Author Topic: R. Safranski – F. Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus (2004)  (Read 11834 times)

Offline orzifar

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Hallo!

Ich möchte hier kein Safranski-Bashing betreiben, ich lese das Buch durchaus gerne und mit einigem Gewinn, was denn das Leben Schillers anlangt. Aber von einem Buch, das - auch - philosophische Aspekte jener Zeit zu behandeln vorgibt, wünsche ich mir mehr Kritik, mehr Auseinandersetzung, den Mut, persönliche, möglicherweise unpopuläre Ansichten zu äußern. Dabei ist es mir nicht darum zu tun, die eigene Meinung bestätigt zu erhalten, sondern bloß die Haltung des Autors zum Thema in anderen Worten als bloß schablonenhaften Platitüden zu erfahren. (Bei Hochkeppel passiert genau das, ich werde mit Anschauungen, sehr persönlichen Haltungen konfrontiert, die zu einer Auseinandersetzung mit dem Text herausfordern. Ähnlich etwa auch Tolumin (Voraussage und Verstehen), um zwei kürzlich gelesene Bücher als Vergleich heranzuziehen: Ich bin mit nur wenigen von Toulmins Thesen einverstanden, aber sie fordern den Leser zur Formulierung seiner eigenen Meinung heraus. Bei Safranski fehlt all das: Für den puren Informationsgehalt des Buches bin ich ihm dankbar, seine Stellungnahmen zum Thema (etwa des Idealismus) sind nichtssagend und belanglos, sie beschränken sich entweder auf enzyklopädisches Referieren oder aber sind bloße Leerformeln).

Das macht nun ein Buch nicht schlecht, aber es fehlt eben genau das, was (für mich) ein Buch zu einem wirklich lesenswerten macht.

lg

orzifar
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Offline orzifar

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Hallo!

Bin nun bis zur inkriminierten Stelle des "eines der großen Prosa-Ereignisse der deutschen Sprache" vorgedrungen - wobei Safranski noch einen Beispielsatz zitiert: "In der glücklichen Muße des Wohlstands verläßt es [das niederländische Volk] der Bedürfnisse ängstlichen Kreis und lernt nach höherer Befriedigung dürsten." Hier kann ich nur festhalten, dass der Geschmäcker viele und unterschiedliche sind und der Schreiber dieser Zeilen jene des Autors offenbar nicht teilt ...

Aber eine immer noch höchst routinierte, sehr lesbare Darstellung, die, wie auch aus obigen Absatz ersichtlich, ein wenig unter mangelnder Distanz zum "Erfinder des deutschen Idealismus" leidet: Wenngleich ich leicht amüsiert feststellen musstee, dass selbst Safranski sich "Kabale und Liebe" nicht schönsaufen konnte. Das bleibt ein Rührstück eines jungen Mannes, der die Liebeserfahrungen 16jähriger Jünglinge in Sprache zu fassen sucht. Warum derlei für literarische Erbauungszwecke wenig geeignet ist, kann jeder selbst aus eigenen Briefen oder Tagebucheintragungen entnehmen, die mit einem - zumeist ähnlichen - Vokabular operieren: Von Ewigkeit ist gerne die Rede, von Himmeln und Höllen, die da einer durchlebt, die aber, wenn sie aus dem spezifisch pubertären Bereich herausgehoben ins allgemein Menschliche transferiert werden, denn doch zum Lächeln Anlass geben. (Auf einer Metaebene behandelt kann das Literatur sein. Dann aber schreibt eben nicht der 16jährige, sondern ein Erwachsener in Metaposition. Bei Schiller ist ganz offenbar der von seinen Hormonen drangsalierte Jüngling am Werk.) Und auch die Gesellschaftskritik des Stückes bleibt den gängigen Klischees verhaftet: Wie in einem Italowestern (nur leider ohne dessen Ironie) weiß man alsbald, wo Gut und Böse zu finden sind.

lg

orzifar
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Offline sandhofer

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Bin nun bis zur inkriminierten Stelle des "eines der großen Prosa-Ereignisse der deutschen Sprache" vorgedrungen - wobei Safranski noch einen Beispielsatz zitiert: "In der glücklichen Muße des Wohlstands verläßt es [das niederländische Volk] der Bedürfnisse ängstlichen Kreis und lernt nach höherer Befriedigung dürsten." Hier kann ich nur festhalten, dass der Geschmäcker viele und unterschiedliche sind und der Schreiber dieser Zeilen jene des Autors offenbar nicht teilt ...

