Author Topic: Interpretation & Co - ausgehend von Chessex' "Kinderfresser"  (Read 4250 times)

Offline orzifar

  • Administrator
  • *****
  • Posts: 2 947
Hallo!

Das Katzenmädchen. Chessex brauchte offenbar eine Gegenfigur zum Vater. Was ist ein Katzenmädchen? Eine Kätzin. Was ist eine Kätzin auf Französisch? Une chatte. Was ist "la chatte" auf Deutsch? Richtig - die Muschi. Der Vater, die alte und eigentlich schon längst tote, aber dennoch noch immer präsente männliche Sexualität und Promiskualität; die Kätzin, die junge, weibliche, sanftere Sexualität und Promiskualität, letzten Endes aber genauso egoistisch wie die paternalistische Spielart. Das ist konstruiert, richtig. Aber ohne dieses Konstrukt wäre der Roman schon nach 20 oder 30 Seiten zu Ende.

Nun gut, das müsste natürlich nicht so sein, auch ohne Muschi ließe sich ein ganzer Roman verfassen. Allerdings kann ich natürlich dem Autor nicht gut vorschreiben, welchen Roman er verfassen soll. Die Enttäuschung hatte - auch - etwas mit euren Beiträgen zu tun, die sehr viel mehr auf die Vater- und Erziehungsproblematik Bezug nahmen denn auf die sexuellen Kalamitäten des Protagonisten. Solche interessen mich meist nicht besonders und möglicherweise hätte ich im Wissen darum das Buch gar nicht gelesen.

Ausserdem gehe ich davon aus, dass Chessex hier "tongue in the cheek" schreibt, den Leser also ein bisschen irreführt. Die Erzählung findet zwar in der Er-Form statt, anscheinend objektiv die Tatsachen berichtend - genau gesehen, erfahren wir aber die Welt immer und ausschliesslich aus der Sicht von Jean Calmet. Vielleicht war ja die "Realität" so, dass Calmet die Kätzin gesehen hat, seinen Zusammenbruch hatte und danach die Kätzin weggegangen ist - ohne ihn? Und der Rest sind Calmets Halluzinationen, seine Wunsch- und Angstträume? Eine Geschichte auf 2 Ebenen, sozusagen. (Ich sehe gar noch eine dritte (Wohl nicht umsonst ist Calmet Lateinlehrer, also Lehrer einer klassischen Sprache): Zeus, dem es nicht gelungen ist, sich vor seinem Vater zu verstecken, dem es nicht gelungen ist, seinen Vater zu entmannen, sondern der seinerseits von seinem Vater entmannt und verschluckt wird. Und die Kätzin wäre dann Aphrodite, nicht die Schaumgeborene, sondern die Wollknäuelgeborene.)

Variante drei ist geschenkt ;). Aber der Gedanke, dass es sich ab Teil zwei um die phantasierten Vorstellungen des immer mehr ins Irreale abgleitenden Calmet handelt, ist mir auch gekommen. Das würde nun zu einem Teil die nicht plastischen Figuren erklären, aber  dann auch doch wieder nicht. Auch solche "Traumfiguren" müssen ja ein bestimmtes Maß an Plausibilität erfüllen - und sie können das auch. Kafka (natürlich, durch diesen Vergleich ist die Latte sehr hoch gelegt und der arme Chessex kann nur verlieren) schafft solche "irreale" Figuren ebenfalls und sie machen nicht im mindestens diesen Kunstgriffeindruck des Katzenmädchens (& Co).

Ich habe mein Buch gerade nicht zur Hand. Aber ich erinnere mich daran, dass mich die Stelle auch etwas befremdet hat. Sie ist im Französischen nicht so krass, wie im Deutschen. Ich habe diese Bilder dann Calmets Sexualität zugeschrieben, die ja, wie Du von der sie schildernden Sprache sagst, verquer und schief ist.

Das ist halt immer schwierig mit Übersetzungen. Mich hat - wie erwähnt - die Bildersprache eher verstört als begeistert. Hätte ich es auf Französisch gelesen, wäre ich vielleicht dem Inhalt zu folgen imstande gewesen (mühsam ;)), aber die sprachlichen Finessen (falls vorhanden) wären mir entgangen. Andererseits erschließt sich eine schöne metaphorische Sprache auch in Übersetzungen (etwa die "Recherche"), hier spürt man auch im Deutschen die Kraft der Beschreibungen.

