Author Topic: Ngũgĩ wa Thiong'o: Herr der Krähen  (Read 4506 times)

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Ngũgĩ wa Thiong'o: Herr der Krähen
« on: 08. Juni 2013, 15.34 Uhr »
Die Tilden auf den Vokalen des Vornamens müsst Ihr euch denken, ich werde sie ergänzen, wenn ich wieder vor dem PC sitze. Der Roman ist eine satirische Abrechnung mit einer afrikanischen Diktatur. Mal heiterer, mal todernst. Magie als Waffe gegen absolutistische Machtansprüche. Im Moment, ich bin in den Kapiteln zu den weiblichen Dämonen, ist der Autor keineswegs satirisch, sondern realistisch-ernst.
« Last Edit: 08. Juni 2013, 16.05 Uhr by sandhofer »
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Re: Ngũgĩ wa Thiong'o: Herr der Krähen
« Reply #1 on: 08. Juni 2013, 16.05 Uhr »
Sodele - Tilden nachgeführt ...
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Offline orzifar

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Re: Ngũgĩ wa Thiong'o: Herr der Krähen
« Reply #2 on: 09. Juni 2013, 05.14 Uhr »
Hallo!

Der Herr der Tilden steht auch schon lange auf meiner "to-read-Liste". Mal sehen, ob ich es dieses Jahr noch schaffe.

lg

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Re: Ngũgĩ wa Thiong'o: Herr der Krähen
« Reply #3 on: 09. Juni 2013, 15.40 Uhr »
Hallo!

Ich bin nun etwas über die Mitte hinaus. "Umwerfend komisch", wie es die Süddeutsche Zeitung gemäß dem Klappentext will, ist es zwar schon, aber das Lachen über diese dummdreiste Diktatur bzw. ihre Hampelmänner bleibt einem dann doch im Hals stecken - weil Diktaturen und ihre Hampelmänner genau so dummdreist sind. Wenn man sie von aussen betrachten kann. Und so fürchterlich, wenn man ihr Opfer geworden ist. Das Buch erinnert in vielem an Charlie Chaplins "The Great Dictator". 
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Re: Ngũgĩ wa Thiong'o: Herr der Krähen
« Reply #4 on: 18. Juni 2013, 02.16 Uhr »
Hallo!

Habe nun auch begonnen, allerdings hatte ich einen Roman von etwa 100 Seiten erwartet. Und muss nun mit dem Faktor 10 rechnen ...

Bisher sehr gut lesbar, amüsant - aber, wie Sandhofer schon schrieb, eine Art Amusement des Grauens. Bin allerdings noch nicht weit gekommen.

lg

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Re: Ngũgĩ wa Thiong'o: Herr der Krähen
« Reply #5 on: 18. Juni 2013, 20.10 Uhr »
Hallo!

allerdings hatte ich einen Roman von etwa 100 Seiten erwartet. Und muss nun mit dem Faktor 10 rechnen ...

Bei 5 cm Rückenbreite? Wie dick ist denn die durchschnittliche Seite bei Euch?  :D

Das Buch hat übrigens in der Mitte m.M.n. einige Längen und völlig übertriebene Unwahrscheinlichkeiten. (Was impliziert, dass es auch einige nicht übertriebene Unwahrscheinlichkeiten enthält. Dem ist so.  8) ) Gegen Schluss erscheint dann wieder das Amüsement des Grauens...

Grüsse

sandhofer
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Re: Ngũgĩ wa Thiong'o: Herr der Krähen
« Reply #6 on: 18. Juni 2013, 22.44 Uhr »
allerdings hatte ich einen Roman von etwa 100 Seiten erwartet. Und muss nun mit dem Faktor 10 rechnen ...

Bei 5 cm Rückenbreite? Wie dick ist denn die durchschnittliche Seite bei Euch?  :D

Entsprechen höchstwahrscheinlich jenen der Schweiz. Aber von der Dicke wusste ich erst, als mir das Buch am Schalter ausgehändigt wurde. Warum auch immer - ich hatte mit einem dünnen Büchlein gerechnet.

Das Buch hat übrigens in der Mitte m.M.n. einige Längen und völlig übertriebene Unwahrscheinlichkeiten. (Was impliziert, dass es auch einige nicht übertriebene Unwahrscheinlichkeiten enthält. Dem ist so.  8) ) Gegen Schluss erscheint dann wieder das Amüsement des Grauens...