 ;D
Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

Offline Gontscharow

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..."In der glücklichen Muße des Wohlstands verläßt es [das niederländische Volk] der Bedürfnisse ängstlichen Kreis und lernt nach höherer Befriedigung dürsten." Hier kann ich nur festhalten, dass der Geschmäcker viele und unterschiedliche sind und der Schreiber dieser Zeilen jene des Autors offenbar nicht teilt ...

 ;D

Was gibt’s da zu grinsen?  ;D Das ist doch nichts anderes als das in diesem Forum viel, gern und mit Zustimmung zitierte: Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral , nur eben  im elaborierten Code der Weimarer Klassik statt in der elaborierten Schnoddrigkeit Brechts.
Noch 1793 an den durchlauchtigsten Prinzen von Augustenburg formuliert Schiller diesen Gedanken - freilich  nicht mehr ganz so so blumicht wie im Abfall der Niederlande von1788:
 
Erst muß der Geist vom Joch der Nothwendigkeit losgespannt werden, ehe man ihn zur Vernunftfreiheit führen kann […]. Der Mensch ist noch sehr wenig, wenn er warm wohnt und sich satt gegessen hat, aber er muß warm wohnen und satt zu essen haben, wenn sich die bessere Natur in ihm regen soll.(Augustenburger Brief vom 11.11.1793)

Das ist doch 1A!
 
Safranski, der Adorno-Schüler, der über Arbeiterliteratur promoviert hat ::), trifft mit seiner- ich möchte  fast sagen -  liebevollen (Wieder-) Annäherung an Schiller bei mir genau ins Schwarze. Sein Versuch, Schiller ein wenig zu popularisieren, wie Sir Thomas treffend bemerkt, ist (jedenfalls in meinem Fall) gelungen. Nicht mehr und nicht weniger.
Ich kann übrigens auch gut verstehen, dass Safranski im Anschluss an dieses Buch Lust verspürt hat, sich mit der Goethe&Schiller-Freundschaft zu beschäftigen unter dem wunderbaren Motto (Ist es nun von Goethe oder von Schiller?): Dem Vortrefflichen gegenüber gibt es keine Freiheit als die Liebe.
Mit das Beste, was die beiden zustande gebracht haben!

Offline Sir Thomas

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Ist es nun von Goethe oder von Schiller?: Dem Vortrefflichen gegenüber gibt es keine Freiheit als die Liebe.

Das ist von Schiller. Ganz sicher. Das Bonmot fällt zu dem Zeitpunkt, da Schiller Goethes (angebliche) Überlegenheit zu akzeptieren beginnt.

Offline sandhofer

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Was gibt’s da zu grinsen?  ;D 

Es ging mir - und ich habe (vielleicht fälschlich) angenommen, auch orzifar - um Schillers Stil, nicht um seine Inhalte ... Ich nahm an, dass orzifar so wenig wie ich, aber im Gegensatz zu Safranski, Schiller als grossen Prosa-Autor sehen kann.
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Offline orzifar

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..."In der glücklichen Muße des Wohlstands verläßt es [das niederländische Volk] der Bedürfnisse ängstlichen Kreis und lernt nach höherer Befriedigung dürsten." Hier kann ich nur festhalten, dass der Geschmäcker viele und unterschiedliche sind und der Schreiber dieser Zeilen jene des Autors offenbar nicht teilt ...

