Author Topic: Marcel Proust - Die Gefangene  (Read 7765 times)

Offline Anna

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Marcel Proust - Die Gefangene
« on: 17. Juni 2012, 17.06 Uhr »
Hallo orzifar!

Ich wäre dann soweit. ;D Mittlerweile habe ich den Roman fast beendet. Manchmal ist meine Aufnahmefähigkeit für Proust schon nach zwanzig Seiten erschöpft, dann wieder kann ich mich für Stunden in diese Welt versenken, die längst untergegangen ist und doch nach wie vor den ganzen Facettenreichtum des Lebens vor uns ausbreitet. Ich bin immer wieder erstaunt über die Komplexität und Tiefe dieses Werkes, vor allem aber über die fast schlafwandlerisch anmutende Sicherheit der Romankomposition. Auf den über viertausend Seiten tauchen eine Reihe von Figuren, Themen und Motive auf, verschwinden wieder, um an anderer Stelle zurückzukehren, psychologische Analysen wechseln mit ausführlichen Beschreibungen von Sinneseindrücken, philosophische Reflexionen mit präzisen, ironischen Beobachtungen der großbürgerlichen bzw. adeligen Gesellschaft. Je weiter man aber im Roman vorankommt, desto deutlicher erkennt man, wie durchdacht er ist und wie sicher Proust die Fäden in der Hand hält (hat Musil Proust eigentlich je gelesen?). Und ob nun seitenlang Gefühlszustände, Musikstücke oder Kleidermoden beschrieben werden, es ist nie langweilig. Wie Du schon in unserer unilateralen  :-[ Leserunde zu Sodom und Gomorra schriebst:

Was mich bei anderen langweilen würde, vermag er faszinierend darzustellen. Weil er immer über den Anlass hinaus geht, seine Vergleiche und Beschreibungen nie nur das inkriminierte Thema betreffen, sondern eine Allgemeingültigkeit entwickeln, die schlicht faszniniert.

Genau so fasziniert es, wie Proust das Allgemeingültige in seinen unzähligen individuellen Abwandlungen und Besonderheiten darstellt. Typen, Verhaltensweisen, Situationen und Ereignisse, alles ähnelt sich, alles wiederholt sich im Leben. Aber es ist sich eben bloß ähnlich, wiederholt sich nie auf genau die gleiche Weise. Dieses Interesse an der Vielfalt des Menschen scheint mir besonders charakteristisch für Prousts Roman zu sein, ist aber eigentlich Voraussetzung für jede gute Literatur, weil es den Autor fast schon automatisch vor einer allzu subjektiven, engen und einseitigen Sicht auf die Dinge bewahrt. Das Gleiche gilt für den Leser. Er wird mehr Freude an der Literatur haben, wenn er mit einer möglichst objektiven Neugierde an sie herangeht, mit kindlicher Neugierde sozusagen, denn als Kind bestaunt man die vielfältigen Erscheinungsformen des Lebens mit einem unersättlichem Interesse, das noch weitgehend frei ist von Voreingenommenheit und moralischen Überlegungen. In den diversen Bücherforen und Bücherblogs kann man Studien darüber treiben, wie subjektiv und begrenzt die Welt- und Menschensicht vieler Leser ist, ohne dass es ihnen im Mindesten bewusst wäre. Es ist immer wieder verblüffend, wie oft ein Buch allein schon deswegen Missfallen erregt, weil die Hauptfigur dem Leser unsympathisch ist, d.h. nicht seinen Vorstellungen entspricht, wie ein Mensch zu sein oder zu handeln hat. Proust hätte bei vielen Lesern schon von vorneherein 
keine Chance, weil der Ich-Erzähler ein verzärtelter und hypochondrischer Müßiggänger ist.

