Author Topic: Denis Johnson - Schon tot  (Read 8541 times)

Offline mombour

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Denis Johnson - Schon tot
« on: 18. Februar 2012, 12.40 Uhr »
Hallo Anna,

die ersten 50 Seiten sind lektüriert. Mannomann, von der Stilistik aus gesehen ist das eine 180Grad Kehrtwendung von John Steinbeck, allerdings es bei Johnson auch um eine Gruppe von Außenseitern, outlaws, geht, wie in "Tortilla flat". Es ist ja umstritten in welches Genre man "Schon tot" legen will. Krimi, Ghost-Novel...? Festlegen tuen sich die Literaturkritiker nicht, allerdings wird, wenn Van Ness in der einsamen Gegend Nordkaliforniens mit seinem gelben Porsche herumfährt, der Nebel schon bechrieben, diese Gegend auch "Verlorene Küste genannt wird. Schon gespenstisch diese Typen, die am Rande der Gesellschaft irgendwie hausen. Es wird schon angedeutet, dass Ness sich umbringen will. Die Geschichte spielt in Mendocino County, eine der hässlichsten Gegenden Kaliforniens: Meeresklippen, Redwoods, lieblos hingeklatschte Motels usw. Van Ness besucht einen Freund, den er als Matrose auf einem Schiff kennengelernt hatte, sie damals über Philosophie diskutierten, Nietzsche, Wittgenstein. Inzwischen Frank, der Freund,  offenbar ziemlich abgedreht, seine Wohnung mit schwerem Werkzeug zertrümmert hatte, als Ness bei ihm auftaucht. Er war erst aus dem Drogenentzug oder einer Psychiatrie entlassen worden. Frank  scheint immer noch von Dämönen und  Halluzinationen befallen zu sein.
Quote from: Johnson
Seine Dämonen flüsterten hinter den Wänden, unter den Dielen.

Inhaltlich noch nicht ganz klar. Ist Winona die Frau von Ness? Er liebt allerdings Melissa, die durch Drogen ein bisschen verrückt geworden ist.

Das tolle an diesem Roman ist diese dürstere Stimmung. Total abgedreht, vom sog. amerikanischen Traum nichts zu spüren. Medocino Country ist ein Land der Verlorenen. Hier noch ein wunderbares Zitat:

Quote from: Johnson
Doch es ist auch ein Land des Dauerregens und übermächtiger Dürren, ein Land des Nebels, dicht und zäh, besonders im Juli und August. Einundzwanzig Tage lang hüllte er in diesem Sommer den nördlichen Teil der Küste ein, ununterbrochen, als läge da... als läge da am eiskalten Ozean der zusammmgeballte Stoff des amerikanischen Traums.

Liebe Grüße
mombour
« Last Edit: 18. Februar 2012, 12.52 Uhr by mombour »
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Offline mombour

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Re: Denis Johnson - Schon tot
« Reply #1 on: 20. Februar 2012, 12.36 Uhr »
Hallo,

Inhaltlich noch nicht ganz klar. Ist Winona die Frau von Ness? Er liebt allerdings Melissa, die durch Drogen ein bisschen verrückt geworden ist.

Ich muss mich korrigieren: Winona ist die Ehefrau von Nelson Fairchild. Melissa ist seine Geliebte. Nelson taucht im Roman als Ich-Erzähler auf. Er schaut zu tief in die Flasche und will, um ihre Lebensversicherung zu kassieren, seine Frau umbringen lassen. Auf einem Hang in den Redwoods züchtet er Marihuanastauden. Aus dem kebrigen Harz der weiblichen Blüten gewinnt er den Rauschstoff Tetrahydrocannabinol. Über der Schlucht wird sich kein Hubschrauber verirren, darum, darum seine illegalen Anpflanzungen schon drei Jahre von den Behörden unbemerkt existieren. Aus Panik ließ Fairchild in Italien einen Drogengeschäft platzten und ließ ein Päckchen Kokain in einem Flugzeugklo verschwinden, seitdem er von zwei Drogendealern verfolgt wird, denen er Geld schuldet.  Van Ness, der sich in einem See ertränken lassen will, wird von Fairchild gerettet. Da Ness an sich eigentlich sowie so schon tot ist, er wollte sich ja umbringen und hat nichts zu verlieren, wird er von Farichild beauftragt, seine Frau umzubringen.

