) diesem Roman zu hören.  O0
Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

Offline Camenzind

  • Jr. Member
  • **
  • Posts: 59
Re: Theodor Fontane: Frühe Erzählungen und diverse Romane
« Reply #7 on: 12. Juni 2015, 13.43 Uhr »
Bei Fontane war ich ebenso berührt: Ob meiner eigenen Unfähigkeit, die Qualität der Bücher zu verstehen.

Könnte sich auch in Sachen Hesse noch einstellen. Kommt Zeit, kommt Rat. Oder auch nicht.

 8)

(edit.: )

Aber laß, Luise. Das ist ein zu weites Feld.

 :)
« Last Edit: 12. Juni 2015, 15.13 Uhr by Camenzind »

Offline Camenzind

  • Jr. Member
  • **
  • Posts: 59
Re: Theodor Fontane: Frühe Erzählungen und diverse Romane
« Reply #8 on: 13. Juni 2015, 11.12 Uhr »
Einigermaßen verblüfft las ich gestern, daß es eine zeitgenössische Effi Briest – Verfilmung gibt, in der Effi am Ende Eltern Eltern sein läßt, in Berlin bleibt und guter Dinge sich des Lebens freut … was ich zunächst als Unding empfand aber dann bei näherem Hindenken nicht mehr.

Wäre es einfach sozusagen zeitgenössischer Firlefanz (an Theatern im Übermaß zu erleben ... so sagte z.B. mal ein Dramaturg, den Schluss von Ibsens 'Nora' müsse man halt heutzutage ändern, da er nicht mehr zeitgemäß sei … erstens stimmt das nicht, weder daß man ihn ändern müsse noch daß er nicht mehr zeitgemäß sei, zweitens was muß einen die Gegenwart interessieren … muß sie nicht … wesentliche Literatur ist eh zeitlos …) wäre es der Rede nicht wert … aber in diesem Fall liegt der Fall tiefer und ist interessant.

Zuwendung, Fürsorge kann einen halt auch kleinhalten, am Wachstum hindern, ggf. letzten Endes ersticken … muß nicht, aber kann. Die meinerseits (59) jahrzehntelang ausschließlich als positiv besetzt wahrgenommene Fürsorge von Effis Eltern sowie ihr Zurückkommen zu ihnen sah ich gestern plötzlich in einem ganz anderen Licht … (Insofern hat dieser Filmschluß, von dem ich las, einen kräftigen Denkanstoß bewirkt.)

(Nun könnte man einwenden, hier gehe es um Fontane und nicht um Verfilmungen. Nur haben die Gedanken, die man sich zu  diesem abgeänderten Filmschluß machen kann, sehr wohl sehr direkt mit Fontane zu tun …Er hatte ja, vereinfacht auf eine Formel gebracht, durchaus Sympathie und Aufgeschlossenheit für "das Neue", blieb aber für sich selber doch eher beim "Alten". Und das kann man halt aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten …)

Noch reizvoller fände ich eine Verfilmung, in der Effi die "alte" Variante träumt und dann die neue erlebt. Oder, vielleicht (wohl Sache des individuellen Geschmacks oder auch Gemüts …) noch reizvoller, umgekehrt, sie träumt die "neue" Variante und erlebt dann doch die alte … Nun sind wir doch bei Verfilmungen. Andererseits hätte Fontane ja auch, wie z.B. Gottfried Keller im "Grünen Heinrich", zwei Varianten schreiben können …  :)

Offline Gontscharow

  • Hero Member
  • *****
  • Posts: 595
Re: Theodor Fontane: Frühe Erzählungen und diverse Romane
« Reply #9 on: 14. Juni 2015, 01.24 Uhr »
Den Film habe ich vor etwa drei Jahren gesehen - und ich  fand ihn gut! Trotz oder wegen des eigenwilligen Schlusses - genau aus den von Dir genannten Gründen! Ich kenne  die Effi-Briest-Verfilmung von Gustav Gründgens, die von Rainer Werner Fassbinder und auch den DEFA -Film. Alle nicht schlecht - dieser gefiel mir am besten. Die Problematik von Literaturverfilmungen ist mir bewusst, ich mag auch keine anbiedernden Modernisierungen. Seltsam, hier ließ gerade die Abänderung eine besondere Nähe zum Original enstehen, irgendwie schien der Film mir mehr Fontane zu enthalten als die anderen werkgetreueren Versionen.