Man muss schon eine gewisse Bereitschaft mit sich bringen, eigene Vorstellungen zu überdenken, wenn man etwas von diesem Roman haben will. Mit der menschlichen Psyche beschäftigen sich fast alle Autoren und stellen dabei durchaus richtige Beobachtungen an. Aber die meisten bleiben zu sehr an der Oberfläche, bieten dem Leser eine leicht konsumierbare Psychologie, die ihn nicken und „so ist es“ sagen lassen. In die schwer zu entwirrenden Tiefen des Unbewussten wagen sich nur die Wenigsten hinab (meiner Meinung nach krankt die gesamte moderne amerikanische Literatur – mit Ausnahmen natürlich – an dieser psychologischen Oberflächlichkeit). Prousts psychologische Analysen dagegen sind von einer unglaublichen Subtilität und Akribie, die den Leser zwingen – so er denn guten Willens ist -, die eigenen oberflächlichen Begriffe in Frage zu stellen. In diesem Band geht es um eines der Hauptthemen der Recherche, die Eifersucht, deren Mechanismen und Spielarten Proust bis ins Kleinste ausleuchtet. Hier wie auch schon in Eine Liebe von Swann hat man zunächst den Eindruck, dass Proust sich dauernd selber widerspricht, dass er ständig unvereinbare Gefühlszustände miteinander verbindet. Der Erzähler will sich von Albertine trennen, weil sie ihm nichts mehr bedeutet, da wird durch eine Bemerkung von ihr seine Leidenschaft für sie erneut geweckt. Obwohl er betont, dass sie ihn nicht mehr interessiert, ja sogar langweilt, nennt er diesen Zustand trotzdem immer wieder Liebe. Er hält Albertine in seiner Wohnung wie eine Gefangene, kontrolliert jeden ihrer Schritte, wird dabei selber ein Sklave seiner Obsession, schafft eine unerträgliche Atmosphäre des Misstrauens und der gegenseitigen Täuschungen und findet doch immer wieder Augenblicke des Friedens und des Glücks mit ihr. Krankhafte Eifersucht, Besessenheit, das Verlangen, eine andere Person vollständig zu besitzen, Proust ist nicht der erste Autor, der diese Dinge beschreibt. Aber wo andere stehen bleiben, geht er weiter und begnügt sich nicht mit einfachen psychologischen Erklärungen. Seinen Auffassungen über die Liebe, die Wirklichkeit, die Kunst und die Vereinzelung des Menschen muss man nicht in allen Punkten zustimmen, aber sie bringen den Leser dazu, über diese Auffassungen nachzudenken und sie mit seinen eigenen zu vergleichen. Ästhetischer Genuss und Gedankenreichtum - mehr kann ein Roman nicht bieten.

Gruß
Anna
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Offline orzifar

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Re: Marcel Proust - Die Gefangene
« Reply #1 on: 22. Juni 2012, 00.31 Uhr »
Hallo!

Diesmal hinke ich hinterher: Mir mangelt es an der rechten Muße fürs Lesen - und gerade Proust scheint mir eine solche zu erfordern.

In den diversen Bücherforen und Bücherblogs kann man Studien darüber treiben, wie subjektiv und begrenzt die Welt- und Menschensicht vieler Leser ist, ohne dass es ihnen im Mindesten bewusst wäre. Es ist immer wieder verblüffend, wie oft ein Buch allein schon deswegen Missfallen erregt, weil die Hauptfigur dem Leser unsympathisch ist, d.h. nicht seinen Vorstellungen entspricht, wie ein Mensch zu sein oder zu handeln hat. Proust hätte bei vielen Lesern schon von vorneherein 
keine Chance, weil der Ich-Erzähler ein verzärtelter und hypochondrischer Müßiggänger ist.

Sandhofer hat in den Forenregeln einen entsprechenden Passus aufgenommen, den ich anfangs gar nicht verstanden habe. Mir ist es weder in meiner Jugend noch irgendwann später in den Sinn gekommen, einen Roman danach zu beurteilen, ob denn der Protagonist sympathisch bzw. ob er Identifikationsmöglichkeiten bietet. Erst das vermehrte Lesen in Bücherforen hat mir diese Sicht auf die Dinge gezeigt: So wurde Proust etwa im Literaturschockforum dahingehend beurteilt (nicht von allen). Das hinterlässt bei mir einfach nur ungläubiges Staunen. (Noch öfter und meistens noch dümmer passiert dies in Nabokovs Fall: Wer L-o-l-i-t-a für einen wundervollen Roman hält, ist für andere bereits ein potentieller Kinderschänder.)

