Hallo!
Das Katzenmädchen. Chessex brauchte offenbar eine Gegenfigur zum Vater. Was ist ein Katzenmädchen? Eine Kätzin. Was ist eine Kätzin auf Französisch? Une chatte. Was ist "la chatte" auf Deutsch? Richtig - die Muschi. Der Vater, die alte und eigentlich schon längst tote, aber dennoch noch immer präsente männliche Sexualität und Promiskualität; die Kätzin, die junge, weibliche, sanftere Sexualität und Promiskualität, letzten Endes aber genauso egoistisch wie die paternalistische Spielart. Das ist konstruiert, richtig. Aber ohne dieses Konstrukt wäre der Roman schon nach 20 oder 30 Seiten zu Ende.
Nun gut, das müsste natürlich nicht so sein, auch ohne Muschi ließe sich ein ganzer Roman verfassen. Allerdings kann ich natürlich dem Autor nicht gut vorschreiben, welchen Roman er verfassen soll. Die Enttäuschung hatte - auch - etwas mit euren Beiträgen zu tun, die sehr viel mehr auf die Vater- und Erziehungsproblematik Bezug nahmen denn auf die sexuellen Kalamitäten des Protagonisten. Solche interessen mich meist nicht besonders und möglicherweise hätte ich im Wissen darum das Buch gar nicht gelesen.
Ausserdem gehe ich davon aus, dass Chessex hier "tongue in the cheek" schreibt, den Leser also ein bisschen irreführt. Die Erzählung findet zwar in der Er-Form statt, anscheinend objektiv die Tatsachen berichtend - genau gesehen, erfahren wir aber die Welt immer und ausschliesslich aus der Sicht von Jean Calmet. Vielleicht war ja die "Realität" so, dass Calmet die Kätzin gesehen hat, seinen Zusammenbruch hatte und danach die Kätzin weggegangen ist - ohne ihn? Und der Rest sind Calmets Halluzinationen, seine Wunsch- und Angstträume? Eine Geschichte auf 2 Ebenen, sozusagen. (Ich sehe gar noch eine dritte (Wohl nicht umsonst ist Calmet Lateinlehrer, also Lehrer einer klassischen Sprache): Zeus, dem es nicht gelungen ist, sich vor seinem Vater zu verstecken, dem es nicht gelungen ist, seinen Vater zu entmannen, sondern der seinerseits von seinem Vater entmannt und verschluckt wird. Und die Kätzin wäre dann Aphrodite, nicht die Schaumgeborene, sondern die Wollknäuelgeborene.)
Variante drei ist geschenkt

. Aber der Gedanke, dass es sich ab Teil zwei um die phantasierten Vorstellungen des immer mehr ins Irreale abgleitenden Calmet handelt, ist mir auch gekommen. Das würde nun zu einem Teil die nicht plastischen Figuren erklären, aber dann auch doch wieder nicht. Auch solche "Traumfiguren" müssen ja ein bestimmtes Maß an Plausibilität erfüllen - und sie können das auch. Kafka (natürlich, durch diesen Vergleich ist die Latte sehr hoch gelegt und der arme Chessex kann nur verlieren) schafft solche "irreale" Figuren ebenfalls und sie machen nicht im mindestens diesen Kunstgriffeindruck des Katzenmädchens (& Co).
Ich habe mein Buch gerade nicht zur Hand. Aber ich erinnere mich daran, dass mich die Stelle auch etwas befremdet hat. Sie ist im Französischen nicht so krass, wie im Deutschen. Ich habe diese Bilder dann Calmets Sexualität zugeschrieben, die ja, wie Du von der sie schildernden Sprache sagst, verquer und schief ist.
Das ist halt immer schwierig mit Übersetzungen. Mich hat - wie erwähnt - die Bildersprache eher verstört als begeistert. Hätte ich es auf Französisch gelesen, wäre ich vielleicht dem Inhalt zu folgen imstande gewesen (mühsam

), aber die sprachlichen Finessen (falls vorhanden) wären mir entgangen. Andererseits erschließt sich eine schöne metaphorische Sprache auch in Übersetzungen (etwa die "Recherche"), hier spürt man auch im Deutschen die Kraft der Beschreibungen.
Der Nationalsozialist hat mich ebenfalls befremdet. Ich vermute allerdings, dass es Calmet weniger um irgendwelche Preisrichter als Zielpublikum ging.
