Author Topic: Hermann Burger: Schilten  (Read 17975 times)

Offline sandhofer

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Hermann Burger: Schilten
« on: 21. November 2009, 07.06 Uhr »
Hallo zusammen!

Mit Schilten ist Hermann Burger - jedenfalls in der Schweiz (wieter reichte mein Horizont damals kaum) - praktisch schlagartig berühmt geworden. Die Geschichte des Schulmeisters, der sich vor seiner Schulkommission zu rechtfertigen sucht, war allerdings weit jenseits des Horizontes des damals nur wenig mehr als 20 Lenze zählenden sandhofer. Nun möchte ich also den Roman nochmals versuchen und freue mich auf und über die zahlreichen Mitleser in dieser Leserunde!

Grüsse

sandhofer
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Offline Imrahil

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Re:Hermann Burger: Schilten
« Reply #1 on: 21. November 2009, 11.59 Uhr »
Auch ich freue mich sehr auf meine 'Erstlektüre' von 'Schilten'. Von Burger kenne ich bislang die beiden Erzählungenbände 'Diabelli' und 'Blankenburg' (neben 'Schilten' praktisch das einzige von Burger, das heute im Buchhandel noch greifbar ist) sowie die Erzählung 'Der Schuss auf die Kanzel' Gerade letztere scheint mit 'Schilten' eng verwoben zu sein, was das Figurenpersonal anlangt. So gesehen habe ich die falsche Reihenfolge gewählt, aber das tut nichts. Ich werde heute, spätestens morgen die Lektüre aufnehmen in der neuen Ausgabe von Nagel& Kimche.

Imrahil

Offline Babur

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Re:Hermann Burger: Schilten
« Reply #2 on: 22. November 2009, 11.02 Uhr »
Die ersten Seiten von „Schilten“ habe ich gelesen, und versucht mir alles genau bildlich vorzustellen. Dann habe ich doch das Nachwort von Thomas Strässle vorgezogen (ich lese die Ausgabe von Nagel & Kimche) und dort Näheres zu den Örtlichkeiten in der realen Schweiz erfahren.

Gemäss Burger selber steht das Schulhaus von Schiltwald der Beschreibung des Schulhauses von Schilten Pate. Bei Google gibt es dazu sogar ein Foto.

http://mw2.google.com/mw-panoramio/photos/small/2404634.jpg

Allen an der Leserunde Beteiligten wünsche ich einen sonnigen Sonntag mit genügend Lesezeit. Der Nebel darf ruhig im Roman bleiben.

Grüsse

Babur

Offline orzifar

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Re:Hermann Burger: Schilten
« Reply #3 on: 24. November 2009, 20.12 Uhr »
Hallo!

Nachdem ich vom Pflegenden zum Patienten mutiert bin und mir die Bedeutung des Wortes "sterbens"-übel (insbesondere der in Form des Elativs verwendete Zusatz) auf eindrucksvolle Art und Weise klar wurde, habe ich des nächtens mit Schilten begonnen (und den Beiträgen nach zu urteilen bin ich nicht besonders weit in Rückstand geraten, bin Mitte des zweiten Quartheftes).

Obwohl ein Wiederlesen (das dritte Mal, die erste Lektüre liegt allerdings schon knapp 30 Jahre zurück) bin ich von neuem beeindruckt von diesem Buch, seiner Sprache, der morbid-sarkastischen Grundhaltung, die bei allem Humor immer die Verzweiflung spürbar werden lässt. Trotz der Komik (etwa der Charakterisierung des Betbruders Stälbli in seiner "Schleimsuppenblässe" und "oblatenhaften Transparenz") ist dies keine Darstellung, die milde lächelnd, gar nachsichtig die Lebenswelt dieser Schiltener beschreibt, sondern es ist ein leidender, schwer an sich tragender Galgenhumor. Der Landschullehrer Schildknecht schildert in 20 Quartheften sein Grauen vor dem dumpfen, bigotten Vegetieren seiner "Gemeinde", es ist ein Dokument der Unfähigkeit, sich mit dieser Umwelt zu arrangieren, mit Dummheit, Engstirnigkeit.