Zu diesem Personal von Psychotikern, Drogensüchtigen, Alkoholikern und Selbstmördern sei noch Yvonne zu erwähnen, die sich der Esoterik hingegeben hat. Denis Johnson ihre esoterischen Aktivitäten mit gewissem ironischen Unterton erzählt. Alles mögliche vom Gros der amerikanischen Gesellschaft aus gesehene Außenseitertum findet der Leser also hier. Von New Age bis zum tibetanischem Kloster in den Bergen. Eine kuriose Welt für sich und in diesem Sommer 1990 und alles ist in Nebelschwaden getaucht.

Die amerikanische Ausgabe  des Buches trägt den Untertitel "A California Gothic“. Ich halte es für ein Versäumnis, dass in der deutschen Ausgabe der Untertitel unterschlagen wurde. Denn Denis Johnson legt seinen Roman bewusst an die Gothic Novel an. Betrachten wir nur mal folgendes Textbeispiel:

Quote from: Johnson
Die Nächte sind kalt, doch wir fahren im offenen Wagen des Sauerstoffs wegen. Die Zypressen auf den Kliffs hoch über dem Meer, vom Wind der Jahrhunderte zu bleibenden Schatten, Schlieren, Schmierern niedergebogen, sind wie aus einem Comicstrip, während wir im Zwielicht wild betrunken an ihnen vorüberschießen
.

Man beobachte bei sich selbst, was hier für Assoziationen geweckt werden. Ich finde solche Umschreibungen fantastisch und derer gibt es hier viele. Und wenn wir dann noch denken, dass van Ness wie ein schon Toter, ein Zombie, Fairschilds Frau umbringen soll, sind wir nicht weit vom Horror entfernt.

Sehr schön und angehaucht von Unheimlichkeit ist der Nachteinsatz des Officer Navarro, der des Nachts von einer Lesbe angerufen wird, sie hätte hinter ihrem Hause etwas Ungewöhnliches gehört,und habe Angst, es sei ihr Ex-Mann und „Sechziger-Veteran“ und Drogendealer, der bewaffnet ist und sie umbringen will, was er in der Vergangenheit schon angedroht habe. Es handelt sich übrigens um Frankheimer, der im Roman auch Frankenstein genannt wird. Dieses Abenteuer endet sehr amüsant, es waren nur Jungens, die voyeuristisch durchs Fenster geschaut haben. Die Dame des Hauses war übrigens mit der New – Age – Hexe Yvonne zusammen, als der Officer das Haus betrat, die Damen engumschlungen waren, um „etwas von dieser seltenen Energie“ aufzunehmen. Der Officer ironisch: „Ist  die Gegend hier energiegeladen?“ Darauf hin Yvonne: „Es wird Gewitter geben.“ (obwohl in dieser Gegend sieben Monate kein Tropfen Regen gefallen war). Ein Beispiel für Johnsons ironischem Umgang mit Esoterik.


Sehr fantasievoll finde ich die freie Abwandlung von Nietzsches Mythos der ewigen Wiederkehr.. Van Ness sagt, er sei schon in anderen Welten mehrmals tot gewesen. Am Ende der Geschichte fällt die Materie zu ihrem Ursprung zurück und alles beginnt mit einem neuen Urknall noch einmal. Doch es gibt einen kleinen Unterschied:

Quote from: Johnson
Die Schwingungen eines einzigen Moleküls sind anders als zuvor, weshalb bei jeder Bewegung dieses Moleküls...etwas Neues entsteht. Wenn Sie dann sterben, erlischt Ihr Bewusstsein zwar auch, erwacht aber Jahrhunderte später wieder, weil die Umstände, die zu ihrem Tod geführt haben, inzwischen in der Entwicklungsgeschichte der Materie nicht mehr vorkommen.

Genial und verrückt. Der Roman unterhält glänzend.

Liebe Grüße
mombour
« Last Edit: 20. Februar 2012, 14.54 Uhr by mombour »
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Offline Anna

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Re: Denis Johnson - Schon tot
« Reply #2 on: 25. Februar 2012, 01.09 Uhr »
Hallo!