Ich meinte damit weniger, dass Chessex sich absichtsvoll eines solchen Kniffes bediente als vielmehr die Tatsache, dass die Verleiher von Literaturpreisen sich häufig davon beeindrucken lassen.
Er hat ja viel später unter dem Titel "Un juif par exemple" die Geschichte niedergeschrieben von einem der wenigen Juden (wenn es nicht gar der einzige war), der in der Schweiz von organisierten Nazis im wahrsten Sinne des Worts totgeschlagen wurde. Die Geschichte beruht auf Tatsachen und hat sich in Chessex' Heimatstadt, Payerne, tatsächlich in den Dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts ereignet. Und es ist Tatsache, dass man bei den Tätern auch eine Liste fand mit weiteren potentiellen Opfern - eine Liste, auf der sich auch der Name von Chessex' Vater befand. Von daher vermute ich, dass es Chessex eben auch darum ging, "den Vater", dem er offenbar eine Menge Dinge vorzuwerfen hatte, von genau diesem Vorwurf auszunehmen: Der Kinderfresser ist kein Nationalsozialist, ist nicht der Nationalsozialismus.
Den "Skandal" habe ich am Rande mitbekommen. Wobei ja immer nur die Reaktion auf solche Bücher der Skandal ist, dieses widerliche und reflexartige Reagieren in Richtung "Nestbeschmutzer". Denn der Dreck findet sich schon immer zuvor im Nest, darauf hat es sich der saturierte Spießbürger bequem gemacht und will einfach nicht hören, dass das Warme und Gemütliche und seinem Arsch einfach Scheiße ist.
Dass Chessex eine Gleichsetzung von NS-Regime und Vaterfigur zeigen hat wollen, kann ich auch nicht erkennen. Andererseits ähneln autoritäre Strukturen einander immer, Selbstgerechtigkeit, Selbstgefälligkeit eine Art von Unangreifbarkeit und Verbotskritik der eigenen Positionen findet sich sowohl in absolutistischen Staaten als auch bei vielen absolut herrschenden Vaterfiguren.
Der Nationalsozialist der Geschichte ist ein Nachtschattengewächs, in kindischer Heldenverehrung gefangen und letzten Endes unfruchtbar, hat also gar keine Kinder, die er fressen könnte. Weit und breit keine Proselyten. Selbst der Schwächling Calmet lässt sich nur zu einer einzigen, kindischen Verbalinjurie hinreissen durch ihn (die er dann, nüchtern geworden, auch wieder bereut). Der Nazi ist der einzige, der nicht Wein trinkt, das in jedem Sinn des Wortes klassische Getränk des Südens, der Latinität und von daher auch der französischsprachigen Schweiz. Der Nazi trinkt Bier - das Getränk des Nordens. Ein Fremdkörper also.
Diese "Verbalinjurie" habe ich bestenfalls indirekt mit den Nationalsozialisten in Zusammenhang gebracht. Mir schien das eher ein Wutschrei, dessen Richtung zufällig den ehemaligen jüdischen Schulkollegen traf, typischerweise eine Person, die an dieser Wut unschuldig ist. Es wird jemand angegriffen um des Angriffs willen, um seine eigene Frustration loszuwerden, die sich im Grunde auf den Vater, den Schuldirektor gerichtet hat. Trotzdem hat diese Szene für mich etwas Paradigmatisches die Schwäche des Romans betreffend, weil sie sich eben auf diesen Juden bezieht und damit bereits wieder ein weites Feld - auch politischer - Interpretationsmöglichkeiten verbirgt. So hätte es mir besser gefallen, wenn er einer selbstgefälligen, rotgesichtigen Hausfrau das Einkaufsnetz zerrissen, auf diese Weise Wut und Hilflosigkeit gezeigt hätte.
Preisrichter und Literaturkritik hat daran meist ihre helle Freude, kann man sich doch des eigenen Tiefsinns erfreuen bei der Interpretation.
Dazu gehöre ich dann wohl auch ... 
