Author Topic: Herta Müller, "poetische Prosa"  (Read 6969 times)

Offline orzifar

  • Administrator
  • *****
  • Posts: 2 947
Herta Müller, "poetische Prosa"
« on: 12. Dezember 2009, 17.01 Uhr »
Giesbert hat diesen Link im Klassikerforum gepostet - und wenn ich László F. Földényi auch nicht überall hin folgen kann, so scheint er mir mit seinen Ausführungen zum Kitsch, zum überdrehten, poetischen Wortgeklingel doch eine sehr gute Charakteristik der "Hochliteratur" zu geben. Ich selbst halte solche Wortschöpfungen wie "Hungerengel" maximal fünfmal pro Roman aus, dann beginnen sich mir die Zehennägel zu kräuseln und ich muss diesem abgehobenen Gesang irgendein kräftiges "Scheiße" entgegenhalten. Schön dazu auch das Zitat von Kertész: "Es ist zu fürchten, dass die ins literarische Lösungsmittel getauchte Form nie wieder ihre (...) Lebendigkeit zurückgewinnt".

Diese Skepsis mag mit meiner distanzierten Haltung zu lyrischen Emanationen aller Art zu tun haben. Kann ich Goethe oder Rilke noch einiges abgewinnen, so vermag ich bei so manchen "hermetischen" Lyrikergüssen mich nur fundamental zu langweilen, stundenlanges Sitzen über Versen und Forschen nach dem Sinn derselben ist das meine nicht. Und so ist auch diese vermeintlich lyrische Prosa für mich meist nur schwer erträglich. Wobei ich von Herta Müller nur wenige Seiten kenne und also auf sie nur mittelbar Bezug nehmen kann. Ein typisches Beispiel für Prosa dieser Art ist Sylvie German ("Die weinende Frau in den Straßen von Prag"), wer's nicht kennt, dem sei ans Herz gelegt, dieser Unkenntnis nicht abzuhelfen. Man kann seine Zeit sinnvoller verbringen.

lg

orzifar
Derzeitige Lektüre:

Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831 - 1933
Hans Albert: Kritik des theologischen Denkens
Marshall Sahlins: Neue Wissenschaft des verwunschenen Universums. Eine Anthropologie fast der gesamten Menschheit
Mark Lilla: Der totgeglaubte Gott. Politik im Machtfeld der Religion.
Eugene Ionesco: Der Einzelgänger

arbor

  • Guest
Re:Herta Müller, "poetische Prosa"
« Reply #1 on: 12. Dezember 2009, 18.39 Uhr »
...

Diese Skepsis mag mit meiner distanzierten Haltung zu lyrischen Emanationen aller Art zu tun haben. Kann ich Goethe oder Rilke noch einiges abgewinnen, so vermag ich bei so manchen "hermetischen" Lyrikergüssen mich nur fundamental zu langweilen, stundenlanges Sitzen über Versen und Forschen nach dem Sinn derselben ist das meine nicht. ... Man kann seine Zeit sinnvoller verbringen.

lg

orzifar

Zum Glück sind Geschmäcker verschieden - also suum cuique. Als Lyrikfan finde ich auch lyrische Prosa lesenswert, weil banale Sprachmuster schon zur Genüge in unserer Welt herumschwirren (und ich nicht der Meinung bin, dass es Aufgabe von Literatur, der öden Wirklichkeit auch noch öde Worte hinzuzufügen).

Es ist auch nicht Aufgabe von Lyrik, dass einer davorsitzt und einen "Sinn" zu ergrübeln versucht; jeder bringt seine Assoziationen mit und kann herauslesen, was er selbst für "sinnvoll" hält - einen Sinn a priori gibt es nicht.

Was Herta Müller angeht, werde ich sie aus anderen Gründen nicht lesen. Was kümmert mich das Rumänien der Securidade? Und Berichte über das, was der "homo homini lupus" so anstellt gibt es schon genug; auch da schätze ich die parabelhaften Stücke eines Franz Kafka mehr als detailreiche Schilderungen der sog. Wirklichkeit, die doch nie an diese heranreichen.