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Was gibt’s da zu grinsen?  ;D Das ist doch nichts anderes als das in diesem Forum viel, gern und mit Zustimmung zitierte: Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral , nur eben  im elaborierten Code der Weimarer Klassik statt in der elaborierten Schnoddrigkeit Brechts.
Noch 1793 an den durchlauchtigsten Prinzen von Augustenburg formuliert Schiller diesen Gedanken - freilich  nicht mehr ganz so so blumicht wie im Abfall der Niederlande von1788:
 
Erst muß der Geist vom Joch der Nothwendigkeit losgespannt werden, ehe man ihn zur Vernunftfreiheit führen kann […]. Der Mensch ist noch sehr wenig, wenn er warm wohnt und sich satt gegessen hat, aber er muß warm wohnen und satt zu essen haben, wenn sich die bessere Natur in ihm regen soll.(Augustenburger Brief vom 11.11.1793)

Das ist doch 1A!

Dieses Zitat aus dem Safranski-Buch steht dort als ein Beispiel - beispielloser - Prosa; in dem Sinne, dass derlei in ästhetischer Hinsicht seinesgleichen suche in der Literatur deutscher Zunge - und als solches Beispiel wurde es auch von mir zitiert. Woran sich die Bemerkung anschloss, dass der Geschmäcker mehr sind unter dem weiten Himmelsrund.

Von der inhaltlichen Bedeutung des Satzes war nirgendwo die Rede, weder hier noch im Safranski.

lg

orzifar
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Offline Gontscharow

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Ist es nun von Goethe oder von Schiller?: Dem Vortrefflichen gegenüber gibt es keine Freiheit als die Liebe.

Das ist von Schiller. Ganz sicher. Das Bonmot fällt zu dem Zeitpunkt, da Schiller Goethes (angebliche) Überlegenheit zu akzeptieren beginnt.

Ja, und ich dachte immer, es sei von Goethe - allerdings in folgender Version: Gegen große Vorzüge des anderen gibt es kein anderes Rettungsmittel als die Liebe. Dass man ein Rettungsmittel dagegen brauche und dass es eins gibt, fand ich witzig und psychologisch fein bemerkt…Ich hab jetzt den Satz gegoogelt. Er ist von Goethe aus den Wahlverwandtschaften.
Ich glaube wirklich, das war das Geheimnis der Freundschaft dieser beiden vorzüg- oder-vortrefflichen Männer und wenn man bedenkt, wie sie zu Missgunst und Eifersucht neigten, muss ihre Liebe enorm gewesen sein!

Offline Sir Thomas

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Ist es nun von Goethe oder von Schiller?: Dem Vortrefflichen gegenüber gibt es keine Freiheit als die Liebe.

Das ist von Schiller. Ganz sicher. Das Bonmot fällt zu dem Zeitpunkt, da Schiller Goethes (angebliche) Überlegenheit zu akzeptieren beginnt.

Ja, und ich dachte immer, es sei von Goethe - allerdings in folgender Version: Gegen große Vorzüge des anderen gibt es kein anderes Rettungsmittel als die Liebe. Dass man ein Rettungsmittel dagegen brauche und dass es eins gibt, fand ich witzig und psychologisch fein bemerkt…Ich hab jetzt den Satz gegoogelt. Er ist von Goethe aus den Wahlverwandtschaften.
Ich glaube wirklich, das war das Geheimnis der Freundschaft dieser beiden vorzüg- oder-vortrefflichen Männer und wenn man bedenkt, wie sie zu Missgunst und Eifersucht neigten, muss ihre Liebe enorm gewesen sein!

Ich habe nachgeschlagen. Der Satz taucht zuerst in einem Brief Schillers an Goethe auf (2. Juli 1796) und bezog sich auf den Wilhelm Meister, an dessen Entstehung Goethe seinen Freund teilnehmen ließ. G. hat ihn später abgewandelt für die Wahlverwandtschaften.

Offline Gontscharow

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Dieses Zitat aus dem Safranski-Buch steht dort als ein Beispiel - beispielloser - Prosa; in dem Sinne, dass derlei in ästhetischer Hinsicht seinesgleichen suche in der Literatur deutscher Zunge - und als solches Beispiel wurde es auch von mir zitiert.