Hier könnte man möglicherweise abtrennen und einen Interpretationthread draus machen. Von der Zahl der Antworten abhängig

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Das mit der Interpretation bzw. mit dem Text, der eine solche nahelegt, ist eine zweischneidige Sache. Vielleicht aber ist auch hier Kafka das allerbeste Beispiel: Seine Werke fordern eine solche interpretative Herangehensweise heraus - aber sie bedürfen ihrer nicht. Kafka kann man nach meinem Dafürhalten "einfach lesen", seine Bilder des Prozesses oder der unangreifbaren Welt des Schlosses brauchen nicht explizit ausgelegt werden, sie erschließen sich wie automatisch beim Lesen, es bedarf überhaupt keiner intellektuellen Anstrengung, keiner Vivisektion der Texte, um sie verstehen, genießen zu können. (Es bedarf, auch wenn die dominierende Vaterfigur (s. "Brief an den Vater") eine große Rolle spielt, keinesfalls irgendwelcher psychoanalytischer Werkzeuge, um sie zu verstehen. Kafka hat eine Familiensituation vorgefunden, wie sie es häufiger kaum gab: Dominierender Vater, zurückhaltende, mit dieser Situation sich scheinbar - oder tatsächlich - abfindende Mutter. Deshalb sind m. E. seine Texte auch leicht verständlich, ohne große interpretatorische (gar psychoanalytische) Anstrengung. Man ist einer Macht, Autorität ausgeliefert, man ist zerrissen zwischen Bewunderung dieser Macht und Angst, man liebt und hasst gleichzeitig und ist diesen Gefühlen ausgeliefert. Kinder, die eine wenig angenehme Erziehung genossen haben, kennen das nur allzu gut: Man muss einen schlagenden Vater erst hassen lernen, muss lernen, dass man all die Qual nicht wie selbstverständlich verdient hat. Gerade dieser Prozess ist ein so schmerzhafter, dieses Erkennen, dass man diese Ungerechtigkeiten, Schläge _nicht_ verdient hat. Aber das kennt in unterschiedlich starker Ausprägung fast jedes Kind, ohne es explizit sprachlich benennen zu müssen, es kennt fast jeder Mensch (da ein solches Empfinden auch beim Erwachsenen oft noch nachwirkt). Deshalb kann man bei Kafka ein intuitives Verständnis fast voraussetzen, deshalb erschließt sich für beinahe jeden Leser das Bedrückende, Verstörende, Ängstigende dieser Literatur. Und hier wird vielleicht auch der Unterschied zwischen guter und weniger guter Literatur sichtbar: Dort, wo der Text fast zwangsläufig eine mühselige, interpretatorische, intellektuelle Auseinandersetzung erfordert, wo es ohne solchen Ansatz nicht abgeht, hat der Autor geschlampt. Man _kann_ dies tun; wenn man es gezwungen ist zu tun, ist's die von mir monierte Literatur für Preisverleihungen.)
Außerdem - eine Art Crossposting: Im Thread zur Strudlhofstiege im Klassikerforum wurde darauf hingewiesen, dass Doderer häufig in seinen Bildern verschiedenstes Gewürm erwähnt. Bei der Interpretation dieser "Bilder" aber wäre ich sehr vorsichtig, teilweise empfinde ich eine solche als kontraproduktiv. Diese Metaphern sind treffend, schön, sie sind in ihrer Genauigkeit häufig das, was dann (gute) Literatur ausmacht. (Bei Proust widerfährt dem Leser das auch häufig: Man liest die bildliche Umschreibung, nickt - ja, genau so. Wundervoll ...) Warum aber gerade die Schlange (der (Lind-)Wurm) als Bild? Woraus bestreitet ein Autor seine Be- und Umschreibungen? Wählt er sie nach mythologischen, prospektiv-interpretatorischen Gesichtspunkten aus? Oder aber ist es einfach nur der Pool an Erlebnissen, Erinnerungen? Ich würde nun diesem mehr Wichtigkeit zugestehen als jenem, ich postuliere die These, dass dieser intuitiv verwendete Gedächtnispool eine bessere Funktion für die Umschreibung von Zuständen, Eigenheiten bietet als der schon im Hinblick auf mögliche Interpretationen verwendete (künstliche?) Vorrat. Und Erinnerungen, Erlebnisse, Gedächtnis werden aus mehr-weniger zufälligen Quellen gespeist. So etwa bewirkt bei mir die Verwandtschaft mit einem Paläontologen eine gewissen Neigung zu urzeitlicher Terminologie, so ist der Historiker Doderer über die Mediävistik möglicherweise zu seinen Lind-Wurm-Bildern gestoßen. Er bedient sich einfach des Vorhandenen - und was er draus macht und wie - ist schließlich entscheidend für die Qualität des Geschriebenen (bei Doderer höchst großartig).
lg
orzifar