Der Nationalsozialist hat mich ebenfalls befremdet. Ich vermute allerdings, dass es Calmet weniger um irgendwelche Preisrichter als Zielpublikum ging.

Ich meinte damit weniger, dass Chessex sich absichtsvoll eines solchen Kniffes bediente als vielmehr die Tatsache, dass die Verleiher von Literaturpreisen sich häufig davon beeindrucken lassen.

Er hat ja viel später unter dem Titel "Un juif par exemple" die Geschichte niedergeschrieben von einem der wenigen Juden (wenn es nicht gar der einzige war), der in der Schweiz von organisierten Nazis im wahrsten Sinne des Worts totgeschlagen wurde. Die Geschichte beruht auf Tatsachen und hat sich in Chessex' Heimatstadt, Payerne, tatsächlich in den Dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts ereignet. Und es ist Tatsache, dass man bei den Tätern auch eine Liste fand mit weiteren potentiellen Opfern - eine Liste, auf der sich auch der Name von Chessex' Vater befand. Von daher vermute ich, dass es Chessex eben auch darum ging, "den Vater", dem er offenbar eine Menge Dinge vorzuwerfen hatte, von genau diesem Vorwurf auszunehmen: Der Kinderfresser ist kein Nationalsozialist, ist nicht der Nationalsozialismus.


Den "Skandal" habe ich am Rande mitbekommen. Wobei ja immer nur die Reaktion auf solche Bücher der Skandal ist, dieses widerliche und reflexartige Reagieren in Richtung "Nestbeschmutzer". Denn der Dreck findet sich schon immer zuvor im Nest, darauf hat es sich der saturierte Spießbürger bequem gemacht und will einfach nicht hören, dass das Warme und Gemütliche und seinem Arsch einfach Scheiße ist.

Dass Chessex eine Gleichsetzung von NS-Regime und Vaterfigur zeigen hat wollen, kann ich auch nicht erkennen. Andererseits ähneln autoritäre Strukturen einander immer, Selbstgerechtigkeit, Selbstgefälligkeit eine Art von Unangreifbarkeit und Verbotskritik der eigenen Positionen findet sich sowohl in absolutistischen Staaten als auch bei vielen absolut herrschenden Vaterfiguren.

Der Nationalsozialist der Geschichte ist ein Nachtschattengewächs, in kindischer Heldenverehrung gefangen und letzten Endes unfruchtbar, hat also gar keine Kinder, die er fressen könnte. Weit und breit keine Proselyten. Selbst der Schwächling Calmet lässt sich nur zu einer einzigen, kindischen Verbalinjurie hinreissen durch ihn (die er dann, nüchtern geworden, auch wieder bereut). Der Nazi ist der einzige, der nicht Wein trinkt, das in jedem Sinn des Wortes klassische Getränk des Südens, der Latinität und von daher auch der französischsprachigen Schweiz. Der Nazi trinkt Bier - das Getränk des Nordens. Ein Fremdkörper also.

Diese "Verbalinjurie" habe ich bestenfalls indirekt mit den Nationalsozialisten in Zusammenhang gebracht. Mir schien das eher ein Wutschrei, dessen Richtung zufällig den ehemaligen jüdischen Schulkollegen traf, typischerweise eine Person, die an dieser Wut unschuldig ist. Es wird jemand angegriffen um des Angriffs willen, um seine eigene Frustration loszuwerden, die sich im Grunde auf den Vater, den Schuldirektor gerichtet hat. Trotzdem hat diese Szene für mich etwas Paradigmatisches die Schwäche des Romans betreffend, weil sie sich eben auf diesen Juden bezieht und damit bereits wieder ein weites Feld - auch politischer - Interpretationsmöglichkeiten verbirgt. So hätte es mir besser gefallen, wenn er einer selbstgefälligen, rotgesichtigen Hausfrau das Einkaufsnetz zerrissen, auf diese Weise Wut und Hilflosigkeit gezeigt hätte.

Preisrichter und Literaturkritik hat daran meist ihre helle Freude, kann man sich doch des eigenen Tiefsinns erfreuen bei der Interpretation.

