Hallo!
Nur mal so dazwischen, ohne konkreten Textbezug. Da hatte sich in den 1960/70er Jahren im Osten Deutschlands eine Gesellschaft herausgebildet, die ohne jeglichen Religionsbezug auskam. Mochten die zwei oder drei Schüler einer Schulklasse vielleicht auch die Christenlehre besuchen - die überwiegende Mehrzahl der Heranwachsenden in Ostdeutschland hatte gar nichts mit dem Christentum zu tun. Georges Minois und Michel Onfray in Frankreich haben davon, Jahrzehnte später, offenbar noch nie etwas gehört, sie berichten nichts von millionenfacher Gottlosigkeit im Realsozialismus oder von den Millionenauflagen jedem zugänglichen religionskritischen Schrifttums (La Mettrie, Holbach, Feuerbach, eben auch der (u.a. Rassist) Haeckel). Ob es jetzt im Rückblick Fritz Mauthner ist oder in der Gegenwart der gefeierte Richard Dawkins: sie alle kommen aus Gesellschaften, in denen der Glaube als das "Normale" erschien und der Atheismus als etwas Abzulehnendes, im günstigen Fall als etwas Fremdes und Merkwürdiges.
Schön von dir zu lesen. - Zu den atheistischen Strömungen in Ostdeutschland vermag ich natürlich nichts zu sagen (vielleicht kann das ja Dostoevskij kommentieren). Minois und Onfray würde ich nicht so in einen Topf werfen: Selbstverständlich schreiben beide für ein breites Publikum - aber während Minois um eine historisch gehaltvolle Darstellung bemüht ist (und dass er über Ostdeutschland nichts geschrieben hat würde ich ihm nun nicht anlasten: Zum einen hat er der Gegenwart ohnehin nur wenig Platz eingeräumt, zum anderen könnte und sollte diese Zeit besser von einem "Insider" beschrieben werden), halte ich Onfray für einen Schaumschläger (es ist ihm - im Gegensatz zu Minois - immer um offene Konfrontation und Provokation zu tun). Mir als Österreicher war klar, dass die Religion im real existierenden Sozialismus zumindest staatlicherseits nicht gefördert wird, mir war (und ist) aber nicht bewusst, wie stark diese Politik auf die Menschen tatsächlich gewirkt hat (in Russland scheint der Sprung vom Atheismus zur Religiosität der heutigen Tage (und dem nicht zu unterschätzenden Einfluss der orthodoxen Kirche) recht klein gewesen zu sein).
Dass aber Religion etwas "Fremdes" (und Unverständliches, auch Unwichtiges) ist, kann ich trotz religiöser Erziehung bestätigen. Trotzdem ich also katholisch erzogen, Ministrant wurde im Kindesalter, habe ich die Gottesfrage nie ernsthaft erwogen (zum Bedauern meiner Mutter erwiderte ich mit ca. 5 Jahren auf die entsprechende Frage auf ein Leben nach dem Tod: "Das wird so sein wie wenn ich schlafe und nichts träume" - erst nach der Antwort und der Reaktion wurde mir klar, dass nichts weniger gefragt war als meine wirkliche Meinung). Trotz allem wuchs ich aber mit dem Glauben auf, dass auch für alle anderen dieses ganze Brimborium nur eine Show sei und keiner wirklich an das alles glauben würde. Das hat sich in einer kuriosen Unterhaltung mit einem mir bekannten Religionslehrer so dargestellt, dass er mich anguckte und meinte, dass ich "wohl nicht an Gott glauben würde" - worauf ich
ihn erstaunt ansah und meinte: "Natürlich nicht!" Und ich hatte ganz selbstverständlich angenommen (weil ich ihn für einen normal intelligenten Menschen hielt), dass auch er natürlich an diese ganzen Geschichten
nicht glaube. Ich war wirklich baff erstaunt, dass dem nicht so sei (ich muss etwa 18 Jahre gewesen sein zum Zeitpunkt dieser Unterhaltung). Insgesamt war es auch für mich im katholischen Österreich so, dass ich Religion mit alten, gebrechlichen Menschen assoziierte, deren Affinität zum Glauben ich auf Beschränktheit und/oder Erziehung in lange zurückliegenden Äonen zurückführte. Für mich (und auch meine Umgebung) war also Glaube nichts Normales (dem ich einen legitimen Platz in den Köpfen der Menschen zugestanden hätte), sondern vielmehr eine Art politisches Phänomen, das ich ad notam nahm und dem eine relative Wichtigkeit zugesprochen wurde wie einer politischen Partei.
