Author Topic: Die Horen eine Monatsschrift, von einer Gesellschaft verfaßt und hg. v. Schiller  (Read 255705 times)

Offline Gontscharow

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Dem soll die angeschlossene Ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts dann eben steuern.
Ja.  ;)

Die  neun  ersten Briefe zur Ästhetischen Erziehung des Menschen im ersten Heft der Horen sind gelesen. Das Gute daran: Die Ankündigung Fortsetzung folgt empfinde ich nicht als Drohung.  Im Gegenteil: Zunächst ein bisschen trocken und theoretisch, steigerte sich die Lesbarkeit und das ganze brach ab, als es anfing, richtig spannend zu werden. Gutes timing! ;D Ich mag  Schillers Denken in antagonistischen Begriffspaaren wie Notwendigkeit - Freiheit,  Individuum - Gattung, Zerstückelung - Totalität, Willkür - Gesetz usw. Auch hier, in seinem theoretischen Text, erweist er sich somit als das, was er wohl vor allem ist: als Dramatiker!
Schillers Theorie in Kürze: Der zeitgenössische Mensch ist von Natur und Kultur gleichweit entfernt, auf der einen Seite verroht, auf der anderen in seinen Fähigkeiten überspezialisiert, zerstückelt, letztlich entfremdet von der „Totalität“ des menschlichen Seins, von Universalität und Humanität. Schiller stellt interessante Fragen wie: Das Zeitalter ist aufgeklärt... - woran liegt es, dass wir noch immer Barbaren sind?( S.40) Das Therapeutikum gegen all diese Gebresten und Mittel zur „Veredelung des Charakters“: das Schöne, die Kunst... Ich bin gespannt!

Walk in beauty! :teufel:

Offline Sir Thomas

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... Briefe zur Ästhetischen Erziehung des Menschen ... Auch hier, in seinem theoretischen Text, erweist er sich somit als das, was er wohl vor allem ist: als Dramatiker!

Den Dramatiker Schiller habe ich nie so recht gemocht: Zu schablonenhaft die Figuren, zu pathetisch das Gesülze etc. Einzige Ausnahme: Wallenstein.

Die theoretischen Schriften (v.a. "Die ästhetische Erziehung" sowie "Naive und sentimentalische Dichtung") gehören hingegen für mich zum Schönsten und Besten der deutschsprachigen Essayistik.

Walk in beauty! :teufel:

Sehr treffend!   

Offline Gontscharow

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Quote from: Autor: Sir Thomas« am: Heute um 19:02 »
Den Dramatiker Schiller habe ich nie so recht gemocht: Zu schablonenhaft die Figuren, zu pathetisch das Gesülze etc.

Ja, das ist die landläufige Meinung und im Grunde teile ich sie auch. Aber denk an Don Carlos: Sire, geben Sie Gedankenfreiheit! Noch im 2o.Jahrhundert löste das Ovationen aus. Schiller mit seiner (vielleicht naiven) Vorstellung von der Bühne als moralischer Anstalt und Instrument der Aufklärung hat unsere Vorstellung vom Theater nachhaltigst geprägt. Und er ist ein Meister des geschliffenen Dialogs, bis in seine Balladen und theoretischen Schriften hinein, ein dramatischer Feuerkopf!
Außerdem, ohne ihn hätten wir die wunderbaren Parodien nicht: Wo rohe Kräfte sinnlos walten, da kann kein Knopf die Hose halten … Kennst du die Theaterbesprechungen von Jürgen von Manger, z.B. von Wilhelm Tell?

Quote from: Autor: Sir Thomas« am: Heute um 19:02 »
Die theoretischen Schriften (v.a. "Die ästhetische Erziehung" sowie "Naive und sentimentalische Dichtung") gehören hingegen für mich zum Schönsten und Besten der deutschsprachigen Essayistik.

Dann bin ich gespannt, was Du zur Ästhetischen Erziehung sagst. ;)

Offline Sir Thomas

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Kennst du die Theaterbesprechungen von Jürgen von Manger, z.B. von Wilhelm Tell?

