Author Topic: Thomas Hardy: Tess  (Read 9108 times)

Offline mombour

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Thomas Hardy: Tess
« on: 21. März 2013, 13.21 Uhr »
Im Unterschied zu früher entstandenen Romanen wie „Am grünen Rand der Welt“ oder „Der Bürgermeister von Casterbridge“ trumpft Thomas Hardy in diesem seinem berühmtesten Roman noch ein mal auf, was die Beschreibung innerseelische Vorgänge betrifft und die Beschreibung landwirtschaftlicher Betriebe. Wie im  „Bürgermeister von Casterbridge“ spielt die zunehmende Industrialisierung eine große Rolle.

Tess wächst als Tochter armer Landarbeiter auf, der Vater ständig betrunken, erfährt, dass sie Nachkommen der adligen Familie der "D'Urbervilles"  sind und erhofft sich daraus Vorteile. Die Familie steht nämlich vor dem wirtschaftlichen Ruin, und Tess wird zur aangeblig adligen Mrs. Mrs. d'Urberville nach Tantridge geschickt, um dort Arbeit aufzunehmen, und macht Bekanntschaft mit ihrem Sohn Alec, der sie verführt und unehelich schändet. Diese Schande lastet auf Tess schwer und treibt ihre spätere Ehe mit Angel Clare auseinander.

Alec d'Urberville ist eine zwielichte Gestalt des Romans, außerdem, so stellt es sich heraus, ist er kein Nachkomme des adligen Geschlechts. Er schändet Tess, erlebt eine Läuterung als Wanderprediger und begehrt Tess wieder sehr hartnäckig, als sie sich später begegnen. Wie in seinem Roman „Der Bürgermeister von Canterbridge“ vertritt Hardy auch hier die These, dass der Mensch seinen Charakter nicht andern kann. Genau hier setzen die Zweifel von Tess an. Sie glaubt nicht an spirituelle Läuterung von Alec. Mit dem Gedanken ihrer Schändung im Hinterkopf heißt es in Kap.45: 

Quote from: Hardy
Je größer der Sünder, desto größer der Heilige- es war nicht nötig, sich tief in die Geschichte des Christentums zu begeben, um dies zu entdecken.
(Kap.45)

 Hardy bezieht sich auf die große Sünde, die Alec ihr angetan hat, und verbindet sie mit einer allgemeinen Kritik des Christentums. Im Kapitel 47 heißt es:

Quote from: Hardy
Sie und Ihresgleihen, ihr frönt sittsam eurem Vergnügen auf Erden, indem ihr das Leben von meinesgleichen bitter und düster vor Kummer und Sorgen macht; und dann, wenn ihr genug davon habt, ist es eine feine Sache, daran zu denken, euch euer Vergnügen im Himmel zu sichern und euch zu bekehren!

Tess ward von Alec geschwängert. Sie fühlt sich als Ausgestoßene. Ihr Kind stirbt und bekommt auf dem Friedhof nur Platz, wo Trunkenbolde, Ungetaufte und Selbstmörder liegen. Als Angel Clare, Sohn eines Geistlichen, Tess heiratet und von ihrer Schande erfährt, lässt er sie sitzen, verlässt das Land um in Brasilien als Landwirt beruflich weiterzukommen.

Im englischen Original heißt der Roman: "Tess of the d'Urbervilles: A Pure Woman Faithfully Presented". Tess „die Reine“ wird den unreinen Männern ,Alec und Clare, gegenübergestellt. Denn auch Clare, der seine Frau verlässt und versucht eine andere Frau mit nach Brasilien zunehmen, ist in seinem Verhalten eine zwielichte Persönlichkeit. Tess, alleine gelassen, verhält sich weiterhin als Ehefrau und geht Komplimenten aus dem Weg. Um bei den Männern nicht aufzufallen, rasiert sie sich die Augenbrauen ab und zieht mit unansehlicher Kleidung umher, deswegen Hardy sie wohl als „rein“ betrachtet. Sie geht der Sünde aus dem Weg.

Werfen wir abschließend einen Blick auf die zunehmende Industralisierung. In Kap. 47 behandelt Hardy ausführlich die Dampfmaschine, eine dampfbetriebene Dreschmaschine. Da es noch nicht so viele Dreschmaschinen gab, wanderte der Maschinist mit der Maschine von Betrieb zu Betrieb. Hardy beschreibt, wie der Mensch in Abhängigkeit zur Maschine gerät:

Quote from: Hardy
Auch diejenigen auf dem Weizenschober, redeten ein wenig aber alle, die an der Maschine schwitzten, einschließlich Tess, konnten ihre Arbeit nicht durch den Austausch vieler Worte erleichtern. Es war die pausenlose Anspannung bei ihrer Arbeit, die tess auf eine so harte probe stellte und sie schließlich wünschen ließ, sie wäre nie nach Flintecomb-Ath gegangen.

Diejenigen die nicht an der Maschine standen konnten Bier oder Tee trinken, sich im Klatsch austauschen, sich den Schweiß abwischen, doch für Tess an der Maschine war das nicht möglich, für sie gab es keine Atempause.

Clare ist der Prototyp eines Karrieristen, der allerdings Opfer der zunehmenden Industrialisierung. In Brasilien ist er krank geworden und kehrt heim, abgemagert bis zum Knochengerüst.

Das Lesepublikum hat es Hardy übel genommen, dass die geschändete Frau als „rein“ bezeichnet wird. Das lief den viktorianischen Vorstellungen konträr. Und dann rächt sie sich auch noch. Im Nachwort der dtv- Ausgabe heißt es, im Vorabdruck in Literaturzeitschriften wurden einige Stellen, die als zu gewagt galten gestrichen. Die Verführung durch Alec wurde in eine Scheinhochzeit verwandelt. Tess' Schwangerschaft und die Geburt des Sohnes fielen der Zensur zum Opfer u. a.m. Dorothee Birke vermutet im Nachwort ein Zähneknirschen Thomas Hardys, was die Änderungen betrifft. Im Nachwort heißt es:

Quote from: Dorothee Birke
„Große Literatur, so schreibt Hardy, könne nur entstehen, wenn es möglich sei, sich über die engen Moralvorstellungen der Hauptleserschaft dieser Instutionen hinwegzusetzen und gerade das Verhältnis  zwischen den Geschlechtern ohne Prüderie und ohne den Blick durch eine rosarote Brille darzustellen.“


Liebe Grüße
mombour
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