Offline orzifar

  • Administrator
  • *****
  • Posts: 2 947
Re:Herta Müller, "poetische Prosa"
« Reply #2 on: 12. Dezember 2009, 21.52 Uhr »
Was Herta Müller angeht, werde ich sie aus anderen Gründen nicht lesen. Was kümmert mich das Rumänien der Securidade? Und Berichte über das, was der "homo homini lupus" so anstellt gibt es schon genug; auch da schätze ich die parabelhaften Stücke eines Franz Kafka mehr als detailreiche Schilderungen der sog. Wirklichkeit, die doch nie an diese heranreichen.

Naja, das halte ich für kein Argument. Dann dürftest du auch den Sebald nicht lesen; zum einen wegen des homo homini ..., zum anderen weil es wohl kaum ein öfter in der Literatur behandeltes Thema gibt als das des Schicksals von Juden im Dritten Reich. Ich glaub auch nicht, dass der eigentliche "Plot" von großer Wichtigkeit ist, vielmehr die Art der Darstellung. Weshalb der eine Autor über einen eingewachsenen Zehennagel interessanter zu berichten vermag als ein anderer über ein dramatisches Schicksal im KZ.

lg

orzifar
« Last Edit: 12. Dezember 2009, 22.33 Uhr by orzifar »
Derzeitige Lektüre:

Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831 - 1933
Hans Albert: Kritik des theologischen Denkens
Marshall Sahlins: Neue Wissenschaft des verwunschenen Universums. Eine Anthropologie fast der gesamten Menschheit
Mark Lilla: Der totgeglaubte Gott. Politik im Machtfeld der Religion.
Eugene Ionesco: Der Einzelgänger

arbor

  • Guest
Re:Herta Müller, "poetische Prosa"
« Reply #3 on: 13. Dezember 2009, 08.22 Uhr »
... aber Sebald entwickelte eine eigene Sprache, einen ganz eigenen "Sebald-Ton", den man schon nach wenigen Worten heraushört - und das vor allem macht ihn für mich als Leser reizvoll ...

Offline mombour

  • Hero Member
  • *****
  • Posts: 593
    • Martin Stauder  Prosa & Lyrik
Re:Herta Müller, "poetische Prosa"
« Reply #4 on: 13. Dezember 2009, 16.38 Uhr »
Hallo arbor,

soweit ich Herta Müller kenne, hat auch sie auch ihren eigenen Ton. Wenn man ein Kapitel aus den "Niederungen" liest, dann ein Kapitel aus "Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt", kann man leicht darauf kommen, dass es sich um ein und dieselbe Autorin handelt. Es kommt jetzt nur darauf an, ob einem dieser Ton gefällt.

Zum "Hungerengel": Natürlich sollte man eine Metapher nicht überstrapazieren. Herta Müller gebraucht im Fasan sehr viele Metaphern. Ich wäre selber nicht darauf gekommen, dass man so was als Kitsch bezeichnen könnte. Zur "Atemschaukel" gibt es so viele Meinungen, auch konträre Meinungen, sodass ich den Roman lieber erstmal selber lese, bevor ich mich dazu äußere. Mehr als fünfmal "Hungerengel" im Roman verträgt sich allerdings nicht. Da stimme ich orzifar zu.

Liebe Grüße
mombour

Thomas Hardy: Herzen in Aufruhr
Fernando Pessoa: Buch der Unruhe

Offline orzifar

  • Administrator
  • *****
  • Posts: 2 947
Re:Herta Müller, "poetische Prosa"
« Reply #5 on: 13. Dezember 2009, 16.44 Uhr »
... aber Sebald entwickelte eine eigene Sprache, einen ganz eigenen "Sebald-Ton", den man schon nach wenigen Worten heraushört - und das vor allem macht ihn für mich als Leser reizvoll ...

