Hallo!
Ob und inwieweit antike Denker moderne Erkenntnisse (vor allem wissenschaftlicher Natur) vorweggenommen haben, ist ja eine beliebte Frage. Dazu müsste man erst definieren, was denn unter Wissenschaft zu verstehen ist. Als minimaler Konsens mag eine rationale Erklärungsabsicht von Phänomenen dienen. Die Beobachtung selbst gehörte lange Zeit nicht dazu: Erst in der Neuzeit wird diese für wissenschaftliches Forschen konstituierend.
Damit werden manche, mehr-weniger blind übernommene Urteile des Beginnes von Wissenschaft fragwürdig: Etwa die berühmte, prognostizierte Sonnenfinsternis um 586 v. u. Z. von Thales (z. B. bei R. Taschner). Denn wenn auch Thales selbst durchaus wissenschaftliche Ansätze gezeigt hat, so ist diese Voraussage keineswegs aufgrund rationaler Überlegungen zustande gekommen, sondern einzig durch die Kenntnis der Aufzeichnungen der Babylonier, die ihrerseits auch nicht Wissenschaft betrieben haben: Sie haben in bezug auf astronomische Ereignisse nur aufgezeichnet und versucht, aus diesen Zahlenfolgen Regelmäßigkeiten zu erkennen. Dass das bei astronomischen Fragestellungen gelang, war (für die Babylonier) reiner Zufall, sie versuchten dergleichen auch mit Erdbeben oder anderen Naturkatastrophen und konnten - wenig überraschend - nichts feststellen, was zu einer Prognose geführt hätte.
Bei den Griechen waren ganz im Gegensatz zu diesen rein mathematischen Berechnungen aber auch rationale Überlegungen involviert: Diese mögen zwar oft abenteuerlich klingen, zeugen aber vom Versuch, etwas zu erklären. Wenn nun manche Erklärungen "modern" anmuten (die Atomtheorie Demokrits/Leukipps muss oft dafür herhalten), dann haben diese Lösungen natürlich nichts mit modernen Erkenntnissen zu tun. Sondern sie haben damit zu tun, dass diese Männer die richtigen Fragen stellten (die Antworten - wie etwa die Atomtheorie - waren in wissenschaftlicher Hinsicht (fast) rein zufällig). Es waren etwa die Fragen nach Bewegung, nach dem Kleinsten (die Frage danach, ob die Welt nun diskret oder ein Kontinuum ist, eine Frage, die sich nach wie vor nicht beantworten lässt), nach Ursache und Wirkung. Wenn nun die Schlussfolgerungen und Spekulationen mit heutigen Erkenntnissen übereinstimmen, so ist dies für die Beurteilung dieser Lösungen vollkommen irrelevant: Sie können nur aufgrund ihrer Plausibilität in ihrer damaligen Welt betrachtet werden. Da es damals weder für die eine noch für die andere These irgendwelche Belege gab (einzig - wie gesagt - ihre rationale Integrität ist entscheidend), kann man auch nicht von vorweggenommenen, modernen Forschungsergebnissen sprechen.
Und noch ein Punkt scheint mir wichtig: Die Fragen, die sich diese Naturphilosophen stellten, waren andere (weil durch einen anderen kulturellen Hintergrund bedingt) als jene, die wir uns stellen. Häufig wird etwa Aristoteles in dieser Hinsicht völlig missinterpretiert: Man kann seine Fragen und Antworten nur verstehen, wenn man auch das diesen Fragen zugrunde liegende Weltbild in Betracht zieht. Ein Weltbild, das Aggregatzustände (plus Feuer) für die grundlegenden Elemente hält, fordert gänzlich andere Lösungen als unsere modernen Auffassungen. Inwieweit diese Lösungen brauchbar sind, muss vor diesem Hintergrund beurteilt werden. (Aristoteles als Praktiker wären etwa Bewegungen, wie sie Newton angenommen hat, völlig abstrus und unsinnig erschienen.)
Eines aber haben diese Naturphilosophen sicher nicht getan: Irgendwelche Erkenntnisse vorausgesehen. Aber sie haben überraschend geistreiche und plausible Modelle entworfen von dem, was "die Welt - im innersten zusammen hält". Dass sie sich als ansatzweise auch für unsere Zeit akzeptabel erweisen, ist keine Qualitätskriterium für diese Theorien. (Ganz abgesehen davon, dass etwa die rezente Teilchenphysik und die Atomtheorie der Griechen nichts, aber rein gar nichts miteinander zu tun haben - nur das griechische Wort hat sich erhalten.) Hier wird aus heutiger Sicht ein Verständnis (möglicherweise ein metaphysisch-intuitives) unterstellt, das jeder Grundlage entbehrt.
lg
orzifar