Marihuana, Alkohol, Sex und ein Schuss Esoterik, schon bist Du begeistert, lieber mombour. ;D Aber Du hast Recht. Ich weiß zwar noch nicht genau, ob der Roman sechshundert Seiten lang hält, was er auf den ersten hundertfünfzig verspricht, aber bis jetzt finde ich sie erstaunlich gut, diese Mischung aus kalifornischem Schauerroman und schwarzer Kriminalgeschichte.

Vorlage für den Romanplot ist das Prosagedicht „Poème noir“ von Bill Knott, in dem ein Toter mit knappen und kalten Worten von den fatalen Verstrickungen erzählt, denen er zum Opfer gefallen ist (Du hast ja sicher gesehen, dass das Gedicht am Ende des Buchs im Original und in deutscher Übersetzung abgedruckt ist, mombour. Ich weiß nicht, ob Du es erst zum Schluss lesen willst, da es den Handlungskern verrät, deswegen sage ich nichts Näheres dazu). Der Schauplatz des Romans, Mendocino-County, ist nur wenige Stunden von San Francisco entfernt und scheint doch am Ende der Welt zu liegen. Dichte Nebelschwaden umhüllen die urtümliche Landschaft mit ihren zerklüfteten Küsten und den dunklen Wäldern, in denen noch die letzten „Hippie-Gespenster“ übrig gebliebener Kommunen hausen, auch Geisterglauben, Spukgeschichten und Hexenwesen fehlen nicht. Johnson verbindet Elemente der Gothic novel mit denen des Film noir und schafft so eine beklemmende Atmosphäre mit eindringlichen, gespenstischen Bildern. Am unheimlichsten ist die Schar der verlorenen Seelen, die die hässliche Gegend um das Städtchen Point Arena bevölkern: All diese Aussteiger, Gestrandeten, Loser, die sich zwischen Wahn und Wirklichkeit bewegen, verfolgt von Albträumen, Visionen und Halluzinationen, suchen immer noch nach Freiheit, Sinn und Glück in ihrem Leben, obwohl sie innerlich schon längst kaputt und abgestorben sind.

Die Sprache Johnsons finde ich sehr beeindruckend. Sie ist ausschweifend und suggestiv, mit farbigen, intensiven, manchmal fast mythischen Bildern:

Quote
Hier, an den sanfter geneigten Hängen, konnten sich auch große Bäume halten - ein paar uralte Redwoods sogar, an die siebzig Meter hoch und gut zehn Meter im Umfang, die schon an dieser Stelle standen, als Julius Caesar geboren wurde. Mir war, als befände ich mich unter einem Gewölbe urwüchsiger Monumente, errichtet von einem ausgestorbenen Volk. Niemand betet sie mehr an; allein geben sie sich ihren endlosen Meditationen hin, sterben unbemerkt, betten sich krachend zur Ruhe. Dann das Verrotten und Verwesen, bis zuletzt nur noch ein Zeichen bleibt, nicht Erde, sondern ein stiller rotbrauner Laib.(TB, S. 76)

Im Kontrast zu den metaphernreichen, mitunter fast schon pathetischen Beschreibungen stehen die komischen, oft ins Absurde hinübergleitenden Dialoge der Romanfiguren und die Schilderung der grotesken Situationen, in denen sie sich meist befinden. Daneben gibt es auch immer wieder originell formulierte Gedanken und Beobachtungen, die den Text interessant und unterhaltsam machen. Ich bin gespannt, ob der Roman dieses Niveau halten kann. Sollte es am Ende doch einen guten amerikanischen Schriftsteller geben? :o

Gruß
Anna


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Offline orzifar

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Re: Denis Johnson - Schon tot
« Reply #3 on: 25. Februar 2012, 03.10 Uhr »
Ich habe definitiv keine Zeit zu neuer Lektüre. Also geht mit euren Lobeshymnen gefälligst sparsam um :wut:

lg

orzifar
Derzeitige Lektüre:

Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831 - 1933
Hans Albert: Kritik des theologischen Denkens
John Irving: Owen Meany

Offline mombour

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Re: Denis Johnson - Schon tot
« Reply #4 on: 25. Februar 2012, 08.22 Uhr »

Marihuana, Alkohol, Sex und ein Schuss Esoterik, schon bist Du begeistert, lieber mombour. ;D

Ja. Mich interessieren durchaus solche Außenseitertypen und Johnson kann schreiben. Das ist das Entscheidende. Übrigens, Emmanuel Bove hat auch über Außenseiter geschrieben, aber eben ganz anders. Bove ist ja nicht mehr modern. :)