Zurück zu den Fontane-Tipps! Warum werden eigentlich nie Unterm Birnbaum und Schach von Wuthenow genannt? Ich tu das mal, denn es sind meine Favoriten. Sie sind äußerst spannend und skurril. 
Aus welcher Gegend kommst Du, Berneir ? Vielleicht fängst du mit einem Werk an, das in Deiner Gegend spielt. Das Faszinierende an Fontane ist u.a. die Verortung seiner Erzählungen. Unwiederbringlich spielt in Schleswig- Holstein, Glücksburg und Kopenhagen, Cecile in Thale im Harz, Stine, Irrungen, Frau Jenny Treibel und andere in verschiedenen Kiezen von Berlin, Quitt in Schlesien und Amerika, Mathilde Möhring in Westpreußen/Polen, Schach v. W. in Berlin Tempelhof und Neuruppin, Grete Minde in Tangermünde und Stendhal, Petöfy in Ungarn, Unterm Birnbaum im Oderbruch usw...Und  die Orte und Gegenden sind nicht nur Schauplätze, sondern spielen mit ihrer Geschichte und ihren Geschichten eine wichtige Rolle, sind manchmal fast Protagonisten, wie der Stechlin-See...
Genug geschwärmt. Ich bin gespannt, mit welchem Werk Du einen neuen Versuch starten wirst.

Offline Karamzin

  • Newbie
  • *
  • Posts: 47
Re: Theodor Fontane: Frühe Erzählungen und diverse Romane
« Reply #10 on: 15. Juni 2015, 08.39 Uhr »
Um an Gontscharow anzuknüpfen: ich habe mehrere Jahrzehnte in Berlin gelebt und zahlreiche Orte in der Mark Brandenburg besucht. Fontane ist dort bei vielen Lesern mehrerer Generationen noch sehr populär, manche können Passagen auswendig wiedergeben - wenn man z. B. die mittelalterliche Feldsteinkirche inmitten des belebten Berlin-Tempelhof nebst Teich und alten Baumgruppen in der Nähe aufsucht, wird der Ausruf der hugenottischen Tante aus dem Schach von Wuthenow herausgelockt:  "Das ist die Kürche!" Der Berliner erkennt seine Mundart wieder, das Zitat kommt einem 28jährigen Leser in den Sinn.


In Bayern, im Schwarzwald oder in Schleswig-Holstein (Theodor Storm) mögen andere Autoren in bestimmten Lesergemeinden lebendig geblieben sein.


Im Schulunterricht zu DDR-Zeiten wurde etlichen die obligatorisch zu lesende Effi Briest verleidet, weil von den Schülern die Wiedergabe einer politischen Tendenz abverlangt wurde: die angebliche Lobpreisung des "Vierten Standes" als menschlich durch Fontane gegenüber der Unmenschlichkeit von Angehörigen der herrschenden Klassen (und der "Schimmelreiter" Storms musste untergehen, weil er sich nach herrschender Lesart "vom Kollektiv absonderte", viele lasen später nicht mehr Theodor Storm).
Man bemerkte die Absicht und war verstimmt, wenn auch manchen die Effi weiterhin als Lektüre gefiel, nicht zuletzt beeinflusst durch die hier erwähnten Verfilmungen.

Dafür wurden mir später die Cecile, die sowohl im Harz als auch in Berlin spielt, und der Stechlin zu Lieblingsromanen, in denen Angehörige des Adels, im Falle der Cecile sogar eines Fürstenhofes, porträtiert werden. Besonders zog die Dialogführung Fontanes an, sein Plauderton, im Falle des Alterswerkes Cecile und hier besonders in dessen letzten Teil auch die Sparsamkeit im Einsatz der dichterischen Mittel.
Die Lektüre des umfangreichen Frühwerks Vor dem Sturm setzt schon einiges an Begeisterungsfähigkeit für die Jahre 1807/08, die Zeit nach der preußischen Niederlage von Jena und Auerstedt und vor der antinapoleonischen Erhebung, voraus.
« Last Edit: 15. Juni 2015, 09.12 Uhr by Karamzin »

Offline orzifar

  • Administrator
  • *****
  • Posts: 2 942
Re: Theodor Fontane: Frühe Erzählungen und diverse Romane
« Reply #11 on: 18. Juni 2015, 02.56 Uhr »
Hallo!