Dazu gehöre ich dann wohl auch ...  ;D

Hier könnte man möglicherweise abtrennen und einen Interpretationthread draus machen. Von der Zahl der Antworten abhängig ;).

Das mit der Interpretation bzw. mit dem Text, der eine solche nahelegt, ist eine zweischneidige Sache. Vielleicht aber ist auch hier Kafka das allerbeste Beispiel: Seine Werke fordern eine solche interpretative Herangehensweise heraus - aber sie bedürfen ihrer nicht. Kafka kann man nach meinem Dafürhalten "einfach lesen", seine Bilder des Prozesses oder der unangreifbaren Welt des Schlosses brauchen nicht explizit ausgelegt werden, sie erschließen sich wie automatisch beim Lesen, es bedarf überhaupt keiner intellektuellen Anstrengung, keiner Vivisektion der Texte, um sie verstehen, genießen zu können. (Es bedarf, auch wenn die dominierende Vaterfigur (s. "Brief an den Vater") eine große Rolle spielt, keinesfalls irgendwelcher psychoanalytischer Werkzeuge, um sie zu verstehen. Kafka hat eine Familiensituation vorgefunden, wie sie es häufiger kaum gab: Dominierender Vater, zurückhaltende, mit dieser Situation sich scheinbar - oder tatsächlich - abfindende Mutter. Deshalb sind m. E. seine Texte auch leicht verständlich, ohne große interpretatorische (gar psychoanalytische) Anstrengung. Man ist einer Macht, Autorität ausgeliefert, man ist zerrissen zwischen Bewunderung dieser Macht und Angst, man liebt und hasst gleichzeitig und ist diesen Gefühlen ausgeliefert. Kinder, die eine wenig angenehme Erziehung genossen haben, kennen das nur allzu gut: Man muss einen schlagenden Vater erst hassen lernen, muss lernen, dass man all die Qual nicht wie selbstverständlich verdient hat. Gerade dieser Prozess ist ein so schmerzhafter, dieses Erkennen, dass man diese Ungerechtigkeiten, Schläge _nicht_ verdient hat. Aber das kennt in unterschiedlich starker Ausprägung fast jedes Kind, ohne es explizit sprachlich benennen zu müssen, es kennt fast jeder Mensch (da ein solches Empfinden auch beim Erwachsenen oft noch nachwirkt). Deshalb kann man bei Kafka ein intuitives Verständnis fast voraussetzen, deshalb erschließt sich für beinahe jeden Leser das Bedrückende, Verstörende, Ängstigende dieser Literatur. Und hier wird vielleicht auch der Unterschied zwischen guter und weniger guter Literatur sichtbar: Dort, wo der Text fast zwangsläufig eine mühselige, interpretatorische, intellektuelle Auseinandersetzung erfordert, wo es ohne solchen Ansatz nicht abgeht, hat der Autor geschlampt. Man _kann_ dies tun; wenn man es gezwungen ist zu tun, ist's die von mir monierte Literatur für Preisverleihungen.)

Außerdem - eine Art Crossposting: Im Thread zur Strudlhofstiege im Klassikerforum wurde darauf hingewiesen, dass Doderer häufig in seinen Bildern verschiedenstes Gewürm erwähnt. Bei der Interpretation dieser "Bilder" aber wäre ich sehr vorsichtig, teilweise empfinde ich eine solche als kontraproduktiv. Diese Metaphern sind treffend, schön, sie sind in ihrer Genauigkeit häufig das, was dann (gute) Literatur ausmacht. (Bei Proust widerfährt dem Leser das auch häufig: Man liest die bildliche Umschreibung, nickt - ja, genau so. Wundervoll ...) Warum aber gerade die Schlange (der (Lind-)Wurm) als Bild? Woraus bestreitet ein Autor seine Be- und Umschreibungen? Wählt er sie nach mythologischen, prospektiv-interpretatorischen Gesichtspunkten aus? Oder aber ist es einfach nur der Pool an Erlebnissen, Erinnerungen? Ich würde nun diesem mehr Wichtigkeit zugestehen als jenem, ich postuliere die These, dass dieser intuitiv verwendete Gedächtnispool eine bessere Funktion für die Umschreibung von Zuständen, Eigenheiten bietet als der schon im Hinblick auf mögliche Interpretationen verwendete (künstliche?) Vorrat. Und Erinnerungen, Erlebnisse, Gedächtnis werden aus mehr-weniger zufälligen Quellen gespeist. So etwa bewirkt bei mir die Verwandtschaft mit einem Paläontologen eine gewissen Neigung zu urzeitlicher Terminologie, so ist der Historiker Doderer über die Mediävistik möglicherweise zu seinen Lind-Wurm-Bildern gestoßen. Er bedient sich einfach des Vorhandenen - und was er draus macht und wie - ist schließlich entscheidend für die Qualität des Geschriebenen (bei Doderer höchst großartig).