Sollte es am Ende doch einen guten amerikanischen Schriftsteller geben? :o

Die gibt es selbstverständlich. Wir müssen sie nur entdecken und Denis Johnson hat gute Chancen dazu zugehören. Ich habe mir seine Reportagen über Somalia und Liberia geordert. Die letzten beiden Tage habe ich nicht lesen können, weil ich eine Datei versehentlich gelöscht habe, die ich wieder rekonstruieren musste (in Zukunft werde ich immer gleich auf USB-Stick sichern).  Heute aber lese ich wieder einen großen Schwung weiter. Übrigens hast du die Stimmung des Romans sehr gut zusammengefasst. Wenn es mich auch nicht stört, Inhalte vorher schon zu wissen, lese ich das Poème von Bill Knott in diesem Falle erst am Schluss. Den Inhalt weiß ich sowieso schon so ungefähr. ;D

Liebe Grüße
mombour
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Offline mombour

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Re: Denis Johnson - Schon tot
« Reply #5 on: 29. Februar 2012, 12.30 Uhr »
Wirklich Paranoid sind die Briefe von William Fairchild, Nelsons Vater, dem die Beziehungsidee verfolgt, eine Radarstation könne eine Bedrohung für die Menschen haben. Die Bedrohung von Elektrosmog verfolgt heute vielen Menschen, doch Johnson, und ich finde es schon ziemlich schwierig, so etwas überhaupt zu schreiben, erfindet praktisch Briefe, die im Paranoia geschrieben sind. Ziemlich viele Briefe tischt uns der Autor auf. Diese briefe sschiclt W. Fairshild an Officer Navarro, der diese Briefe nicht ernst nimmt, aber dazu verflichtet ist, sie aufzubewahren, weil sie teilweise als Bedrohung aufgefasst werden können. Officer Navarro ist an sich der einzige, der in dieser Welt von verrückten und seltsamen Gestalten noch einen klaren Kopf behält. Und der Sohn Nelson, macht sich Gedanken, wie er Van Ness dazu gebracht hat, ihn zum Mörder werden zu lassen. Nelson sagt, er hole den Killer aus dem Menschen heraus und verweist auf Dr. Jekylls Elixier. Dieser Verweis auf Stephenson, also auf die Horrorliteratur, ist natürlich bewusst arrangiert. Vielleicht kann man ja sogar Van Ness als Doppelgänger von Nelson betrachten, schließlich Van Ness für Nelson morden soll und dann fällt wieder ein Bezug zu Zeitgeschichte. Nämlich der Irakkrieg:
Quote from: Johnson
..die Welt zerfiel im Inneren wie im Äußeren; (Seite 190)
Iin der einsamen Gegend von Nordkalifornien scheint der Verstand zu zerfallen. Der Irakkrieg bleibt entschieden, aber über den Grund ist man sich nicht im klaren, heißt es sinngemäß bei Johnson.

Es gibt ja so viele schöne Passagen in dem Buch, z.B. wie Nelson nach Hause kommt, und erwartet, dass er irgendwo die Leiche seiner Frau entdeckt. Die durchtriebene Angst, die ihn befällt, knistert aus den Zeilen und dann heißt es lapidar, ein Mann will seine Frau ermorden, kommt nach Hause, anstatt die Leiche zu finden,....klingelt das Telefon. Dann nimmt die Leiche ab, hält dem Mörder den Hörer hin und nennt ihn >>Liebling<<“.  Nicht Winona ist tot, sondern William Nelson. Was für ein Spiel spielt Van Ness? Hat er den alten Mann umgebracht?  Hier dreht sich einiges ins Gegenteil von dem, wie es Nelson ürsprünglich geplant hatte. Das Wetter schlägt übrigens auch Kapriolen. Erst war Dürre, dann Nebel, Regen, Sturm usw. und Esoterik-Wahn:
Quote from: Johnson
Die schwachen Leben sind lang, weil sie häufig in den leeren Räumen zwischen den Nachwelten fortdauern... (Seite 327)

Über die Radarstation heißt es:

Quote from: Johnson
Die weißen Kuppeln dagegen senden sozusagen Botschaften aus. Sie belästigen die Menschen, stiften Verwirrung. Dies sollte ein ort der heilung sein, statt dessen wird jede Menge Energie darauf gerichtet, zerstörerische Interkontinentalrakenten zu suchen, sie rechtzeitig zu orten. (Seite 333/334)
.