Das mit den Längen ist mir auch schon - in früherem Stadium - aufgefallen. Mir scheint, dass Thing'o ein wenig erzählen möchte wie die südamerikanischen phantastischen Realisten - dass es aber beim Wollen bleibt (obwohl das Buch nicht schlecht ist).

lg

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Re: Ngũgĩ wa Thiong'o: Herr der Krähen
« Reply #7 on: 19. Juni 2013, 06.44 Uhr »
Ja, an die Südamerikaner fühlte ich mich auch sofort erinnert.  ;)
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Re: Ngũgĩ wa Thiong'o: Herr der Krähen
« Reply #8 on: 27. Juni 2013, 21.49 Uhr »
Hallo!

Habe mittlerweile knapp die Hälfte des Buches gelesen. Und der Grundtenor hat sich nicht geändert: Angenehm zu lesen, aber es entsteht der Eindruck, dass für wirklich große Literatur etwas fehlt. Thematisch ist das Buch etwa dem "Fest des Ziegenbocks" von Vargas Llosa ähnlich, es beschreibt vergleichbare Strukturen absoluter Herrscher, die ungustiöse Verquickung von politischer und persönlicher Macht. In ihrer Bösartigkeit und Perversion sind sich Diktaturen offenbar ähnlich: Ein devoter Klüngel an Helfern (die darauf warten, ihre Macht irgendwie vermehren zu können), abgehobene, von der Realität meilenweit entfernte Herrscherfiguren, ein weitgehend ohnmächtiges Volk, das von den Schergen der Diktatoren geknechtet wird.

Thiong'o versieht diese politischen Aspekte mit einem Schuss Übersinnlichen: Das könnte - wie eben bei Llosa, Marquez oder aber auch Rushdie ein Mittel der sublimen Beschreibung der Zustände sein. Aber so ganz gelingt dem Autor dieser Spagat nicht, obwohl es schwer - etwa im Vergleich zu den genannten Autoren - zu beschreiben ist, was denn hier falsch läuft. Marquez lässt etwa in "Hundert Jahre Einsamkeit" eine Blutspur durch den ganzen Ort laufen, um der Mutter den Tod ihres Sohnes anzuzeigen, man fährt in den Himmel auf oder wird von jahrzehntelangen Regenfällen heimgesucht: Aber nirgendwo hat man den Eindruck des Aufgesetzten, Unpassenden, einer vergewaltigten Realität. Thiong'o hingegen gelingt es nicht wirklich, sehr viel weniger Wunder-Bares in seinen Roman glaubhaft zu integrieren, einerseits zu metaphorisch, andererseits wieder betulich. Das Übersinnliche dient nicht dem Roman, wird nicht bloß funktional gehandhabt, sondern zu einem realen Moment.

Deshalb geht - für mich - von diesem Buch nicht jener Sog aus, der die vorher genannten Autoren auszeichnet und mich stundenlang die Bücher nicht aus der Hand legen lässt. Wenngleich betont werden muss, dass dies beileibe kein schlechtes Buch ist. Aber zur ganz großen Literatur fehlt das gewisse Etwas, jenes Etwas, das sich nur schwer oder gar nicht in Worte fassen lässt.

lg

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Re: Ngũgĩ wa Thiong'o: Herr der Krähen
« Reply #9 on: 28. Juni 2013, 07.19 Uhr »
Hallo!

Das Übersinnliche dient nicht dem Roman, wird nicht bloß funktional gehandhabt, sondern zu einem realen Moment.

Ich denke, das beschreibt den Kern des Problems ganz gut. Kamĩtĩ ist zu real in einer Spielart des (indischen?) Buddhismus verankert, seine übersinnlichen Erfahrungen werden vom Autor ernst genommen, bzw. sind ernst gemeint.

Grüsse

sandhofer
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Re: Ngũgĩ wa Thiong'o: Herr der Krähen
« Reply #10 on: 02. Juli 2013, 17.20 Uhr »
Hallo!

