Hallo mombour!
Erschrick nicht, ich habe mich noch mal aufgerafft, um meine abschließende Meinung zu dem Roman niederzuschreiben. Ich fand ihn durchaus unterhaltsam, wobei mein Enthusiasmus im Laufe der Lektüre ebenfalls nachließ, wenn auch aus anderen Gründen als bei Dir. Abgesehen davon, dass mir diese Welt der abgedrehten Exjunkies, Esoteriker und Althippies doch ziemlich fremd ist, war die Geschichte insgesamt auch einfach nicht vielschichtig genug, um einen nachhaltigen Eindruck bei mir zu hinterlassen.
Erstens ist es so, dass "Schon tot" im späteren Verlauf immer komplizierter wird, und ich nicht mehr durchgestiegen bin, warum Van Ness seinen Plan ändert, warum andere Menschen sterben müssen, zweitens ist mir nicht klar geworden, warum soviel Nietzsche zitiert wird.
Du vermutest, glaube ich, mehr in dem Roman, als tatsächlich in ihm steckt. Denn die Geschichte selbst ist gar nicht so kompliziert. Kompliziert ist ihr Aufbau, dieses Geflecht aus verschiedenen Handlungssträngen, Erzählperspektiven und Zeitebenen. Aber zum einen sind Personal und Handlung überschaubar, zum anderen wird gerade durch das Springen zwischen den Zeiten der Rahmen der Ereignisse abgesteckt. Es ist natürlich hilfreich, wenn man das Gedicht von Bill Knott vorher gelesen hat. Im Grunde geht es nicht so sehr um den Mordplan mit seinen Folgen, auch wenn das als roter Faden durchläuft, sondern um das Scheitern und die Einsamkeit der Romanfiguren. Die abgeschiedene Gegend an der nordkalifornischen Küste scheint der ideale Ort für spirituelle Erfahrungen und individuelle Entfaltung in alternativen Lebensformen zu sein, doch die Aussteiger, die hier ihr Heil suchen, sind schon am Ende, bevor sie überhaupt das dritte Lebensjahrzehnt erreicht haben. Allesamt psychisch angeknackst leiden sie unter Problemen, die man typisch amerikanisch nennen möchte: am übermächtigen Vater, traumatischen Kriegserlebnissen, Alkohol- und Drogensucht, sexuellen Obsessionen und religiösem Wahn. Mühsam halten sie sich mit kleinen Jobs über Wasser, suchen immer noch nach Glauben, nach Sinn, nach Liebe und sind doch weder zu Liebesbeziehungen noch zu Freundschaften fähig. Jeder lebt auf seinem eigenen dunklen Planeten, hellsichtig, was die Durchgeknalltheit der anderen betrifft, aber nicht in der Lage, die eigene Wahnhaftigkeit und innere Leere zu erkennen.
Die Mischung aus Gothic novel und crime noir erzeugt eine düstere Atmosphäre und lässt die Ereignisse in einem abwechselnd realen und phantastischen Licht erscheinen. Einmal wirkt Van Ness wie der dämonische Doppelgänger Nelson Fairchilds, der, kaum entfesselt, außer Kontrolle gerät und sich schließlich gegen seinen Befreier selbst wendet, indem er alles vernichtet bzw. nimmt, was ihm etwas bedeutet (Vater, Bruder; Frau). Dann wieder legt seine Heirat mit Nelsons Witwe Winona, die durch den Tod der drei Fairchilds zur reichen Erbin geworden ist, den Verdacht nahe, dass das Motiv für die Morde schlicht in purer Habgier zu suchen ist. Oder John Navarro: der Fremde, der in den Ort kommt, zunächst unbeteiligter Beobachter ist, sich dann aber unter dem Einfluss der merkwürdigen Umgebung zu verändern beginnt. Die Realität wird ihm immer fragwürdiger, die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen, schließlich kann er seine Arbeit als Polizist nicht mehr vernünftig ausführen. Als seine Beziehung zur Kellnerin Mo in die Brüche geht, verlässt er diesen „Ort der Einsamkeit“, bevor er selber durchdreht. Doch Navarro hat bereits drei gescheiterte Ehen hinter sich hat, ist also offensichtlich ebenso beziehungsunfähig wie die Freaks um ihn herum. Die urzeitliche Landschaft mit ihren riesigen dunklen Wäldern und den extremen Wetterlagen scheint ein besonders guter Nährboden für das Unheil zu sein. Die Frage ist nur, erzeugt sie es oder macht sie es bloß sichtbar?
Die paar Häppchen Philosophie, Mystik und Esoterik, mit denen Johnson seinen Roman garniert hat, sind nicht allzu ernst gemeint und eher Ausdruck der wirren Weltanschauungen seiner Figuren. Selbstironisch lässt er dann auch Fairchild über die schwammige, sprunghafte und schwindelig machende Art amerikanischen Philosophierens räsonieren, und was von Van Ness’ Berufung auf Nietzsche (der übrigens nicht zitiert wird, nur sein Name wird mehrmals genannt) zu halten ist, zeigt folgende Stelle:
",Jenseits von Gut und Böse.' - ,Genau. Wie viele Wörter sind das? Fünf. Er hat fünf Wörter Nietzsche gelesen, ist losgerannt und hat sich ein Leben daraus gezimmert.'... ,Nietzsche? Ich scheiß auf Nietzsche. Haben Sie je versucht, Nietzsche zu buchstabieren? Viel Glück.“
Der ewig zugedröhnte, aber scharfsinnige Wilhelm Frankheimer hat schon vor Jahren erkannt, was der orientierungslose Van Ness ist: ein gefährlicher Geistesgestörter (oder vielleicht das Böse?).
Der Roman lebt in erster Linie von seiner bizarren Stimmung und von seiner kontrastreichen Sprache, die flapsige, zum Teil absurd-witzige Dialoge mit nahezu mythischen, bilderreichen Landschaftsbeschreibungen und handfeste Situationskomik mit suggestiven, unheimlichen Szenen verbindet. Für mich keine große Entdeckung, aber doch unterhaltsam und lesenswert.
Gruß
Anna