Es steht eigentlich nur dort, weil Safranski zeigen möchte, dass Schiller  sein Gefühl für Rhythmus aus den Versen des Don Karlos hinübergenommen(hat) in die Prosa. Deshalb die Aufforderung, den Satz laut zu lesen: Man bemerkt es, wenn man Sätze wie den folgenden über das niederländische Volk laut liest: "In der glücklichen Muße… "
Ansonsten zitiert Safranski, was Schiller selbst als Vorzüge seiner Schrift aufzählt: den Eselsfleiß bei der Quellenauswertung, die klare Auseinandersetzung der wirkenden Geschichtsmächte und die philosophische Darstellung. Das alles mache  die „auszeichnenden Merkmale der Schillerschen Geschichtsschreibung“ aus und er erläutert das noch im einzelnen. Als eins der großen Prosa-Ereignisse bezeichnet Safranski den Abfall der Niederlande, weil es diese Art der Geschichtsschreibung bislang in Deutschland nicht gegeben habe und vor allem auch, weil das Werk ähnlich wie die Geschichts-Antrittsvorlesung ein enormer Publikumserfolg war. Ob der Abfall mit Fug und  Recht ein Prosa-Ereignis zu nennen ist, kann ich nicht beurteilen, weil ich die Schrift nicht gelesen habe. Was die Neuheit und den Erfolg betrifft, so muss ich mich auf Safranskis Recherchen verlassen. Das Stichwort Prosa-Ereignis fiel meinerseits überhaupt nur, um meine durch Safranski geweckten  hohen Erwartungen bzw. die tiefe Enttäuschung bezüglich Schillers Geschichts-Horenbeitrags Merkwürdige Belagerung… zu erklären. Ob Safranski Schiller über den Abfall hinaus für einen großen Prosaisten hält, geht aus seinem Buch (bislang) nicht hervor. Zwar schildert er den Geisterseher - wie es seine Art ist- überaus interessant , ja geradezu spannend, so dass ich schon drauf und dran war, ihn mir zu Gemüte zu führen. Ob er aber qua Prosa höchsten Ansprüchen genügt, wird nicht gesagt … Schiller hat ja auch eher wenig Episches geschrieben. Ich kenne überhaupt nur den Verbrecher aus verlorener Ehre, und die Lektüre liegt lange zurück.

Was besagten Satz betrifft, so kann ich Safranski recht geben, er könnte aus Don Karlos sein (den ich erst vor kurzem wiedergelesen habe :angel:). Wie gesagt, stilistisch rhetorisch „elaboriert“ - ein starker Gedanke,  in geschliffene Form gebracht! Keiner, schon gar nicht Safranski, verlangt, dass man das mögen soll und deshalb besteht auch kein Anlass, abfällig bzw. beifällig zu grinsen.  ;D

Offline Gontscharow

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Ist es nun von Goethe oder von Schiller?: Dem Vortrefflichen gegenüber gibt es keine Freiheit als die Liebe.

Das ist von Schiller. Ganz sicher. Das Bonmot fällt zu dem Zeitpunkt, da Schiller Goethes (angebliche) Überlegenheit zu akzeptieren beginnt.

Ja, und ich dachte immer, es sei von Goethe - allerdings in folgender Version: Gegen große Vorzüge des anderen gibt es kein Rettungsmittel als die Liebe. Dass man ein Rettungsmittel dagegen brauche und dass es eins gibt, fand ich witzig und psychologisch fein bemerkt…Ich hab jetzt den Satz gegoogelt. Er ist von Goethe aus den Wahlverwandtschaften.
Ich glaube wirklich, das war das Geheimnis der Freundschaft dieser beiden vorzüg- oder-vortrefflichen Männer und wenn man bedenkt, wie sie zu Missgunst und Eifersucht neigten, muss ihre Liebe enorm gewesen sein!

Ich habe nachgeschlagen. Der Satz taucht zuerst in einem Brief Schillers an Goethe auf (2. Juli 1796) und bezog sich auf den Wilhelm Meister, an dessen Entstehung Goethe seinen Freund teilnehmen ließ. G. hat ihn später abgewandelt für die Wahlverwandtschaften.