Der Erzähler will sich von Albertine trennen, weil sie ihm nichts mehr bedeutet, da wird durch eine Bemerkung von ihr seine Leidenschaft für sie erneut geweckt. Obwohl er betont, dass sie ihn nicht mehr interessiert, ja sogar langweilt, nennt er diesen Zustand trotzdem immer wieder Liebe.

Mir stellt sich auch die Fragwürdigkeit der Bezeichnung "Liebe" für die Beziehung des Erzählers mit Albertine. Es ist eine Art Abhängigkeitsverhältnis, es ist eine Frage von Macht und Unterwerfung. Der Erzähler gesteht unumwunden, Albertine nicht (mehr) zu lieben, aber er verfällt ihr in genau jenem Augenblick, in dem sie sich - möglicherweise - anderen Vergnügen hingibt. Solcher Szenen gibt es viele: Ein vermeintliches Rendezvous, ein zufälliges Zusammentreffen mit jemandem aus der Vergangenheit - schon ist sein ganzes Sinnen und Trachten nur danach gerichtet, diese Vergnügungen zu unterbinden. Nicht weil er sie lieben würde, sondern weil er sie (was er denn auch explizit so formuliert) der ganzen Menschheit entziehen will, weil nur er sie zu besitzen wünscht. Wobei Besitz hier das bloße Wissen um ein vermeintlich unschuldiges Dasein meint.

Hinzu kommt, dass er - würde Albertine sich in allem und jedem fügen - an ihr eben sofort das Interesse verlieren würde. Erst seine ständige Beunruhigung bindet ihn an sie, seine Angst, dass sie sich ihm entziehen könnte, entzogen hat (denn die Eifersucht richtet sich auch auf die Vergangenheit, auf jede Vergangenheit, auch auf jene vor der Beziehung). Würde er tatsächlich hingebungsvoll geliebt, wäre ihm diese ganze Beziehung unerträglich langweilig; es ist eine Art obsessiver Gefangenschaft, in die sich der Wärter selbst begibt, der den Sinn des Lebens ausschließlich darin sieht, dass die Gefangene diesem Dasein entfliehen will. So sind sie aneinander gekettet in einer Abhängigkeit und im Unglück, denn dieses konstituiert erst diese Beziehung. (Eine sehr ähnliche Beschreibung dieser verqueren Eifersucht gibt Schnitzler in seinem Anatol-Zyklus.)

Wundervoll auch die unzähligen Details dieser Eifersucht, das sich erinnern wollen an Kleinigkeiten, die sich in Gedanken plötzlich auswachsen zu Ungeheuerlichkeiten, plötzlich schnurrt dieses Räderwerk der Eifersucht, alles (auch das Unsinnigste) ergibt Sinn, scheint ineinanderzugreifen (während kurioserweise das Offenkundige verborgen bleibt, bleiben muss, da ansonsten diese prekäre Gratwanderung der Selbstqual ein abruptes Ende hätte).

Diese Analysen sind brilliant, die gewählten Bilder - und mir gelingt es heute, mich mehr daran zu erfreuen als vor vielen Jahren, da meine Beziehungen so unähnlich dem Geschilderten nicht waren, diesen unsinnigen, unseligen Qualen, die einer dem anderen bereitet, während längst alles verloren ist, was man sich hinwiederum niemals eingestehen darf: Dies wäre der höchste Verrat. Irgendwann aber zerbricht alles unter Schmerzen und erst nach Jahren stellt man verwundert fest, wie seltsam romanhaft doch das eigenen Erleben war.

lg

orzifar
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Offline Bookie

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Re: Marcel Proust - Die Gefangene
« Reply #2 on: 16. August 2013, 17.09 Uhr »
Bin ich froh, auch einen Thread zu Proust gefunden zu haben. Wir haben ihn uns im Studium etwas genauer angesehen, soweit es eben ging. Auch durch die Abschlussprüfung hat er mich begleitet. Aber eigentlich wollte ich nur anmerken, dass ich die Verfilmung von Chantal Akerman ("La Captive") als besonders treffend empfand. Kennt sie hier jemand?