Der Leser könnte spekulieren, die Radarstation sei Schuld, weil diese Gegend von seltsamen Außenseitern bewohnt ist.[grins]

Liebe Grüße
mombour
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Re: Denis Johnson - Schon tot
« Reply #6 on: 16. März 2012, 03.29 Uhr »
Ich habe definitiv keine Zeit zu neuer Lektüre. Also geht mit euren Lobeshymnen gefälligst sparsam um :wut:


Ich gehe mal sparsam um. Ich habe es schon oft erlebt, dass ich den Beginn eines Romans (oder bis zur ersten Hälfte o.ä,) ganz toll finde, wie auch hier bei Johnson, und dann flacht das Interesse irgendwie ab. Erstens ist es so, dass "Schon tot" im späteren Verlauf immer komplizierter wird, und ich nicht mehr durchgestiegen bin, warum Van Ness seinen Plan ändert, warum andere Menschen sterben müssen, zweitens ist mir nicht klar geworden, warum soviel Nietzsche zitiert wird. Der Roman muss nicht unbedingt schlecht sein, nur weil ich nicht alles verstehe. Kunst ist eben auch schwer. Bei den meisten Pychon-Romanen werde ich garantiert auch scheitern, obwohl der Autor sicherlich was drauf hat. Ich mag eben lieber Autoren wie Philipp Roth, die gut schreiben und man versteht doch alles oder fast alles. Und bei Denis Johnson sollte man wohl lieber mit "Jesus' Sohn" anfangen. Das sind die berühmten Erztählungen, in denen er seine eigene Junkiekarriere verarbeitet hat. Ich meine, der Mann kann wirklich schreiben. "In der Hölle" hat mir sehr gefallen, auch wenn der Inhalt mehr als furchtbar ist.

Toni Morrisson "Liebe" musste ich abbrechen (den Johnson habe ich immerhin durchgelesen, obwohl ich genauso hätte sagen können, ich höre auf). Die Autorin schreibt dort wie ein Puzzle. Der Leser muss sich den Inhalt mühsam zusammensetzen., und das hatte damals meine Lesefreude abgewürgt, auch wenn das Kunst ist. Ich mag mich bloß nicht selbst quälen.

Liebe Grüße
mombour
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Offline Anna

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Re: Denis Johnson - Schon tot
« Reply #7 on: 23. Juni 2012, 17.47 Uhr »
Hallo mombour!

Erschrick nicht, ich habe mich noch mal aufgerafft, um meine abschließende Meinung zu dem Roman niederzuschreiben. Ich fand ihn durchaus unterhaltsam, wobei mein Enthusiasmus im Laufe der Lektüre ebenfalls nachließ, wenn auch aus anderen Gründen als bei Dir. Abgesehen davon, dass mir diese Welt der abgedrehten Exjunkies, Esoteriker und Althippies doch ziemlich fremd ist, war die Geschichte insgesamt auch einfach nicht vielschichtig genug, um einen nachhaltigen Eindruck bei mir zu hinterlassen.

Erstens ist es so, dass "Schon tot" im späteren Verlauf immer komplizierter wird, und ich nicht mehr durchgestiegen bin, warum Van Ness seinen Plan ändert, warum andere Menschen sterben müssen, zweitens ist mir nicht klar geworden, warum soviel Nietzsche zitiert wird.