Nein.

Dann bin ich gespannt, was Du zur Ästhetischen Erziehung sagst. ;)

Ich las den Text zufällig erst vor rund drei Monaten und ringe deshalb mit mir, ob eine Wiederholung nach so kurzer Zeit angemessen ist. Wahrscheinlich werde ich eher aus der Erinnerung bzw. aus einigen wenigen Notizen heraus mitreden. 

Offline Sir Thomas

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Was lässt sich zur "Ästhetischen Erziehung" sagen?

Vielleicht beginnen wir mit den grundsätzlichen Aussagen Schillers:

1. Es ist die Aufgabe der Kultur, den Menschen ästhetisch zu machen, weil nur aus dem ästhetischen Zustand sich der moralische entwickeln kann.

2. Schönheit erzieht zur Freiheit von Leidenschaften. Deshalb gelangt der Mensch durch die Schönheit zu Freiheit und Vernunft.

Und nun das Stärkste:
3. Gleichgültigkeit gegen die Realität und Interesse an Spiel und Schein sind Erweiterungen des Menschseins und ein entscheidender Schritt zur Kultur.

Punkt 1) hängt natürlich mit der Idee zusammen, dass eine Menschheit, die schön, hoch und vornehm von sich denkt, ebenso schöne und moralisch hochwertige Taten vollbringt. Ob das stimmt, ist schwer zu entscheiden. Faszinierend ist dieser Gedanke allemal, zumal für Menschen, die pädagogisch tätig sind.

Punkt 2) Schon Wieland hat sich immer wieder lustig gemacht über die Leidenschaft erzeugenden, zutiefst verlogenen Romane seiner einerseits empfindsamen, andererseits stürmenden und drängenden Zeitgenossen. Ruhige Abgeklärtheit ist offensichtlich auch für Schiller ein anzustrebendes menschliches Ideal. Ich finde diesen Gedanken recht sympathisch.

Punkt 3) Die Vernachlässigung der schnöden Realität zugunsten des schönen Scheins (der Kunst, des Theaters) sowie der Gedanke der künstlerischen Tätigkeit nicht nur als Befreiung, sondern als eigentliche Bestimmung des Menschen, ist die schöne Kampfansage gegen die Vernünftelei der Jakobiner und anderer extremer Anhänger des aufklärerischen Fortschrittsglaubens. Nach Schiller dauerte es ein knappes Jahrhundert, ehe erneut jemand ähnliche Gedanken äußerte: Fr. Nietzsche.

Es steckt also eine Menge Zündstoff in der "ästhetischen Erziehung".

Offline sandhofer

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Ich habe erst die Briefe 1 und 2 gelesen, die ja noch rein einführender Natur sind, und wo Schiller damit kokettiert, dass diese Briefe eben nicht reine theoretische Schriften eines Theoretikers für sich und die Welt (also für alle und niemand) sind, sondern "echte" Briefe. (Impliziert wohl, dass da auch eine "echte" Wirkung erwartet wurde, d.h., dass da ein Regierender den Inhalt der Briefe in praxi anwenden würde auf sein Volk.)
Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

Offline sandhofer

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In Brief 3 nimmt Schiller eine explizite Gegenposition zu Rousseau ein:

Kein Contrat Social, sondern der Mensch "kommt zu sich aus seinem sinnlichen Schlummer, erkennt sich als Mensch, blickt um sich her, und befindet sich - in dem Staate." Auch ist der natürliche Charakter des Menschen keineswegs edel und gut, sondern "selbstsüchtig und gewaltthätig".

Höchste Zeit demnach, dass hier was getan wird.  >:D
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Offline Gontscharow

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Danke, Tom, dass du Deine Unterlagen bemüht hast. Deine Ausführungen beziehen sich auf die gesamte Ästhetische Erziehung des Menschen, oder? Meine nur auf die im 1. Heft der Horen veröffentlichten ersten neun Briefe (etwa ein Drittel), denn ich halte es wie Sandhofer und lese die Horen

 
Quote from:  sandhofer
...wie sie im Grunde genommen beim Erscheinen gelesen worden sein müssen. Ausgabe um Ausgabe. Heft um Heft. Text um Text.

