Hallo!
Das große (umfangreiche) Bekenntnis eines Jagunço (das Glossar im Buch gibt an: Bandit, Miglied einer der vielen Räuberbanden im Sertão, die sich untereinander bekriegten aber auch mit den Soldaten sich im Kampf befanden), der, am Ende seines Lebens, einem unbekannt bleibenden Dritten dieses sein Leben erzählt. Im Unterschied zum "phantastischen Realismus" wird man hier mit der puren, reinen Wirklichkeit konfrontiert, keine metaphorische oder phantasievolle Bearbeitung, noch nicht einmal ein kleines, augenzwinkerndes Wunder.
Nur der versuchte Bund mit dem Teufel macht dem Erzähler zu schaffen, ein Bund, von dem er berichtet und der nicht zustande kam, weil der Satan an der vom Jagunço ausgewählten Wegkreuzung nicht zu erscheinen geruhte. Aber schon die Absicht des Bundes scheint - psychologisch - gewirkt zu haben: Bald darauf wird Riobaldo, der Erzähler, zum Hauptmann seiner Truppe und damit verantwortlich für die Taten zwischen Verbrechen aus Lust und Laune und generöser Nachsicht. Es ist ein Leben mit eigenem Ehrenkodex, eigenen Regeln und - sinnloser Gewalt. Dieser letzte Punkt, der Verzicht auf Glorifizierung des Verbrecherstatus, gibt dem Buch jene realistische Note, das es auszeichnet.
Und es gibt - neben den vielen Schilderungen der Gewalttaten - eine Geschichte in der Geschichte, jene des Freundes Reinaldo, dem sich der Protagonist verbunden fühlt, zu dem er Liebe empfindet wie sonst nur zu seiner Braut. Diese Freundschaft, die immer wieder ein subtiles, verborgen homoerotisches Verhältnis vermuten lässt, ist im Grunde das Leitmotiv des Buches - und es erfährt am Ende eine Auflösung, die mich ein wenig enttäuscht zurückließ: Reinaldo entpuppt sich im Tode als Frau - und alle Homoerotik wird dadurch auf ihr "normales", heterosexuelles Maß reduziert. Das macht den Eindruck, als ob der Autor vor der letzten Konsequenz zurückgescheut wäre; mir jedenfalls hätte ein schwuler, wenigstens bisexueller Held besser gefallen.
Trotz dieses Schlusses ("Ende für Leihbibliotheken" hat das Dürrenmatt genannt) ein beeindruckendes Buch, das einen tiefen Eindruck von der Einsamkeit, Wildheit des Sertão hinterlässt, von einem - wohl mittlerweile anachronistischen - Leben, wobei mich eine Dokumentation in Bayern Alpha gerade eben ein wenig vom Gegenteil zu überzeugen versucht hat: Vielleicht etwas weniger gesetzlos, moderner, was die Landwirtschaft - und das Töten - betrifft, aber durch die ungeheuren Weiten wohl immer noch eine Region, die zumindest teilweise das Prädikat "unberührte Landschaft" verdient. Der Roman aber verdient Lob durch seine Eindrücklichkeit, die Schilderung eines Lebensgefühls, das ich - je länger je mehr - zu schätzen vermochte. Und obwohl mir manche Passagen noch während des Lesens ein wenig lang, manchmal ermüdend erscheinen wollten: Jetzt, post festum, fügt sich das zu einem großartigen Stück Literatur.
lg
orzifar