Hallo orzifar!
Ich wäre dann soweit.

Mittlerweile habe ich den Roman fast beendet. Manchmal ist meine Aufnahmefähigkeit für Proust schon nach zwanzig Seiten erschöpft, dann wieder kann ich mich für Stunden in diese Welt versenken, die längst untergegangen ist und doch nach wie vor den ganzen Facettenreichtum des Lebens vor uns ausbreitet. Ich bin immer wieder erstaunt über die Komplexität und Tiefe dieses Werkes, vor allem aber über die fast schlafwandlerisch anmutende Sicherheit der Romankomposition. Auf den über viertausend Seiten tauchen eine Reihe von Figuren, Themen und Motive auf, verschwinden wieder, um an anderer Stelle zurückzukehren, psychologische Analysen wechseln mit ausführlichen Beschreibungen von Sinneseindrücken, philosophische Reflexionen mit präzisen, ironischen Beobachtungen der großbürgerlichen bzw. adeligen Gesellschaft. Je weiter man aber im Roman vorankommt, desto deutlicher erkennt man, wie durchdacht er ist und wie sicher Proust die Fäden in der Hand hält (hat Musil Proust eigentlich je gelesen?). Und ob nun seitenlang Gefühlszustände, Musikstücke oder Kleidermoden beschrieben werden, es ist nie langweilig. Wie Du schon in unserer unilateralen

Leserunde zu
Sodom und Gomorra schriebst:
Was mich bei anderen langweilen würde, vermag er faszinierend darzustellen. Weil er immer über den Anlass hinaus geht, seine Vergleiche und Beschreibungen nie nur das inkriminierte Thema betreffen, sondern eine Allgemeingültigkeit entwickeln, die schlicht faszniniert.
Genau so fasziniert es, wie Proust das Allgemeingültige in seinen unzähligen individuellen Abwandlungen und Besonderheiten darstellt. Typen, Verhaltensweisen, Situationen und Ereignisse, alles ähnelt sich, alles wiederholt sich im Leben. Aber es ist sich eben bloß ähnlich, wiederholt sich nie auf genau die gleiche Weise. Dieses Interesse an der Vielfalt des Menschen scheint mir besonders charakteristisch für Prousts Roman zu sein, ist aber eigentlich Voraussetzung für jede gute Literatur, weil es den Autor fast schon automatisch vor einer allzu subjektiven, engen und einseitigen Sicht auf die Dinge bewahrt. Das Gleiche gilt für den Leser. Er wird mehr Freude an der Literatur haben, wenn er mit einer möglichst objektiven Neugierde an sie herangeht, mit kindlicher Neugierde sozusagen, denn als Kind bestaunt man die vielfältigen Erscheinungsformen des Lebens mit einem unersättlichem Interesse, das noch weitgehend frei ist von Voreingenommenheit und moralischen Überlegungen. In den diversen Bücherforen und Bücherblogs kann man Studien darüber treiben, wie subjektiv und begrenzt die Welt- und Menschensicht vieler Leser ist, ohne dass es ihnen im Mindesten bewusst wäre. Es ist immer wieder verblüffend, wie oft ein Buch allein schon deswegen Missfallen erregt, weil die Hauptfigur dem Leser unsympathisch ist, d.h. nicht seinen Vorstellungen entspricht, wie ein Mensch zu sein oder zu handeln hat. Proust hätte bei vielen Lesern schon von vorneherein
keine Chance, weil der Ich-Erzähler ein verzärtelter und hypochondrischer Müßiggänger ist.
Man muss schon eine gewisse Bereitschaft mit sich bringen, eigene Vorstellungen zu überdenken, wenn man etwas von diesem Roman haben will. Mit der menschlichen Psyche beschäftigen sich fast alle Autoren und stellen dabei durchaus richtige Beobachtungen an. Aber die meisten bleiben zu sehr an der Oberfläche, bieten dem Leser eine leicht konsumierbare Psychologie, die ihn nicken und „so ist es“ sagen lassen. In die schwer zu entwirrenden Tiefen des Unbewussten wagen sich nur die Wenigsten hinab (meiner Meinung nach krankt die gesamte moderne amerikanische Literatur – mit Ausnahmen natürlich – an dieser psychologischen Oberflächlichkeit). Prousts psychologische Analysen dagegen sind von einer unglaublichen Subtilität und Akribie, die den Leser zwingen – so er denn guten Willens ist -, die eigenen oberflächlichen Begriffe in Frage zu stellen. In diesem Band geht es um eines der Hauptthemen der
Recherche, die Eifersucht, deren Mechanismen und Spielarten Proust bis ins Kleinste ausleuchtet. Hier wie auch schon in
Eine Liebe von Swann hat man zunächst den Eindruck, dass Proust sich dauernd selber widerspricht, dass er ständig unvereinbare Gefühlszustände miteinander verbindet. Der Erzähler will sich von Albertine trennen, weil sie ihm nichts mehr bedeutet, da wird durch eine Bemerkung von ihr seine Leidenschaft für sie erneut geweckt. Obwohl er betont, dass sie ihn nicht mehr interessiert, ja sogar langweilt, nennt er diesen Zustand trotzdem immer wieder Liebe. Er hält Albertine in seiner Wohnung wie eine Gefangene, kontrolliert jeden ihrer Schritte, wird dabei selber ein Sklave seiner Obsession, schafft eine unerträgliche Atmosphäre des Misstrauens und der gegenseitigen Täuschungen und findet doch immer wieder Augenblicke des Friedens und des Glücks mit ihr. Krankhafte Eifersucht, Besessenheit, das Verlangen, eine andere Person vollständig zu besitzen, Proust ist nicht der erste Autor, der diese Dinge beschreibt. Aber wo andere stehen bleiben, geht er weiter und begnügt sich nicht mit einfachen psychologischen Erklärungen. Seinen Auffassungen über die Liebe, die Wirklichkeit, die Kunst und die Vereinzelung des Menschen muss man nicht in allen Punkten zustimmen, aber sie bringen den Leser dazu, über diese Auffassungen nachzudenken und sie mit seinen eigenen zu vergleichen. Ästhetischer Genuss und Gedankenreichtum - mehr kann ein Roman nicht bieten.
Gruß
Anna