Das Buch beendet. Wie schon zwischendurch vermutet gelingt es Thiong'o im Verlauf des Romans immer weniger, die einzelnen Stränge zusammenzuführen. So erscheinen manche radikale Problemlösungen als ein Mittel, sich nicht mehr um Plausibilität bemühen zu müssen, andere hingegen wirken hilflos oder betont metaphorisch (den Tränenteich des Vergessens und Erstarrens hätte ein Lektor dem Reißwolf anvertrauen sollen). Wie überhaupt Thiong'o metaphorische und realistische Ebene in einer Weise vermischt, die Stirnrunzeln erzeugt: Denn häufig wird mit einem Bild nicht der Inhalt, das Beabsichtigte auf eindrucksvolle Weise dargestellt, sondern es dient (wie bei anderen, meist schlechten Schriftstellern die Träume) dazu, die Handlung vorwärts zu treiben.

Gegen Ende des Buches wird diese ganze Konzeption chaotisch und undurchsichtig. Vielleicht beruht das auch auf dem Versuch Thiong'os, eine tatsächliche politische Alternative zu bieten in der Bewegung der "Stimme für das Volk": Und das muss fast zwangsläufig ein Schuss in den Ofen werden. Solche Utopien lesen sich meist ganz wunderschön und paradiesisch - sie kranken nur stets an der Tatsache, dass es nirgendwo auf dieser Erde die entsprechenden Menschen gibt, die sie auch verwirklichen könnten. Oder besser: Wenn es diese Menschen gäbe (ein bissi altruistisch, ideal, verständnisvoll usf.), bedürfte es keiner Utopien.

Die besten Stellen des Buches sind die sarkastischen Beschreibungen des Hofintrigantentums, das Devote, Hinterhältige, Lächerliche, Größenwahnsinnige einer solchen Machtentfaltung. Feige und perfide versuchen die Lieblinge des Herrschers sich gegenseitig zu eliminieren, man lässt sich Ohren und Augen vergrößern, um dem Herrscher besser dienen zu können, man foltert und mordet ohne viel Federlesens, lässt sich aber von einem Kübel Scheiße (vermeint HIV-infiziert) ins Bockshorn jagen. Diese Szenen bedürfen keiner Metaphorik, keiner metaphysisch-esoterischen Unterfütterung: Sie sind bizarr und real zu gleich und gerade deshalb äußerst lesenswert. Wahrscheinlich waren sie für die ehemaligen Machthaber in Kenia auch die verletztendsten - und das ist gut so.

lg

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Re: Ngũgĩ wa Thiong'o: Herr der Krähen
« Reply #11 on: 03. Juli 2013, 07.50 Uhr »
Hallo!

Gegen Ende des Buches wird diese ganze Konzeption chaotisch und undurchsichtig.

Wobei mir die zu Grunde liegende Idee ja gefallen hat: Das komplexe und vom Herrscher bis anhin klug austarierte Machtgefüge wird von diesem höchstpersönlich ausgehebelt, indem er plötzlich einen ministerialen Pfeiler des Gefüges umbringen lässt und neue Leute in die alten Positionen ruft. Er glaubt, diese besser im Griff zu haben. Und gerade vor dem Neuen, der dann ihn umbringen lässt, fürchtet er sich gar nicht, weil er ihn für einen Feigling hält. Ein makabrer Irrtum seinerseits, denn Titus ist zwar ein Feigling, der aber gerade deswegen wie eine in die Enge getriebene Maus zum Schlag ausholt. Ein Angstbeisser. Die Idee also gefällt mir - die Ausführung aber ist wirklich chaotisch.

Die besten Stellen des Buches sind die sarkastischen Beschreibungen des Hofintrigantentums, das Devote, Hinterhältige, Lächerliche, Größenwahnsinnige einer solchen Machtentfaltung. Feige und perfide versuchen die Lieblinge des Herrschers sich gegenseitig zu eliminieren, man lässt sich Ohren und Augen vergrößern, um dem Herrscher besser dienen zu können, man foltert und mordet ohne viel Federlesens, lässt sich aber von einem Kübel Scheiße (vermeint HIV-infiziert) ins Bockshorn jagen. Diese Szenen bedürfen keiner Metaphorik, keiner metaphysisch-esoterischen Unterfütterung: Sie sind bizarr und real zu gleich und gerade deshalb äußerst lesenswert.

Ganz Deiner Meinung. Und mit dieser merkwürdigen Befreiungsbewegung konnte ich auch nichts anfangen. Aber ich vermute, hier hat Thiong'o eigene Erlebnisse verarbeitet bzw. sich die Angst vor der Unausweichlichkeit der geschilderten Machtphänomene von der Seele geschrieben. Die Utopie soll wohl vor allem den Autor beruhigen, nicht die Leser.

Grüsse

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