Und wenn Sebald über die Securitate schreiben, Herta Müller einen wunderbaren, ihr eigenen Stil pflegen würde (was ich mangels Kenntnis der Autorin nicht zu beurteilen vermag)? (Siehe mombours Beitrag ;))

Hast du nicht das Gefühl, dass da in deiner Argumentation ein Widerspruch verborgen ist?

lg

orzifar
Derzeitige Lektüre:

Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831 - 1933
Hans Albert: Kritik des theologischen Denkens
Marshall Sahlins: Neue Wissenschaft des verwunschenen Universums. Eine Anthropologie fast der gesamten Menschheit
Mark Lilla: Der totgeglaubte Gott. Politik im Machtfeld der Religion.
Eugene Ionesco: Der Einzelgänger

arbor

  • Guest
Re:Herta Müller, "poetische Prosa"
« Reply #6 on: 13. Dezember 2009, 18.52 Uhr »
... na und?  :P

Denken und Sein werden vom Widerspruch bestimmt.
Aristoteles

Zwei Wahrheiten können sich nie widersprechen.
Galileo

Das Gleiche lässt uns in Ruhe, aber der Widerspruch ist es, der uns produktiv macht.
Goethe

... ich denke, ich habe die Kraft des Kreativen auf meiner Seite ...

Offline orzifar

  • Administrator
  • *****
  • Posts: 2 947
Re:Herta Müller, "poetische Prosa"
« Reply #7 on: 13. Dezember 2009, 19.17 Uhr »
Damit hast du ein wunderbares Beispiel dafür geliefert, weshalb mir vor Sprichwörtern und Aphorismen graut ;). Mit dem Büchmann im Rucksack kann man auch aus Hitler einen Friedensnobelpreisträger machen. Ernsthafter: Ohne auch nur ansatzweise stichhaltige Argumente ist eine Diskussion unmöglich. Und ein Forum sollte Plattform für Diskussionen sein. Ansonsten müssten wir aus dem hier eine Pinnwand machen. Deshalb auch die Forenregeln: "Eine Diskussion ohne Argumente ist ein Unding. Daher ein kurzer (philosophischer) Hinweis: Ein Argument ist eine Aussage, die im Hinblick auf das Behauptete eine begründende Funktion in Anspruch nimmt." Logik inklusive. Ganz entfernt angelehnt an das Organon der deduktiven Logik bei Aristoteles.

lg

orzifar
Derzeitige Lektüre:

Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831 - 1933
Hans Albert: Kritik des theologischen Denkens
Marshall Sahlins: Neue Wissenschaft des verwunschenen Universums. Eine Anthropologie fast der gesamten Menschheit
Mark Lilla: Der totgeglaubte Gott. Politik im Machtfeld der Religion.
Eugene Ionesco: Der Einzelgänger

Offline mombour

  • Hero Member
  • *****
  • Posts: 593
    • Martin Stauder  Prosa & Lyrik
Re:Herta Müller, "poetische Prosa"
« Reply #8 on: 13. Dezember 2009, 20.47 Uhr »
Hallo,


... ich denke, ich habe die Kraft des Kreativen auf meiner Seite ...

Davon bin ich nicht so recht überzeugt, denn es fehlt mir deine kreative Stellungnahme zu meiner Behauptung, Herta Müller habe einen eigenen Ton. Für dich als Lyrikfan könnte Herta Müller durchaus interessant sein, gerade auch deshalb, weil sie wie Sebald einen ihr zugehörigen Ton hat.


Was Herta Müller angeht, werde ich sie aus anderen Gründen nicht lesen. Was kümmert mich das Rumänien der Securidade?

Ja gut, dann lernst du den Herta Müller-Ton eben nie kennen. :P

Liebe Grüße
mombour
Thomas Hardy: Herzen in Aufruhr
Fernando Pessoa: Buch der Unruhe

arbor

  • Guest
Re:Herta Müller, "poetische Prosa"
« Reply #9 on: 14. Dezember 2009, 05.39 Uhr »
Es gibt ja genug Seiten im Netz, auf denen Textauszüge aus Werken der Herta Müller zu lesen sind; mich spricht ihr Ton, den ich ihr sicher zugestehe, nicht an.
Wer Lyrik mag, muss ja nicht jede metaphorische Sprache mögen; es gibt auch hier Vorlieben und weniger geschätzte Formen...