Danke, Tom, nun wissen wir es genau!
Spiegelt sich in diesen unterschiedlichen Versionen ein und desselben Gedankens nicht auch aufs Feinste das unterschiedliche Narurell unserer Klassiker wider?

Offline Sir Thomas

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Spiegelt sich in diesen unterschiedlichen Versionen ein und desselben Gedankens nicht auch aufs Feinste das unterschiedliche Narurell unserer Klassiker wider?

Dass Schiller mit der Formulierung Dem Vortrefflichen gegenüber ... nicht zwingend eine Person, sondern auch ein herausragendes Arbeitsergebnis o.ä. meinen könnte, während Goethe ausdrücklich die Vorzüge einer anderen Person anspricht, ist unschwer zu erkennen. Was aber meinst Du mit Widerspiegelung des unterschiedlichen Naturells? Dass Schiller der etwas "kältere" der beiden war?

Offline Gontscharow

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Was aber meinst Du ....?

Bitte, sich zu gedulden! Bin für zwei Tage verreist. Danach geht's hier weiter und endlich auch mit den Elegien!
 :hi:

Offline orzifar

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Dieses Zitat aus dem Safranski-Buch steht dort als ein Beispiel - beispielloser - Prosa; in dem Sinne, dass derlei in ästhetischer Hinsicht seinesgleichen suche in der Literatur deutscher Zunge - und als solches Beispiel wurde es auch von mir zitiert.

Es steht eigentlich nur dort, weil Safranski zeigen möchte, dass Schiller  sein Gefühl für Rhythmus aus den Versen des Don Karlos hinübergenommen(hat) in die Prosa. Deshalb die Aufforderung, den Satz laut zu lesen.

...

Was besagten Satz betrifft, so kann ich Safranski recht geben, er könnte aus Don Karlos sein (den ich erst vor kurzem wiedergelesen habe :angel:). Wie gesagt, stilistisch rhetorisch „elaboriert“ - ein starker Gedanke,  in geschliffene Form gebracht! Keiner, schon gar nicht Safranski, verlangt, dass man das mögen soll und deshalb besteht auch kein Anlass, abfällig bzw. beifällig zu grinsen.  ;D

Letzter Kommentar zum Thema: Der Satz wird gefolgt von Safranskis Feststellung: "Es ist nicht übertrieben, wenn man den "Abfall der Niederlande" als eines der großen Prosa-Ereignisse in deutscher Sprache bezeichnet." Das zu behaupten steht ihm frei, mir drängte sich die Feststellung auf, dass ich mit dieser Behauptung nicht übereinstimme. Im Gegenteil: Der Beispielsatz ist ganz genau das, was ich in der Geschichtsschreibung nicht zu finden wünsche, er ist pathetisch und gefühlsduselig. Safranski gefällt's, mir nicht. Und Sandhofer hat - wenn ich mir erlauben darf, meinen Administratorkollegen zu interpretieren, deshalb dazu "gegrinst", weil auch er es offenbar für übertrieben hält, so etwas für eines "der großen Prosaereignisse" zu halten.

Im übrigen scheint mir die kurze Darstellung der Fichteschen Philosophie gelungen. Eine - wenn auch komprimierte, so doch geglückte Zusammenfassung.