lg

orzifar
Derzeitige Lektüre:

Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831 - 1933
Hans Albert: Kritik des theologischen Denkens
Marshall Sahlins: Neue Wissenschaft des verwunschenen Universums. Eine Anthropologie fast der gesamten Menschheit
Mark Lilla: Der totgeglaubte Gott. Politik im Machtfeld der Religion.
Eugene Ionesco: Der Einzelgänger

Offline Anita

  • Full Member
  • ***
  • Posts: 239
    • Literaturblog
Interpretation & Co - ausgehend von Chessex' "Kinderfresser"
« Reply #1 on: 26. Mai 2010, 11.51 Uhr »
Hallo orzifar und Zusammen.

Ich habe gezögert, aber ich muss noch etwas in den Raum stellen. Mit der rein sachlichen Kritik an Stil, Sprache und Figuren, habe ich soweit keine Gegenargumente, weil es stimmt schon irgendwie. Die Kritik ist, wenn man es so sieht, angebracht. Nur war ich innerlich doch sehr verwundert, wieso man einen Chessex mit Kafka vergleicht  ;D Also ehrlich gesagt, das würde mir nicht einfallen. Ich lese nie einen Gegenwartsautor mit dem Anspruch, er müsse mir jetzt Kafka, Th. Mann oder Doderer ins Abseits schreiben. Bei der LR hatte ich nicht das Gefühl, ich müsste Chessex sprachlichen Stil analysieren, ich sah in dem Moment lediglich, dass er eine Interpretationsvielfalt lieferte; persönlich fand ich seine innere kritische Haltung angenehm, und dass er sehr atemlos zu lesen war.

Womit ich dann wirklich meine Probleme habe, ist die rein subjektive Betrachtung, warum soll ich als Leser nicht interpretieren? Mir ist es im grunde egal ob ich damit auf der Nase lande, da ich vom Typ her (rein subjektiv) gerne aufräume, beim Lesen heißt das dann wohl analysiere, und nichts gerne im freien Raum stehen lasse.
Und Kafka beispielsweise fällt so typisch in das System von Freud, das macht doch dann Spaß, wenn man solche Verbindungen sieht und damit spielen kann.

Auch Schlangen, oder Lindwürmer, übertrage ich gerne, dass der Lindwurm eben keine reine Schlange ist, sondern wieder eine Zweiteilung hervorbringt, passt doch besten ins Bild von innen und außen  ;)

LG
Anita
« Last Edit: 26. Mai 2010, 13.56 Uhr by Anita »
Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.  Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"

Offline orzifar

  • Administrator
  • *****
  • Posts: 2 947
Interpretation & Co - ausgehend von Chessex' "Kinderfresser"
« Reply #2 on: 27. Mai 2010, 00.26 Uhr »
Hallo!

Bei der LR hatte ich nicht das Gefühl, ich müsste Chessex sprachlichen Stil analysieren, ich sah in dem Moment lediglich, dass er eine Interpretationsvielfalt lieferte; persönlich fand ich seine innere kritische Haltung angenehm, und dass er sehr atemlos zu lesen war.

Natürlich "muss" man nicht. Aber die Sprache eines Buches ist eben einer jener Bereiche, welche ich bei einer Analyse einer Kritik unterziehe (ob die nun positiv oder negativ ausfällt). Der Vergleich mit Kafka hat sich mir insofern angeboten, als zum einen die Thematik einer absoluten Autorität einschließlich des Verhaltens der "Unterdrückten" eine sehr ähnliche ist, zum anderen, weil sandhofer auf das möglicherweise Phantastische ab Teil zwei hingewiesen hat, ein surreales Element, das sich auch bei Kafka findet.

