Author Topic: Robert Menasse: Das war Österreich  (Read 3206 times)

Offline orzifar

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Robert Menasse: Das war Österreich
« on: 30. Mai 2013, 09.43 Uhr »
Hallo!

Ein sprachlich sehr ansprechender Essayband, der die Dummheit und Ignoranz österreichischer Politik auf den Punkt bringt. Österreich ist ja in vieler Hinsicht ein besonderes Land: Eines, das die Ambiguität (Doppelmoral?) als staatstragendes Prinzip einsetzt. Menasse findet dafür eine Unzahl von Beispielen: Die scheinbare, von niemandem anerkannte Neutralität Österreichs (die einen gänzlich anderen Charakter als die der Schweiz hat), das Lavieren zwischen den Blöcken, die Geschichtslüge bezüglich des Zweiten Weltkrieges, in dem Österreich als das erste Opfer Hitlerdeutschlands dargestellt wurde (und großteils wird), überhaupt ein Geschichtsverständnis, das mit dem tatsächlich Land nichts zu tun hat bzw. aus ihm ein historisches Ausstellungsstück der k.k. Monarchie macht. Daneben der eigentümlich Deutschenhass (nebst der Umwerbung derselben als zahlungskräftige Urlauber)- und - über allem - eine verfassungsrechtlich höchst bedenkliche Schattenregierung in Form der Sozialpartnerschaft (die durchaus Verdienste hat, allerdings über Jahrzehnte den Proporz zementierte und dadurch den Aufstieg eines Haiders beschleunigte).

Andererseits findet man als Bewohner eines Landes wohl immer mehr Kritikpunkte als der Außenstehende - dies liegt in der Natur der Sache (bzw. der Nähe). Ein störendes Element: Wenn jemand wie Menasse ernsthaft und ohne Augenzwinkern eine Terminologie verwendet, die das Wort "Überbau" ohn alle Ironie strapaziert, so neige ich dazu, den Autor doch nicht so ganz ernst nehmen zu können. Aber insgesamt bisher sehr lesenswert, weil eine alternative Geschichte Österreichs.

lg

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Offline sandhofer

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Re: Robert Menasse: Das war Österreich
« Reply #1 on: 30. Mai 2013, 10.06 Uhr »
die Geschichtslüge bezüglich des Zweiten Weltkrieges, in dem Österreich als das erste Opfer Hitlerdeutschlands dargestellt wurde (und großteils wird),

Ich erinnere mich, dass mich das bei meinem Studienaufenthalt in Österreich sehr verblüfft hat ...
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Offline orzifar

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Re: Robert Menasse: Das war Österreich
« Reply #2 on: 01. Juni 2013, 01.53 Uhr »
Hallo!

Der Mythos vom "überfallenen" Österreich war konstituierend für den Staat Österreich. Erst durch diesen Trick (den die Russen nur mit Bauchweh akzeptierten) konnte der Staatsvertrag erreicht und eine Teilung (wie in Deutschland) vermieden werden. Diese Geschichtslüge (denn unter den Nazis gab es - auch in führender Postition - überproportional viele Österreicher) wurde schließlich zur offiziellen Lesart. Erst in den später 80igern (nach der Waldheim Affäre) wurde zaghaft eine gewisse Schuld eingestanden, auch dies eigentlich bloß oberflächlich und widerwillig. Im Grunde hat sich an der Haltung der Österreicher nichts geändert, am Zweiten Weltkrieg waren die Deutschen schuld, man wurde da hineingezogen und eigentlich und überhaupt und sowieso ...

Das doppelt Kuriose daran ist die Tatsache, dass es in Österreich auch schon vor Hitler eine austrofaschistische Regierung gegeben hat, eine Zeit, die bis heute nicht ansatzweise aufgearbeitet wurde. War man doch damit beschäftigt, seine Unschuld am Hitler-Faschismus zu beteuern. (Bei der Volksabstimmung stimmten etwa 99 % für Hitler. Das mag sicher auf den Druck durch die Nazis zurückzuführen gewesen sein, aber ein "echtes" Ergebnis von etwa 70 % wäre durchaus drin gewesen. Die Mehrheit war in jedem Fall für den Anschluss, auch Sozialdemokraten (die schon nach dem Ersten Weltkrieg für den Anschluss an Deutschland votierten)).