Das Schiltener Tal erinnert ein wenig an den Ort in Bernhards Frost, eine beklemmende Atmosphäre zwischen dumpfer Sexulität, Religiosität, konservativem Arbeitsethos (nur eben ist Burger Bernhard sprachlich weit überlegen). (Auch bei Franz Innerhofers findet sich eine ähnliche Beschreibung, dort vielleicht noch eindrucksvoller, schmerzhafter, weil man mit dem Wissen um den autobiographischen Hintergrund diese Bücher liest.) Und noch ein Autor fällt mir in diesem Zusammenhang ein: Walter E. Richartz mit seinem "Büroroman", der auch von diesem verzweifelten Humor geprägt ist, welcher sich nicht über den Gegenstand zu erheben vermag, keine Metaposition des Lächelns, sondern ausgeliefert dieser Welt, der zuerst der Sarkasmus, dann der Selbstmord gegenübergestellt wird.

lg

orzifar
Derzeitige Lektüre:

Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831 - 1933
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Offline sandhofer

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Re:Hermann Burger: Schilten
« Reply #4 on: 25. November 2009, 08.16 Uhr »
Ich habe meine wenige Lesezeit praktisch auf Schilten konzentriert und somit das 5. Quartheft beendet. Neben nostalgischen Gedanken (ich bin, wenn auch nicht in "Schilten", so doch in einem ähnlichen Kaff im selben Kanton aufgewachsen und in einem ähnlichen Schulhaus zur Schule gegangen) sind es vor allem Sprache und Witz, die mir ungeheuer gefallen und die ich von der Erstlektüre von vor ebenfalls rund 30 Jahren nicht mehr so in Erinnerung hatte. Zu Sprache und Witz kann ich nichts eigenes hinzufügen, orzifar hat sich da schon prägnant und erfolgreich geäussert.
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Offline Imrahil

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Re:Hermann Burger: Schilten
« Reply #5 on: 25. November 2009, 10.19 Uhr »
Ich habe mittlerweile die ersten vier Quarthefte gelesen.

Auffallend - wie schon geschrieben wurde - sind zunächst die sehr kunstreiche, wortgewaltige Sprache, die (im positiven Sinne) von einem Bescheidenheitsgestus nichts erkennen lässt, und der Humor. Dieser ist in der Tat nicht losgelöst vom Skurrilen, Morbiden und Verzweifelten zu denken, er ist deswegen aber umso pointierter, vielleicht böser. Der 'Dörrobst'-Humor der Lehrerzimmeratmosphäre hat mir besonders gefallen.
Weiterhin ist das omnipräsente Todesmotiv zentral, das im ersten Quartheft mit der Nachbarschaft von Schule und Friedhof, dies sich nachgerade gegenseitig bedingen, eingeführt und im zweiten Quartheft mit einer Art 'Friedhofkunde' fortgesetzt wird. Dazu passend im vierten Quartheft die Quintessenz: "Wo werdet ihr vorbereitet, beantwortet die Schulhauskunde; wer bereitet euch vor, beantwortet die Lehrerkunde; worauf werdet ihr vorbereitet, beantwortet die Friedhofkunde."
Die Todesräumlichkeiten werden im dritten Quartheft mit der Mörtelkammer und im vierten mit dem 'naturhistorischen Kabinett' ausgeweitet. Äusserst beeindruckend war für mich die Harmoniumszene: die lebendige Musik in der toten Umgebung und gleichwohl eine Musik, die so eng an den Tod, an die Beerdigungen gekoppelt ist.

@orzifar: Die Nähe zu Bernhard gibt Burger ja auch unumwunden zu, wenn er diesen als "meinen Prosalehrer" bezeichnet. Es gibt eine wunderbare Beschreibung Burgers, wie dieser unangemeldet Bernhard in Ohlsdorf besuchte (in: 'Ein Mann aus Wörtern'). Aber das ist Dir wahrscheinlich bekannt. Den Vergleich mit Innerhofer kann ich weniger nachvollziehen, weil die Perspektive eine ganz andere ist, die des "Verdingkindes", auch wenn die Atmosphäre in ihrer Beklemmung vielleicht ähnlich ist. Bei Innerhofer gibt es meines Erachtens aber keinen Humor, der die Atmosphäre auflockerte.

Imrahil

Offline orzifar

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Re:Hermann Burger: Schilten
« Reply #6 on: 25. November 2009, 16.35 Uhr »

@orzifar: Die Nähe zu Bernhard gibt Burger ja auch unumwunden zu, wenn er diesen als "meinen Prosalehrer" bezeichnet. Es gibt eine wunderbare Beschreibung Burgers, wie dieser unangemeldet Bernhard in Ohlsdorf besuchte (in: 'Ein Mann aus Wörtern'). Aber das ist Dir wahrscheinlich bekannt. Den Vergleich mit Innerhofer kann ich weniger nachvollziehen, weil die Perspektive eine ganz andere ist, die des "Verdingkindes", auch wenn die Atmosphäre in ihrer Beklemmung vielleicht ähnlich ist. Bei Innerhofer gibt es meines Erachtens aber keinen Humor, der die Atmosphäre auflockerte.