Womit ich dann wirklich meine Probleme habe, ist die rein subjektive Betrachtung, warum soll ich als Leser nicht interpretieren? Mir ist es im grunde egal ob ich damit auf der Nase lande, da ich vom Typ her (rein subjektiv) gerne aufräume, beim Lesen heißt das dann wohl analysiere, und nichts gerne im freien Raum stehen lasse.

Ich wollte ja keineswegs ein "Interpretationsverbot" aussprechen ;). Mir war nur am Hinweis gelegen, dass ein solches Vorgehen sowohl für das Verständnis als auch den Genuss von Literatur nicht selten kontraproduktiv ist. Doderers Gewürm mag dafür ein Beispiel sein: Ich glaube, dass er sich - wie weiland Obelix auf der Bühne - gar nichts dabei gedacht hat, er hat Bilder für die Umschreibung von Zuständen gesucht (und gefunden); kraft seiner ungeheuren sprachlichen Fertigkeit sind sie ihm wunderbar gelungen. Nicht mehr, nicht weniger. Aber selbstverständlich liegt mir nicht das Geringste daran, irgendjemanden die Freude an "fein- und tiefsinnigen" Untersuchungen zu nehmen. Allerdings erinnert mich derlei oft an eine vielleicht hiefür beispielhafte Universitätsprofessorin, welche ich zu kennen das zweifelhafte Vergnügen hatte, und die etwa bei Canetti bestimmte Wortarten zählte und aus der 500maligen Verwendung eines bestimmten Pronomens (oder wars was anderes, eine Interjektion? - ich muss das verdrängt haben ;)) im Gesamtwerk allerlei schlaue Schlüsse zog. Ich weiß nicht, ob die gute Madame viel Freude an der Literatur (und ihren Zählübungen) hatte (ihr permanent angewiderter Gesichtsausdruck ließ darauf schließen, dass sie es überhaupt mit Freude und Lachen so sehr nicht hatte, sie hatte etwas hauptberuflich "Ernsthaftes") - und ich zweifle auch, ob sehr viel zum Verständnis Canettis durch solche Zählreime beigetragen wird. Natürlich: Erlaubt ist, was gefällt und Spaß macht, womit auch schon ein gewisser "Sinn" erfüllt ist; ob nun aber das Tun sinnvoll ist in Bezug auf das Verständnis von Literatur will ich bezweifeln.

Zum anderen habe ich Literatur vorgetragen bekommen oder aber selbst unter die Menschheit zu bringen versucht. Und immer war mir vor allem um eines zu tun: Zu vermitteln, dass Lesen Freude macht, dass sich dem Lesenden (nicht nur von Belletristik, sondern auch von Fach- und Sachliteratur) Welten erschließen, die man mit Neugier und Faszination betreten kann und die unendlich weit sich erstrecken, sodass mit einem gewissen Vorrat an Büchern man sein ganzes Leben spannend zu gestalten vermag. Und ich habe ebenfalls erfahren, dass mit detailversessenen, oft erkünstelten Interpretationen diese Freude verloren zu gehen pflegt.

Und Kafka beispielsweise fällt so typisch in das System von Freud, das macht doch dann Spaß, wenn man solche Verbindungen sieht und damit spielen kann.

Ich halte die Psychoanalyse für eine Art Metaphysik, für eine seltsame Mischung aus Banalitäten und Trivialitäten mit der Beigabe von esoterischen Verstiegenheiten. Weshalb ich mir mit jedweder psychoanalytischer Interpretation - vorsichtig ausgedrückt - sehr schwer tu. Ich halte es schlicht für überflüssig, an seine Bücher derartig armiert heranzugehen, wie ich oben schrieb: Die bedrückende Atmosphäre dieser Literatur erschließt sich intuitiv, wer die Ohnmacht, das Ausgeliefertsein nicht im Lesen selbst erfasst, wird auch mit Freudscher Herangehensweise nicht schlauer werden.