Nun quält er mich schon eine Zeitlang mit der ihn offenbar begeisternden ästhetischen Theorie Schillers (die ich - wie eigentliche jede Ästhetik - für ein Produkt absoluter Beliebigkeit halte). Wenn etwa Schiller die Freiheit als für die ästhetischen Bestrebungen konstituierend betrachtet, die Kunst als eine Emanation dieser Freiheit ansieht, so kann man selbstverständlich mit Fug und Recht das Gegenteil behaupten, indem man feststellt, dass Kunst in eben der Beschränkung der naturgegebenen Freiheit besteht (Freiheit hier nicht im politischen Sinne verstanden), Kunst als Beschneidung, Sublimierung der Natur, Kunst als Beschränkung von Wildwuchs usf. (Das ist genau so auch schon vertreten worden.) Ich sage nicht, dass ich dem einen oder anderen zustimme, sondern nur, dass alle diese Versuche, Ästhetik, Kunst, Schönheit zu um- und beschreiben, hoffnungslos sind. Sie mögen für den einzelnen im Augenblick richtig sein, beim ersten Lesen eine Zustimmung erwecken, halten aber einer Kritik nie stand. Spätestens in dem Augenblick, in dem sie zur Theorie werden, Anspruch auf größere, gar allgemeine Gültigkeit erheben wollen, scheitern sie kläglich. Die Begriffe sind unklar (Anmut, Würde, "energische" Schönheit), die Zusammenführungen ermangeln der Stringenz und letzten Endes weiß man eigentlich nie, wozu dies alles gut ist: Alle diese Theorie werden angesichts von Kunstwerken, Bildern, Symphonien, Dichtungen obsolet, keine ästethische Theorie (wie dass der Künstler den Stoff entsprechend diesem Stoff formen solle) erschließt irgendetwas von der Schönheit der Goetheschen Lyrik oder einer Beethovensonate. Oder das Schillerschen Diktum, dass "schön ist, wenn es, ohne seinem Begriff zu widersprechen, einen freien Spiel der Natur gleichsieht (...)": So kann ich darunter alles und nichts subsummieren.

"Die große Idee der Selbstbestimmung strahlt uns aus gewissen Erscheinungen der Natur zurück, und diese nennen wir Schönheit." Soso. Tut es das? Welche Erscheinungen sind es denn, die da strahlen (und mir, der ich heute den ganzen Tag in der Natur verbracht habe, wurde nicht das mindeste Strahlen zuteil) - und welche Teile strahlen denn nun nicht Selbstbestimmung aus? Und wer entscheidet das - und was hat das alles mit Schönheit zu tun? Alles und nichts. Das sind Leerformeln, die demjenigen, der sie gerade niederschreibt, einleuchtend erscheinen, vielleicht auch dem Leser, die aber einer eingehenden Reflexion nicht standhalten, weil sie verschwommen und bodenlos sind und im Grunde nur das subjektive Empfinden eines Einzelnen beschreiben.

Safranski referiert das alles, ohne kritische Anmerkungen, im Stile eines Enzyklopädisten. Insofern fehlt mir bei diesem Buch ständig die tatsächliche Auseinandersetzung mit den Themen, nirgendwo wird der Versuch unternommen zu beschreiben, warum denn diese Theorie nun treffend oder unzureichend ist, was sie von anderen unterscheidet, wo ihre Probleme liegen. Das Ganze ist - wie schon im Eingangsposting erwähnt - eine biedere Darstellung der Schillerschen, idealistischen Gedankenwelt, die sich nirgendwo - weder in positivem noch negativem Sinn - in Frage stellt.

lg

orzifar
« Last Edit: 19. Juni 2013, 15.29 Uhr by orzifar »
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Spiegelt sich in diesen unterschiedlichen Versionen ein und desselben Gedankens nicht auch aufs Feinste das unterschiedliche Narurell unserer Klassiker wider?

 Was aber meinst Du mit Widerspiegelung des unterschiedlichen Naturells?

Goethe: Gegen große Vorzüge des anderen gibt es kein Rettungsmittel als die Liebe. Schiller:Dem Vortrefflichen gegenüber gibt es keine Freiheit als die Liebe.
 
Zwar glaub ich mit Goethe: Wer’s nicht fühlt, der wird es nicht erjagen ;D, aber ich will versuchen, die“mentalen“ Unterschiede zu benennnen, wie sie sich mir in der unterschiedlichen Formulierung und Akzentsetzung darstellen:
Goethe: konkreter, realistischer, konzilianter in der Beurteilung der menschlichen Natur, des allzu Menschlichen, zutiefst überzeugt, dass, wie es ist, es im Endeffekt gut sei, kommunikativer, den Menschen in Beziehung zu anderen sehend,  synthetisches Denken...
Schiller: abstrakter, trockener, rigider, das Leben eher als Anstrengung  und Kampf auffassend, den Menschen an und für sich betrachtend, antagonistisches Denken..