Selbstverständlich betraf der Vergleich mit Innerhofer nur die Atmosphäre, diese religiös-bigotte, latent gewaltige Stimmung in einem Dorf. Brauchtum, Kirche, Feldarbeit, Kinderprügeln. Von Humor ist bei Innerhofer nichts zu finden, es ist ja seine erlittene Lebensgeschichte. Aber bedrückend ist die Stimmung für mich auch in Schilten: Trotz des Wortwitzes, der aber einen grausam sarkastischen, zynischen Charakter hat.

lg

orzifar
« Last Edit: 26. November 2009, 00.48 Uhr by orzifar »
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Offline Anna

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Re:Hermann Burger: Schilten
« Reply #7 on: 26. November 2009, 00.33 Uhr »
Salve!

Nachdem ich vom Pflegenden zum Patienten mutiert bin

Da kann ich nur der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass diejenigen, die Du gepflegt hast, schon wieder in der Lage sind, Dich zu pflegen.

Ich bin endlich einmal mit sandhofer gleichgezogen und habe unter schwerer Vernachlässigung Burckhardts und Prousts (an Kerr ist momentan gar nicht zu denken) die ersten fünf Quarthefte gelesen. Gelesen fast an einem Stück, denn Burgers grandiose Sprache und sein hintergründiger, tiefgründiger, abgründiger Humor sind ungeheuer unterhaltsam. Als unbedarfter Leser, der von Burgers Biographie nichts weiß, wird man in den ersten beiden Kapiteln wohl noch nicht unbedingt Verzweiflung herausspüren, sondern sich an der skurril-morbiden Atmosphäre erfreuen und an dem sarkastischen Witz, mit dem Burger die Verflechtung von Schule, Friedhof und Dorfleben beschreibt. Großartig seine Schilderung der „Modell-Abdankung“, Bruder Stäblis „Todesdeutsch“, seine „knäckebrotspröde Leichenrede“, die Ängstlichkeit, die die Schiltener erfüllt, nicht wegen der Nähe des Todes, sondern weil sie in ihrer ehemaligen Schule von der Erinnerung an die „qualvolle Turnpein“ heimgesucht werden und immer noch „vergelstert“ sind  „von der schrillen Pfeife des Turnlehrers“.

Aber schon im dritten Kapitel ist die sich als Witz verkleidende Verzweiflung spürbar. Beklemmend die Beschreibung der Mörtelkammer als ehemalige Arrestzelle. Die Vorstellung,  lebendig und für alle sichtbar im Schulhaus eingemauert zu sein, entspricht dem Bild eines depressiven Zustandes. Bezeichnenderweise lässt Lehrer Schildknecht sich freiwillig dort einschließen, um die vergangene Schmach der inhaftierten Schüler zu tilgen und ihre ausgestandenen Ängste am eigenen Leib zu erfahren. Die Szene in der Waschküche mit der Schüpferin Elvyra ist dann allerdings wieder herrlich grotesk. Auch die Schilderung der Vogelpräparation („Vogelkenner sind Vogelmörder“) ist schön morbide. Scharf geht er mit Lehrern und ihren Lehrmethoden ins Gericht. Doch Burger muss als Lehrer selbst Bankrott anmelden:
Quote
„Die Tragik einer geistigen Existenz besteht in der absoluten Unvermittelbarkeit des wissenswerten Wissens. Was gelehrt werden kann, ist meistens nicht wert, gelernt zu werden“. (S. 81).

Burgers Sprachvirtuosität – diese Mischung aus Wortschöpfungen, Fachausdrücken und Fremdwörtern – ist sehr beeindruckend und vergnüglich. Mein Lieblingswort: Inutilarien. Bei einigen Schweizer Begriffen wie stotziger Schulstalden oder Landpapeterie musste ich erstmal nachdenken. Nur bei Prismalogemächern habe ich aufgesteckt und gegoogelt. Wer kann auch schon ahnen, dass  es sich um eine Schweizer Farbstiftmarke handelt!

So, jetzt noch Quartheft sechs und dann nachem Bette, wie wir alten Niedersachsen sagen.