Wenn man die Sicht der damaligen Rezipienten einnimmt, darf mMn nicht unerwähnt bleiben, dass die ÄE allen Politikverzichtsäußerungen zum Trotz sehr viel mit der französischen Revolution zu tun hat, bzw. eine Reaktion auf sie ist. Den Rezipienten war das wohl bewusst. Sie wussten, dass Schiller vom Nationalkonvent zum citoyen ernannt worden war (Suite à la représentation parisienne d’une adaptation des Brigands (Die Räuber) au Théâtre du Marais en 1792, Schiller passe en France pour un partisan de la Révolution, ce qui lui vaut d’être nommé citoyen français par la Convention nationale) Und wohl auch , dass er nach  der Guillotinierung Ludwigs des XVI (zu Schillers geplanter Reise nach Paris und Rede vor dem Nationalkonvent kam es  nicht mehr) sich endgültig angeekelt von der Revolution abgewendet hatte.  Im Bewusstsein der gescheiterten Revolution entwickelt er sein ästhetisches Konzept als"Gegenmittel". In den (angeblich verbrannten) Augustenburger Briefen an seinen dänischen Mäzen, der Vorgängerschrift der ÄE, ist das Thema frz. Revolution noch deutlicher  angesprochen. Doch schon im zweiten Brief der ÄE gibt Schiller als Sinn und Zweck der ästhetischen Erziehung  an, dass man um jenes politische Problem in der Erfahrung zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen muss, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert. Also so etwas wie: Make art, not revolution!

Offline sandhofer

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Um nochmals darauf zurückzukommen:

Den Dramatiker Schiller habe ich nie so recht gemocht: Zu schablonenhaft die Figuren, zu pathetisch das Gesülze etc. Einzige Ausnahme: Wallenstein.

Ich halte Schillers Dramen für bedeutend - und für bedeutend komplexer:

"Hinter Schillers Sentenzen, über die sich heute jeder Theaterkritiker reflexartig lustig macht, steht das Vertrauen, dass die geformte Sprache die Wahrheit unzweideutig transportieren könne und dass die Arbeit an der Form auch Arbeit an der Wahrheit selber sei. Wer das komisch findet, schreibe doch mal einen Satz, der zum geflügelten Wort wird."

Und:

"Das Wunder ist die Form. Obwohl bereits von der Todeskrankheit gezeichnet, schafft Schiller mit dem Tell die großartigste szenische Komposition der deutschen Literatur. Wie er die einzelnen Handlungsstränge trennt und verflicht, sie frei laufen lässt und wieder zusammenführt, das hat keienr neben und nach ihm je erreicht. Nur bei Shakespeare gibt es das [...]"

Beide Zitate sind aus Peter von Matt: Drei Perspektiven auf Schillers Tell. In: Ders.: Das Kalb vor der Gotthardpost. München: Hanser, 2012.

Ich kann von Matt nur zustimmen.  :yodel:
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Offline orzifar

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"Hinter Schillers Sentenzen, über die sich heute jeder Theaterkritiker reflexartig lustig macht, steht das Vertrauen, dass die geformte Sprache die Wahrheit unzweideutig transportieren könne und dass die Arbeit an der Form auch Arbeit an der Wahrheit selber sei. Wer das komisch findet, schreibe doch mal einen Satz, der zum geflügelten Wort wird."