Auch Schlangen, oder Lindwürmer, übertrage ich gerne, dass der Lindwurm eben keine reine Schlange ist, sondern wieder eine Zweiteilung hervorbringt, passt doch besten ins Bild von innen und außen  Wink

Hm :) - ich weiß nicht recht ;).

lg

orzifar
Derzeitige Lektüre:

Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831 - 1933
Hans Albert: Kritik des theologischen Denkens
Marshall Sahlins: Neue Wissenschaft des verwunschenen Universums. Eine Anthropologie fast der gesamten Menschheit
Mark Lilla: Der totgeglaubte Gott. Politik im Machtfeld der Religion.
Eugene Ionesco: Der Einzelgänger

Offline Anita

  • Full Member
  • ***
  • Posts: 239
    • Literaturblog
Interpretation & Co - ausgehend von Chessex' "Kinderfresser"
« Reply #3 on: 27. Mai 2010, 11.20 Uhr »
Hallo ...

Also Wörter zählen würde mir nie einfallen, obwohl wo du das sagst, im Abi stand das eine Zeit lang auf dem Programm, wir sollten ein Gefühl für Sprache bekommen (wo ich dabei bin: Kafka wurde auch mit der Dreiteilung von Freud präsentiert). Wenn man so einen Text durchschaut, bleibt es tatsächlich irgendwelche beschriebene Seiten und keine Erzählung.

Aber warum ich hier schreibe, ist, dass ich bei aller Interpretation nie absolut bin. Wenn ich das Buch zugeschlagen habe, bis dahin habe ich dann eine Meinung vom Buch, aber wärend der Lektüre ist alles offen. Innerlich bin ich das Chaos mit Harmoniesucht, also muss ein Buch auch aufgeräumt werden, aber wie die Ordnung am Schluss aussieht ...; meine Bücherregale räume ich ständig um  ;D

Speziell zum Buch heißt das, was immer ich auch bei der Lektüre für Ideen hatte, mein letztlicher Gedanke war folgender:

Quote
Mit wenigen Seiten packt das Büchlein ein breites Spektrum aus!

Der Benjamin, der fünfte Spross, einer autoritären Familienhierarchie leidet sehr unter dem Druck des Familienoberhaupts. Der Vater ist ein erfolgreicher Arzt und ist in seinen Kreisen hoch angesehen, er sitzt am oberen Ende des Tisches, die Mutter reicht ihm demütig die Speisen und seine vier Geschwister essen auswärts, sie haben fluchtartig das Haus verlassen. So ist Jean Calmet hilflos dem Tyrannen ausgeliefert, entwickelt sich zum Einsiedler und fristet ein trauriges Dasein.

Kennzeichnend für diese Entwicklungsstudie im Roman ist Isabelle. Jean bewundert diese junge Frau und fühlt sich auch von ihr sexuell angezogen. Doch wenig später erwischt er seinen Vater beim Beischlaf mit Isabelle und eine Welt bricht für ihn zusammen.

Das Werk handelt von einem patriarchalischen Übervater, den man nichts recht machen kann und der praktisch unfehlbar ist. Sein jüngster Sohn kann sich gegen diese Übermacht nicht zur Wehr setzten. Und so verlegt der Hilflose seine >Unmacht< auf seine gefügige Mutter, dadurch wird auch diese Beziehung gestört. Diese Konstellation führt zu einem Zustand der Minderwertigkeit und ist gespickt mit Schuld. - und Angstkomplexen, die allesamt lebensunfähig machen. Chessex zeichnet wunderbar das Bild des Kindlifresser-Brunnens in Bern.

Sehr vielschichtig ist dieses außergewöhnliche Büchlein. Der Inhalt lässt sich leicht in sehr viele unterschiedliche Richtungen interpretieren und öffnet viele Türen. Dadurch bin ich auf den Geschmack gekommen, und habe mir gleich „Ein Jude als Exempel“ bestellt, welches ich später beginnen werde. Klasse Buch!

LG
Anita
« Last Edit: 27. Mai 2010, 12.42 Uhr by Anita »
Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.  Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"

Offline sandhofer

  • Administrator
  • *****
  • Posts: 6 785
Interpretation & Co - ausgehend von Chessex' "Kinderfresser"
« Reply #4 on: 05. Juni 2010, 09.21 Uhr »
Vielleicht aber ist auch hier Kafka das allerbeste Beispiel: Seine Werke fordern eine solche interpretative Herangehensweise heraus - aber sie bedürfen ihrer nicht. [...] Dort, wo der Text fast zwangsläufig eine mühselige, interpretatorische, intellektuelle Auseinandersetzung erfordert, wo es ohne solchen Ansatz nicht abgeht, hat der Autor geschlampt.