Gruß
Anna

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Offline sandhofer

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Re:Hermann Burger: Schilten
« Reply #8 on: 26. November 2009, 08.27 Uhr »
Nur so ein kleiner Gedanke zwischendurch (ich habe gestern das 7. Quartheft beendet, ebenfalls unter Vernachlässigung des Rests meiner Lektüre):

Wo sind die Schüler?

Und: Schildknecht spricht von den Tintenklecksern oder so ähnlich, von den Geistesarbeitern im Gegensatz zum körperlich tätigen Grabausheber. Es müsste sich aber um die Kinder Schiltens handeln, Kinder von Bauern und Handwerkern, also ziemlich sicher zukünftige Handwerker und Bauern. Keine Geistesarbeiter.

Aber so oder so: Die Schüler sind eine anonyme Einheit, keine Individuen. Der im Grunde genommen völlig einsame Lehrer. Oder Künstler ...
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Offline orzifar

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Re:Hermann Burger: Schilten
« Reply #9 on: 26. November 2009, 12.26 Uhr »
Nur so ein kleiner Gedanke zwischendurch (ich habe gestern das 7. Quartheft beendet, ebenfalls unter Vernachlässigung des Rests meiner Lektüre):

Wo sind die Schüler?

Wenn mich mein Gedächtnis nicht völlig im Stich lässt sollte dir gegen Ende des Buches Aufklärung zuteil werden. Ansonsten kann ich Anna nur zustimmen: Ein sprachliches Komposit- und Kompositionswerk mit Vergnügensgarantie. Ob's heute noch zum Schreiben langt wage ich zu bezweifeln, kaum aufgestanden von den Siechen will die Welt in ihren Anforderungen anderes von mir als eine schriftliche Abarbeitung meiner Lesefrüchte.

lg

orzifar
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Offline Imrahil

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Re:Hermann Burger: Schilten
« Reply #10 on: 27. November 2009, 11.24 Uhr »
Ich habe mittlerweile die ersten zehn Quarthefte gelesen. Die Verzahnung von Schule und Friedhof, von Leben und Tod, von Humor und Morbidem, Wahnhaftem nimmt zu. Lest ihr die "unanständige" "schildknechtsche Krankheit" als Depression? Selbst wenn man den Autor ausblendet, sprechen ja der Umstand, dass man von aussen die Krankheit nicht wahrnimmt und die "totale Erkältung des Lebenswillens" dafür. Die Arzt-Passage ist köstlich. 

Die Schüler sind in der Tat eine anonyme Masse (auch wenn sie gelegentlich auftauchen, im Telefonwachdienst, beim Beobachten der badenden Elvyra, ...), wie ja auch die Inspektorenkonferenz nur Adressat ist, aber nie selbst zu Wort kommt: auch Armin (verkappte Form für 'Hermann') Schildknecht (der Knecht Schiltens) ist ein Monologisierer, wie die meisten Protagonisten in Burgers Erzählwerk.

Nebenbei: Ich bin bei Recherchen zu Burger auf Gerold Späth gestossen, der ja anscheinend auch in den 70ern den literarischen 'Durchbruch' schaffte. Lassen sich die beiden Autoren (z.b. sprachlich) vergleichen?

Imrahil


Offline sandhofer

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Re:Hermann Burger: Schilten
« Reply #11 on: 27. November 2009, 21.09 Uhr »
Wenn mich mein Gedächtnis nicht völlig im Stich lässt sollte dir gegen Ende des Buches Aufklärung zuteil werden.

Ich meine, mich an Ähnliches zu erinnern. Dennoch: Die Beschreibung der Einsamkeit eines Lehers ist anrührend.

Nebenbei: Ich bin bei Recherchen zu Burger auf Gerold Späth gestossen, der ja anscheinend auch in den 70ern den literarischen 'Durchbruch' schaffte. Lassen sich die beiden Autoren (z.b. sprachlich) vergleichen?

Sprachlich, wenn ich mich recht erinnere, wohl eher weniger. Späth ist der sprachlich Bescheidenere. Aber immer noch absolut lesenswert.  ;)
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Offline sandhofer

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Re:Hermann Burger: Schilten
« Reply #12 on: 28. November 2009, 09.08 Uhr »
8. Quartheft fertig. Und hier ist er - er, auf den ich so lange gewartet habe:

Von seinem Vorgänger Haberstich vermeldet Schildknecht:

Haberstich muß eine eindrückliche Zensurrede gehalten haben, sozusagen eine Rede des toten Lehrers vom Dach des Schulgebäudes herab. (8. Quartheft, S. 143 der Nagel & Kimche-Ausgabe von 2009)