Was ist denn das für eine sonderbare Aussage?? Zum einen muss ich mit niemanden in einen Reimwettbewerb treten, um ihm die Seichtheit der eigenen Produktion nachzuweisen, zum anderen: Was wäre, wenn ich denn nun ein geflügeltes Wort zustande brächte? Bzw.: Was hätte das mit der vorhandenen oder nicht vorhandenen Qualität der Schillerschen Produktionen zu tun? Einfach rein gar nichts. (Erinnert alles ein bisschen an den abgestandenen Vergleich, dass auch der einfach gestrickte Gaumen zu erkennen imstande ist, wenn dem 5-Sterne-Koch das Salzfass in die Suppe fiel. Und um Coelho zu kritisieren muss ich auch nicht erst mal eine Esoterikschmonzette schreiben.)

Oder verkürzt: Der von Matt behauptete Zusammenhang zwischen der orzifarschen Fähigkeit zur Erstellung von "geflügelten Wörtern" und der Qualität Schillerscher Bühnenwerke besteht mitnichten.

Wobei ich mit obigen nichts gegen Schiller gesagt haben will, sondern bloß die obskure Mattsche Aufforderung im Auge habe. Die, wie erwähnt, ob erfüllt oder nichterfüllt, in keinerlei Bezug zum Schreiben Schillers gesetzt werden kann.

lg

orzifar


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Offline Gontscharow

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"Hinter Schillers Sentenzen, über die sich heute jeder Theaterkritiker reflexartig lustig macht, steht das Vertrauen, dass die geformte Sprache die Wahrheit unzweideutig transportieren könne und dass die Arbeit an der Form auch Arbeit an der Wahrheit selber sei. Wer das komisch findet, schreibe doch mal einen Satz, der zum geflügelten Wort wird."
Was ist denn das für eine sonderbare Aussage?? Zum einen muss ich mit niemanden in einen Reimwettbewerb treten, um ihm die Seichtheit der eigenen Produktion nachzuweisen, zum anderen: Was wäre, wenn ich denn nun ein geflügeltes Wort zustande brächte?


Da spricht mir orzifar aus der Seele! Das  ist eins jener Totschlag-Argumente, die den Diskussionspartner zum Schweigen bringen sollen, hinten und vorne nicht stimmen und dem, der verteidigt werden soll, keinen Dienst erweisen...
Aber der Satz davor...
 
Quote from:  v. Matt
"Hinter Schillers Sentenzen... steht das Vertrauen, dass die geformte Sprache die Wahrheit unzweideutig transportieren könne und dass die Arbeit an der Form auch Arbeit an der Wahrheit selber sei.

 ...ist sehr gut und treffend! V. Matt beschreibt wunderbar die Eigenart Schillerscher Sprachkunst … und gleichzeitig den Grund, warum es bei ihm vom Sublimen zum Lächerlichen nur ein Schritt ist und Parodien so wohlfeil sind!

Ansonsten freu ich mich natürlich, wenn hier eine Lanze für Schillers Dramatik gebrochen wird! Ich halte sie auch für bedeutend.
 

Offline sandhofer

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Ich hatte mich noch gefragt, ob ich den letzten Satz von Matts beifügen sollte. Aber er ist so schön provokativ ...  :angel:

Schiller, Brief 4

Langsam geht's ans Eingemachte. Soll der Staat den Menschen quasi annihilieren? Oder der Mensch den Staat verinnerlichen? Das ist für Schiller, wenn ich ihn recht verstehe, die Alternative. Ein Gleichgewicht von Natur und Kunst macht den gebildeten Menschen aus. Der Wilde (nur Natur) wird ebenso abgelehnt wie der Barbar (nur Unnatur).
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Offline orzifar

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Ich hatte mich noch gefragt, ob ich den letzten Satz von Matts beifügen sollte. Aber er ist so schön provokativ ...  :angel:

 ;D ;D

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Offline Sir Thomas

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Deine Ausführungen beziehen sich auf die gesamte Ästhetische Erziehung des Menschen, oder?

Ja. Ich habe, wie erwähnt, Euren "Lesemodus" vorübergehend verlassen, um nicht vor kurzem Gelesenes zu wiederholen.

LG

Tom   

Offline sandhofer

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Ach ... ich lese die Ästhetische Erziehung jetzt zum dritten Mal ... man findet immer Neues.  ;)
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