Da gehe ich mit Dir völlig einig: Ein guter Text kann, muss aber nicht interpretiert werden. Und möchte hinzufügen: Ein Text, den ich auch nicht interpretieren kann, ist - zumindest vom literarischen Gesichtspunkt - kein guter Text. Aus dieser Sicht ist der Kinderfresser sicher ein guter Text, wenn auch kein Jahrhunderttext. Vielleicht ist meine relativ hohe Einschätzung des Textes auch "historisch" bestimmt: Chessex war für mich einer der ersten bekannteren und besseren zeitgenössischen Autoren und bzw. Texte, bei denen nicht mehr der Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg und dessen traumatisierenden Erlebnisse im Zentrum standen, nicht mehr die Schuld oder Nicht-Schuld an diesen Ereignissen - sondern im Grunde genommen das banale Alltagsleben, wie ich es auch vor meiner Haustüre vorfinden konnte. Und dennoch kein banaler Text.
Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

Offline orzifar

  • Administrator
  • *****
  • Posts: 2 947
Interpretation & Co - ausgehend von Chessex' "Kinderfresser"
« Reply #5 on: 08. Juni 2010, 00.36 Uhr »
Hallo!

Vielleicht habe ich auch einen zu engen Interpretationsbegriff. Selbstredend ist ein guter Text nur jener, über den man auch reden (= den man interpretieren?) kann. Die für mich negative Konnotation des Begriffs "Interpretation" rührt von diesen meist psychoanalytisch-mythologischen Auslegungen, wo jede Pflanze, jedes Tier in Hinsicht auf ihre literargeschichtliche Verwendung untersucht und abgeklopft wird. Das artet dann häufig in eine Schnitzeljagd in Richtung auf ach so verborgene Bedeutungen aus und jedes noch so abstruse Detail wird beklatscht.

Im Rahmen eines Uni-Seminars (Lyrik des Barock) wollte ich das seinerzeit ironisieren inmitten eines Haufens von abgehobenen Lyrik-Schnöseln, die vor lauter intellektueller Entrücktheit kaum noch in der Lage schienen, ohne Hilfe aufs Scheißhaus zu finden. Ergo - orzifar krallt sich die Lilie (ja, jene auf dem Felde), die in diesem Gedicht fröhliche Urständ feierte und schrieb eine mythologische Kulturgeschichte derselben, die selbstredend mit dem Gedicht nichts mehr zu tun hatte (die Lilie steht etwa als Sinnbild für den Eselsphallus, wie ich überhaupt allerlei botanischen, kulturgeschichtlichen Krimskrams dabei gelernt hab. An und für sich nicht so uninteressant, der arme Barockdichter aber hatte mich Sicherheit keine Ahnung davon.) Und so habe ich mit Verve und beredt meinen Schmarrn vorgetragen - und schon während ich da vorm Auditorium meinen Schwachsinn absonderte, hab ich mit Schrecken die aufgeschlossenen Blicke gewärtigt, das Nicken und gefällige Staunen - und während ich mutiger werdend immer mehr Abenteuerliches erfunden habe, wuchs und wuchs die Zustimmung und schließlich war man des Lobes voll für diesen mir aus den Fingern gesogenen Blödsinn. So, genau so habe man zu Werke zu gehen, mit Detailwissen und auch den engen geisteswissenschaftlichen Bereich verlassend (in meiner Bekanntschaft gab es stets einige Biologen, die mich mit Blütendetails und Blattzahl versorgten, woraus sich kabbalistische Zahlenrätsel zu ergeben schienen, welcher der tiefen die tiefste Bedeutung erst wahrlich gaben).