Kann man die Lebensbeschreibung eines Schulmeisterleins lesen - insbesondere in dieser ausufernden, vom Hundertsten ins Tausendsten geratenden Sprache Burgers - ohne sofort an Jean Paul zu denken? Nicht an den (vermeintlichen) Idylliker natürlich, sondern an den rabenschwarzen Jean Paul. Burger ist ja tatsächlich einer seiner vielen Urenkel, und der schlechteste nicht.
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Offline Imrahil

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Re:Hermann Burger: Schilten
« Reply #13 on: 29. November 2009, 11.07 Uhr »
Danke für den Hinweis, die Anspielung auf Jean Paul ist ja im Grunde unübersehbar, ich habe sie aber tatsächlich überlesen... Zu Beginn des 13. Quarthefts wird die Verwandtschaft mit Jean Paul, dem Schulmeisterlein, erneut deutlich, wenn sich Schildknecht ob seiner Abschweifungen "zu diesen notorischen Aberranten" zählt.
Das elfte Quartheft ist für mein Dafürhalten das bisher schwächste, die langen Ausführungen über die Bahnstrecken waren eher ermüdend: klar ist aber der Zweck der geographischen Verortung Schiltens, illustriert wird dessen Entlegenheit und Abgeschiedenheit.

Offline orzifar

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Re:Hermann Burger: Schilten
« Reply #14 on: 29. November 2009, 16.21 Uhr »
Hallo!

Heute soll endlich einmal der Tag Armin Schildknecht gewidmet werden (bin erst bei Heft 11). - Die Haberstichsche Rede vom Krüppelwalmdach des Schiltener Schulhauses hat zweifelsohne etwas vom vermeintlichen Idylliker Jean Paul, auch wenn das apostrophierte Schulmeisterlein in seiner Fröhlichkeit etwas Antischilteskes hat. Dass Jean Paul immer auch ein wenig zynisch durch die Zeilen lugt, von Idylle meist nichts zu finden ist und allem scheinbaren Widerspruch zum Trotz nach Schilten passt:

Quote from: jeanpaul
"Zum Glück hat er sie [zu übende Martern]; vielleicht mauerte die Vorwelt die Schulpforten, deren Konklvisten insgesamt wahre Knechte der Knechte sind, bloß seinetwegen auf: denn anderen Fakultäten ist mit dieser Kreuzigung und Radbrechung des Fleisches und Geistes zu wenig gedient. - Daher ist auch das so oft getadelte Chor-, Gassen- und Leichensingen der Alumnen ein recht gutes Mittel, protestantische Klosterleute aus ihnen zu ziehen ..."

bzw. zur Bildung:

Quote from: jeanpaul
"In den alten Klöstern war die Gelehrsamkeit Strafe; nur Schuldige mußten da lateinische Psalmen auswendig lernen oder Autores abschreiben;"

Das klingt wohl nicht zufällig nach Aberschilten. Im übrigen vermute ich, dass auch der Name des Schulmeisters (Peter Stirner) nicht einfach so gewählt wurde und nicht nicht (hier könnte ein Exkurs stehen darüber, warum eine doppelte Verneinung nicht dasselbe ist wie eine Bejahung ;)) auf den Namensvetter Max und dessen "Der Einzige und sein Eigentum" hinweisen soll. Dort wird immer wieder vom "Jenseits in uns" gesprochen (welches getilgt werden solle) - und wer die Schildknechtsche Symbiose zwischen Schule, Leben und Engelhof betrachtet kann nicht umhin, einige Parallelen festzustellen.

Amüsant fand ich den ersten Teil des Telefonkapitels, die Organisation der Anrufe, das Auftauchen Wiederkehrs aus den abgelegensten Winkeln, dessen Brüllen, als müsste er die Entfernung ohne technische Hilfsmittel überwinden (kennt man denn nicht auch heute noch solche, in der Öffentlichkeit alle nervenden Telefonanten), ebenfalls ausgezeichnet die volkskundlichen Ausführungen zum Bestattungswesen, die bei mir, einem früher sich mit derlei Gebräuchen intensiver sich Beschäftigenden, auf fruchtbaren Boden fielen.

Zum von Babur geposteten Link bezüglich des Aussehens des Schulhauses: Ich war seltsam berührt von der Tatsache, dass sich meine Vorstellung so wenig von der "Realität" unterschied, auch wenn die Imagination weniger blauen Himmel vorsah.

lg

orzifar
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