Also ist der Österreicher vor allem unpolitisch, in Maßen künstlerisch und verwaltet einen kuk Museumsstaat. Und im Winter Schipisten.  :yodel:

lg

orzifar
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Offline sandhofer

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Re: Robert Menasse: Das war Österreich
« Reply #3 on: 01. Juni 2013, 10.27 Uhr »
Hallo!

Ja, der Austro-Faschismus ... "Witttgenstein's Vienna" - zumindest in seiner englischen Fassung - bringt da, wenn ich mich recht erinnere, eine schöne Zusammenfassung.

Grüsse

sandhofer
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Offline orzifar

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Re: Robert Menasse: Das war Österreich
« Reply #4 on: 02. Juni 2013, 17.30 Uhr »
Hallo,

in meiner (deutschen) Ausgabe war davon nichts zu lesen; ich glaube mich aber erinnern zu können, dass die Autoren eine ausführlichere Darstellung dieser Zeit für die englische Leserschaft erwähnt haben, die in der deutschsprachigen Ausgabe fehlt. Für die österreichische Geschichte existiert der Terminus "Austrofaschismus" kaum oder gar nicht, das wird euphemistisch mit "Ständestaat" umschrieben. Das Bildnis Engelbert Dollfuß', des Begründers des Austrofaschismus, hängt in der Klubräumlichkeiten der ÖVP noch heute - als eines respektablen Politikers mit christlich-sozialen Wurzeln. Daran nimmt kaum jemand Anstoß. Da Österreich ein Land der Gemütlichkeit ist, werden auch die hauseigenen Faschisten so dargestellt: Außer sie wandern nach Deutschland aus und machen dort Karriere. Dann aber sind es Deutsche.

lg

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Re: Robert Menasse: Das war Österreich
« Reply #5 on: 03. Juni 2013, 07.34 Uhr »
Hallo!

Dollfuß, den selbst ein Karl Kraus Hitler vorzuziehen müssen glaubte ...

Grüsse

sandhofer
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Offline orzifar

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Re: Robert Menasse: Das war Österreich
« Reply #6 on: 10. Juni 2013, 17.09 Uhr »
Hallo!

Dollfuß, den selbst ein Karl Kraus Hitler vorzuziehen müssen glaubte ...

Hierin würde ich Kraus beipflichten: Das Übel war kleiner. Nichtsdestoweniger war Dollfuß ein Diktator mit nicht wenig Blut an den Händen, der den Österreichern auch eine andere, bis heute andauernde Pest beschert hat: Den Katholizismus, auf dem sein Ständestaat nicht unwesentlich ruhte. Der Großteil der Bestimmungen, die Dollfuß mit dem Vatikan 1934 abgeschlossen hat, sind noch heute in Kraft und machen Österreich zu dem Staat der westlichen Hemisphäre, in dem die katholische Kirche noch immer den größten Einfluss hat.

Menasse schießt teilweise über das Ziel hinaus: Wenn er etwa alle Übelstände (die Entwicklung der - tatsächlich katastrophalen Presselandschaft in Österreich oder den Exodus der Literatur - auf die sozialpartnerschaftlichen Strukturen zurückführt. Oder einfach meint, den Kapitalismus in seinen verwerflichen Strukturen allüberall entdecken zu müssen: Etwa im Pluralismus einer weitgehend marktwirtschaftlich organisierten Welt der Literatur. Oder darin, dass es keine "großen" Konflikte in der österreichischen Nachkriegsliteratur gegeben habe (wobei man "Konflikt" und "groß" in diesem Zusammenhang erst definieren müsste). Das mutet oft ein wenig kindisch-klassenkämpferisch an, da wird allzu viel an Kritikwürdigem in einem Topf zusammengepanscht und ständig die gleiche Ursache für das Übel ausfindig gemacht. Aber die Wurzeln derselben sind komplexer, sie sind nicht nur in Sozialpartnerschaft und marktwirtschaftlicher Organisation zu finden, sondern - vor allem - in der psychischen Verfasstheit des homo sapiens (der im übrigen in Österreich kein anderer ist als auf Feuerland oder Nowaja Semlja).

Vielleicht liegt Menasses Hauptfehler darin, dass er Hegel oder Habermas für große Philosophen hält. Ein weit verbreiteter Irrtum ...

lg

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