Wie gesagt - ich weiß nicht recht. Viele Interpretationen machen auf mich den Eindruck, als ob man auf Teufel komm raus Klimaerwärmung zu betreiben wünschte; ob dies nun auf universitärer Ebene geschieht oder aber "laienhaft". Der Unterschied liegt häufig nur in der geringeren motivgeschichtlichen Belesenheit dieser, im elaborierten, oft der Unverständlichkeit zuneigenden Sprachcode jener. Das, was ich etwa bislang über Kafka an Sekundärliteratur gelesen habe, war zum allergrößten Teil totaler Schund, oberflächlich, voneinander abgeschrieben, wo Sekundärliteraten entweder fröhliches Eierschaukeln betrieben oder aber großartige Fehden ausfochten darüber, wo nun das Phallussymbol bei der gerade zu sezierenden Erzählung zu finden sei. Mit Grausen erinnere ich mich auch an ein entsprechendes literaturwissenschaftliches Seminar, bei dem alle Teilnehmer auf mich den Eindruck machten, als ob ihnen am Verständnis Kafkas und dessen Werke im Grund überhaupt nichts gelegen sei, sondern nur an der Entwicklung mehr-weiniger abstruser Thesen, an ihrem eigenen Erguss, der rein zufällig irgendwo den Namen Kafka im Title führte.

Entscheiden kann man (ich!) die Sinnhaftigkeit solchen Unterfangens immer nur am konkreten Beispiel. Meine Skepsis diesbezüglich wurde - u. a. - durch das oben angeführte Beispiel genährt. Da ich selbst fähig war, scheinbar geistreiche Interpretationen zu verfassen, den Sprachduktus solcher Beiträge nachzuahmen, mich der entsprechenden Terminologie einigermaßen gewandt zu bedienen, wurde mir das (oft - nicht immer) Hohle solcher literaturkritischen Versuche, das bloße Wortgeplänkel vor Augen geführt. Das Oberflächliche, Undurchdachte, mit den entsprechenden Phrasen Durchsetzte hat (in meinem Fall) dann immer am meisten Lob gefunden. Eine entsprechende technische Fertigkeit vorausgesetzt kann man - empirischer Wert - zumeist einen stupenden Unsinn als große Erkenntnis verkaufen (deshalb mein nicht geringes Amusement für das Buch bzw. den Beitrag von Sokal, Bricmont (Buchtitel: Eleganter Unsinn) die zwar nur - entsprechend ihrer Ausbildung - die unsinnige, oft lächerliche Verwendung naturwissenschaftlicher Terminologie bei geisteswissenschaftlichen "Erkenntnissen" aufgezeigt haben, deren Vorgehensweise aber auch in anderen Bereichen Anwendung finden kann.)

lg

orzifar
Derzeitige Lektüre:

Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831 - 1933
Hans Albert: Kritik des theologischen Denkens
Marshall Sahlins: Neue Wissenschaft des verwunschenen Universums. Eine Anthropologie fast der gesamten Menschheit
Mark Lilla: Der totgeglaubte Gott. Politik im Machtfeld der Religion.
Eugene Ionesco: Der Einzelgänger

Offline Anita

  • Full Member
  • ***
  • Posts: 239
    • Literaturblog
Re:Interpretation & Co - ausgehend von Chessex' "Kinderfresser"
« Reply #6 on: 09. Juni 2010, 11.12 Uhr »
Hallo orzifar.

Oh ja, ich kann mir das gut vorstellen. Vor sieben bis sechs Jahren war ich in einem Autorenforum, ich selber schrieb Lyrik  ;) Daher rührten so Metaphern wie "Pferdeherz im Kieselstein"  ;D Es war fast wie ein Wettlauf, wer die besten lyrischen Bilder "erfand", damit andere damit spielen können. (Insgesamt war es aber eine sehr inspirierende Zeit  :angel: )

Ich bin halt so ein spontaner und phantasieüberfüllter Kindskopf, wenn ich im Text Türen und Tore verspüre, dann geht das ohne jegliches Dazutun los. Es ist als ob alle emotionalen Ventile durch den Druck platzen, und ich stehe mitten drin. Bum! (Dies macht mir aber ungeheuren Spaß, deshalb lasse ich das einfach so.) Ich muss dann einen Schritt zurück treten, meinen "Verstand" an den Text lassen, und diese Ebene lotet es dann aus  ;)

Deshalb sind mir persönlich Bücher/Texte wesentlich lieber, die Interpretationen zulassen. Aber ich kann Kafka auch als solchen einfach stehen lassen. "In der Strafkolonie" beispielsweise braucht es keine Übergestalt vom Vater, die Botschaft liest sich auch so heraus.

LG
Anita
« Last Edit: 09. Juni 2010, 19.52 Uhr by Anita »
Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.  Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"