Die "Kinderjahre", ein Buch, das Fontane als autobiographischen "Roman" bezeichnete, um möglichen Vorwürfen irgendwelcher Ungenauigkeiten im voraus zu begegnen. Das Buch ist eigentlich (wenigstens meinem Empfinden nach) nicht so sehr die Schilderung von Fontanes Kindheit, sondern in mindestens ebenso starken Maße eine Hommage an seinen Vater, der, wenn man der Darstellung glauben darf, dieses Lob mehr als verdiente.

Eine Besonderheit dieses Buches stellt dabei auch das Kapitel Nr. 16 dar (nicht das letzte, sondern bloß eingeschoben), das "40 Jahre später" übertitelt ist und einen Besuch des nun schon selbst ergrauten Schriftstellers bei seinem Vater schildert. Diese Schilderung ist berührend, zeigt das Porträt eines alten, in seiner Art weisen Mannes, tolerant, bescheiden - und sie zeigt auch die Liebe des Autors zu diesem Vater, der in vielen Fontane-Figuren durchscheint: Nicht zuletzt im alten Stechlin.

Grete Minde ist hingegen eine Art Kriminalroman und berichtet über die Rache einer ungerecht behandelten Tochter im 17. Jahrhundert, die in Kohlhaasscher Manier eine ganze Stadt in Brand setzt. (Dass dies ein historischer Roman ist muss man aus Kleinigkeiten erschließen: Er könnte auch im 19. Jahrhundert spielen.) Aber das Spektakuläre ist nicht Fontanes Metier, auch wenn die Geschichte gut und routiniert erzählt wird. Auch hier sind es die Dialoge, die einzelnen Charaktere (etwa die Pastoren oder die Domina des Klosters), die dem Roman (Novelle? - ein müßiger Streit, Heyse hat "Grete Minde" in seine Novellensammlung aufgenommen, doch das Definitionserfordernis der "Einzigkeit eines Ereignisses" kann hier nur bei sehr toleranter Auslegung aufrecht herhalten werden) Qualität verleihen: Nicht das Handlungsgerüst.

lg

orzifar
Derzeitige Lektüre:

Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831 - 1933
Hans Albert: Kritik des theologischen Denkens
John Irving: Owen Meany

Offline sandhofer

  • Administrator
  • *****
  • Posts: 6 763
Re: Theodor Fontane: Frühe Erzählungen und diverse Romane
« Reply #12 on: 18. Juni 2015, 06.42 Uhr »
Das Buch ist eigentlich (wenigstens meinem Empfinden nach) nicht so sehr die Schilderung von Fontanes Kindheit, sondern in mindestens ebenso starken Maße eine Hommage an seinen Vater, der, wenn man der Darstellung glauben darf, dieses Lob mehr als verdiente.

Diesen Eindruck hatte ich seinerzeit bei der Lektüre auch, ja.
Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

Offline Berneir

  • Newbie
  • *
  • Posts: 11
Re: Theodor Fontane: Frühe Erzählungen und diverse Romane
« Reply #13 on: 29. Juni 2015, 14.11 Uhr »


Mir ist es ganz ähnlich wie dir gegangen: Nachdem ich mit 16 oder 17 erstmals Fontane las (Frau Jenny Treibel) konnte ich rein gar nichts damit anfangen. Mir entgingen völlig die Feinheiten der Sprache, ihre Genauigkeit, der augenzwinkernde Humor. Ich empfand den Roman als eine irgendwie langweilige Gesellschaftsgeschichte und habe über 10 Jahre keinen Fontane mehr angerührt. Dann aber war ich baff erstaunt: Was für ein großartiger Stilist, welche Sprachgewandtheit.


Du sprichst mir aus der Seele! Ich habe gerade Irrungen, Wirrungen neben mir liegen. Und es liest sich einfach ganz anders als damals. Ich bin begeistert und habe gleich Frau Jenny Treibel gekauft!

Offline Berneir

  • Newbie
  • *
  • Posts: 11
Re: Theodor Fontane: Frühe Erzählungen und diverse Romane
« Reply #14 on: 29. Juni 2015, 14.15 Uhr »
Einigermaßen verblüfft las ich gestern, daß es eine zeitgenössische Effi Briest – Verfilmung gibt, in der Effi am Ende Eltern Eltern sein läßt, in Berlin bleibt und guter Dinge sich des Lebens freut … was ich zunächst als Unding empfand aber dann bei näherem Hindenken nicht mehr.

Ist das dieser Film hier: http://www.constantin-film.de/kino/effi-briest/ ? Den hatte ich damals gesehen. War gar nicht schlecht...