Du vermutest, glaube ich, mehr in dem Roman, als tatsächlich in ihm steckt. Denn die Geschichte selbst ist gar nicht so kompliziert. Kompliziert ist ihr Aufbau, dieses Geflecht aus verschiedenen Handlungssträngen, Erzählperspektiven und Zeitebenen. Aber zum einen sind Personal und Handlung überschaubar, zum anderen wird gerade durch das Springen zwischen den Zeiten der Rahmen der Ereignisse abgesteckt. Es ist natürlich hilfreich, wenn man das Gedicht von Bill Knott vorher gelesen hat. Im Grunde geht es nicht so sehr um den Mordplan mit seinen Folgen, auch wenn das als roter Faden durchläuft, sondern um das Scheitern und die Einsamkeit der Romanfiguren. Die abgeschiedene Gegend an der nordkalifornischen Küste scheint der ideale Ort für spirituelle Erfahrungen und individuelle Entfaltung in alternativen Lebensformen zu sein, doch die Aussteiger, die hier ihr Heil suchen, sind schon am Ende, bevor sie überhaupt das dritte Lebensjahrzehnt erreicht haben. Allesamt psychisch angeknackst leiden sie unter Problemen, die man typisch amerikanisch nennen möchte: am übermächtigen Vater, traumatischen Kriegserlebnissen, Alkohol- und Drogensucht, sexuellen Obsessionen und religiösem Wahn. Mühsam halten sie sich mit kleinen Jobs über Wasser, suchen immer noch nach Glauben, nach Sinn, nach Liebe und sind doch weder zu Liebesbeziehungen noch zu Freundschaften fähig. Jeder lebt auf seinem eigenen dunklen Planeten, hellsichtig, was die Durchgeknalltheit der anderen betrifft, aber nicht in der Lage, die eigene Wahnhaftigkeit und innere Leere zu erkennen.

Die Mischung aus Gothic novel  und crime noir erzeugt eine düstere Atmosphäre und lässt die Ereignisse in einem abwechselnd realen und phantastischen Licht erscheinen. Einmal wirkt Van Ness wie der dämonische Doppelgänger Nelson Fairchilds, der, kaum entfesselt, außer Kontrolle gerät und sich schließlich gegen seinen Befreier selbst wendet, indem er alles vernichtet bzw. nimmt, was ihm etwas bedeutet (Vater, Bruder; Frau). Dann wieder legt seine Heirat mit Nelsons Witwe Winona, die durch den Tod der drei Fairchilds zur reichen Erbin geworden ist, den Verdacht nahe, dass das Motiv für die Morde schlicht in purer Habgier zu suchen ist. Oder John Navarro: der Fremde, der in den Ort kommt, zunächst unbeteiligter Beobachter ist, sich dann aber unter dem Einfluss der merkwürdigen Umgebung zu verändern beginnt. Die Realität wird ihm immer fragwürdiger, die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen, schließlich kann er seine Arbeit als Polizist nicht mehr vernünftig ausführen. Als seine Beziehung zur Kellnerin Mo in die Brüche geht, verlässt er diesen „Ort der Einsamkeit“, bevor er selber durchdreht. Doch Navarro hat bereits drei gescheiterte Ehen hinter sich hat, ist also offensichtlich ebenso beziehungsunfähig wie die Freaks um ihn herum. Die urzeitliche Landschaft mit ihren riesigen dunklen Wäldern und den extremen Wetterlagen scheint ein besonders guter Nährboden für das Unheil zu sein. Die Frage ist nur, erzeugt sie es oder macht sie es bloß sichtbar?

Die paar Häppchen Philosophie, Mystik und Esoterik, mit denen Johnson seinen Roman garniert hat, sind nicht allzu ernst gemeint und eher Ausdruck der wirren Weltanschauungen seiner Figuren. Selbstironisch lässt er dann auch Fairchild über die schwammige, sprunghafte und schwindelig machende Art amerikanischen Philosophierens räsonieren, und was von Van Ness’ Berufung auf Nietzsche (der übrigens nicht zitiert wird, nur sein Name wird mehrmals genannt) zu halten ist, zeigt folgende Stelle:

Quote
",Jenseits von Gut und Böse.' - ,Genau. Wie viele Wörter sind das? Fünf. Er hat fünf Wörter Nietzsche gelesen, ist losgerannt und hat sich ein Leben daraus gezimmert.'... ,Nietzsche? Ich scheiß auf Nietzsche. Haben Sie je versucht, Nietzsche zu buchstabieren? Viel Glück.“

Der ewig zugedröhnte, aber scharfsinnige Wilhelm Frankheimer hat schon vor Jahren erkannt, was der orientierungslose Van Ness ist: ein gefährlicher Geistesgestörter (oder vielleicht das Böse?).

Der Roman lebt in erster Linie von seiner bizarren Stimmung und von seiner kontrastreichen Sprache, die flapsige, zum Teil absurd-witzige Dialoge mit nahezu mythischen, bilderreichen Landschaftsbeschreibungen und handfeste Situationskomik mit suggestiven, unheimlichen Szenen verbindet. Für mich keine große Entdeckung, aber doch unterhaltsam und lesenswert.

Gruß
Anna
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