Author Topic: Martin Horváth: Mohr im Hemd - oder wie ich auszog, die Welt zu retten  (Read 1383 times)

Offline orzifar

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Hallo!

Bei der Lektüre von Travens "Totenschiff" kann man die Entwurzelung des Einzelnen, seine Nichtzugehörigkeit, Unerwünschheit, Staatenlosigkeit noch historisch betrachten und einordnen. Dieses Buch aber ist Gegenwart; und anhand der durchaus nicht fiktionalen Schicksale dieses Romans ist man nicht nur zur Feststellung gezwungen, dass sich wenig geändert hat in all den Jahren: Nein, es scheint vielmehr schlimmer geworden zu sein - auch angesichts der Tatsache, dass der Reichtum der privilegierten Welt zum einen auf der Armut der anderen basiert, zum anderen diese Reichen nicht einmal bereit ist, auch nur die schlimmsten Auswirkungen dieser ökonomischen Unterdrückung zu mindern.

Ali ist ein jugendlicher Schwarzafrikaner, polyglott, klug, neugierig, er sieht alles, hört alles. Und er ist eine Kunstfigur, in dem sich Phantasie und Realität mischen, er ist nicht nur Ich-Erzähler sondern immer wieder (und in der Phantasie) allwissend. Sein eigenes Schicksal, sein Befinden bleiben anfangs im Hintergrund, der Leser erfährt von seinem Schicksal nur so ganz nebenbei - dass die Familie umgebracht wurde in irgendeinem der unzähligen afrikanischen Bürgerkriege, so nebenbei in Entsprechung zu Alis eigenem Umgang mit seiner Geschichte, weil er sie zu verdrängen und zu vergessen sucht, indem er die Schicksale der vielen anderen sammelt.

In einem Wiener Asylantenheim (und während ich dieses Wort niederschreibe wird mir bewusst, wie groß der Einfluss der rechts-populistischen Politiker in Österreich (und überall sonst?) ist, indem alle Wortverbindungen mit "Asyl" nicht mehr Mitleid oder Verstoßensein evozieren, sondern Schmarotzer- und Verbrechtertum), in diesem Heim wohnt Ali mit anderen Jugendlichen und Erwachsenen, er liest die Geschichten seiner Mitbewohner von den Gesichtern, die von abartig-perversen Schicksalen erzählen, deren Ungeheuerlichkeit zwar Betroffenheit auslöst, nicht aber Hilfe. Und so wiederholen sich die aus bürokratischen Bescheiden zitierten Wortfloskeln, die der Grausamkeit des Erlebten in bornierter Weise gegenüberstehen: Konnte aufgrund der Rechtslage ... war somit zu entscheiden ... ist der Antrag der gesetzlichen Bestimmungen wegen ... abzulehnen, abzulehnen, abzulehnen ...

Was zynisch-humorvoll beginnt, mit einer sarkastischen Karikatur des homo austriacus, der aufgrund anderer ihm suggerierter Wortverbindungen Schwarzafrikaner mit Drogendealer, Tschetschene mit Einbrecherbande gleichsetzt, wird zusehends zu einem feinfühlig gestalteten, nur ganz selten in Platitüden abgleitenden Roman, dem es sowohl sprachlich als auch inhaltlich gelingt, den schwierigen Spagat zwischen Alis Phantasiewelt und irrwitziger Realität zu meistern. Ohne Pathos werden Einzelschicksale geschildert, wird die Kluft offenbar zwischen individuellem Leid und bürokratischer Praxis, die aber der Leser nicht wie bei Traven in eine fast mythische Vergangenheit versetzen kann, sondern die Realität, nichts als Realität ist. Neben all dieser Aktualität versteht es Horváth aber auch glänzend zu erzählen, Zwischenmenschliches, Komisches, Anrührendes, die Schicksale (etwa Miras, einer der Betreuerinnen) der vielen Personen könnten zu einem eigenen kleinen Roman ausgebaut werden. Dass der Autor von solchen allzu ausführlichen Darstellungen Abstand nimmt, ist ihm keineswegs als Fehler anzurechnen - im Gegenteil: Er dosiert klug und mit Feingefühl, was bei einem derart klischeebehafteten Thema ein große Kunst ist.

Der phantastisch anmutende Epilog ist im Sinne der dissoziativen Entwicklung Alis konsequent, aber ich habe ihn trotzdem mit Skepsis gelesen - als einen Tribut an das "Literarische". Andererseits: Was hier Anlass zu leichter Kritik sein mag, wäre anderswo ein Stück beachtenswerter Prosa. Kritik also auf hohem Niveau. Ein Buch, das es wert ist, gelesen zu werden - und das mich veranlasst, meine eigenen Vorbehalte gegnüber zeitgenössischer Literatur ein wenig zu revidieren.

lg

orzifar
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