Der famose Präsident Joachim Gauck bekennt sich nicht nur durch einen militärischen Gottesdienst zum traditionellen, durch Römer abgesicherten Ritual - er "glaubt" etwas, und sein ganzes Volk muss ihm folgen können, in seinem Glauben an Vorgänge, die sich in der Wüste vor zweitausend Jahren abgespielt haben mögen.
Christentum = Morallehre. Wer sich ausklinkt und sich mit dem ganzen Glaubens-Kram nicht beschäftigt, obwohl er gar kein "militanter Atheist" sein will (nicht alle sind Bücherwürmer wie wir, sondern einfach, ohne Absicherung durch Lektüre, den Alltagssorgen des 21. Jahrhunderts verfallen), fällt unter das Verdikt das Verfallens an einen "Materialismus" (sinnlichen Werten verfallen), diesen Menschen "fehlt dann irgend etwas" angeblich.
Die Moralität des Glaubens ist (für die Glaubenden) schon deshalb wichtig, weil dem Gauckschen Glauben an den sprechenden Wolkengott des Sinai immer weniger Menschen ernst nehmen. Mit der Moral meint man die Lebensberechtigung der Religion erhalten zu können (und das ist eine durchaus gängige Ansicht, deshalb sitzt in jeder Talkrunde, die sich mit dem Thema befasst, wenigstens ein Vertreter der christlichen Bekenntnisse, obwohl niemand weniger geeignet wäre, über dieses Thema zu sprechen): Die Tatsache, dass die Religion sehr oft zu unmoralischem Handeln (oft explizit) anleitet, nicht aber zu einem humanistischen Verhalten, wird ausgeblendet.
Die Hauptursache für esoterische Anwandlungen liegt in der Ablehnung eines negativ konnotierten Materialismus, dessen Konsequenzen sich die Menschen nicht bewusst sind: Würde er doch die Aufgabe des zweiten thermodynamischen Hauptsatzes bedeuten und damit zeigen, dass alles, was wir naturwissenschaftlich zu wissen meinen, falsch ist. (Das könnte natürlich möglich sein: Ich sehe aber keinen vernünftigen Grund, dieses etablierte Wissen zugunsten einer Vermutung aufzugeben, für die es keine rationalen Argumente gibt.) Diese Problematik kannte auch Hans Reichenbach: "Der Gedanke einer unabhängigen Existenz des Geistes ist das Rückgrat des Transzendentalismus; er sieht geistige Erscheinungen als Beispiele einer nichtphysikalischen Existenz an, und von hieraus ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zum Glauben an eine höhere Realität [...]."
Was Winfried Schröder betrifft: seine Verdienste sehe ich in der konsequenten Historisierung: nicht früher als Ende des 17. Jahrhunderts konnte sich im deutschen Sprachraum ein "Atheismus" im engeren Sinne des Wortes etablieren - hat mit Paul Hazards Konstruktion einer "Krise des europäischen Geistes" wenig zu tun, der Jansenismus wurde wirkmächtig in der Mitte des 18. Jahrhunderts, als Maria Theresia selbst die Jesuiten zum Teufel schickte, die sie erzogen hatten.
Man müsste eher untersuchen, was sich da um 1690 abspielte, als das "Betrügerbuch" frohe Urständ feierte und sich gerade die Hamburger die clandestine Literatur mit wachsender Begeisterung in die hintere Reihe ihrer Bücherladen stellten, was anderswo im Reich nicht so ohne weiteres zu beobachten war. .
Schröder schreibt ausschließlich für akademisches Publikum. Konsequente Historisierung: Durchaus, aber indem er sich nur an rein a-theistischen Äußerungen orientiert, vermag er die "Ursprünge" (die sich so nicht manifestieren) nicht freizulegen. Wobei er dann ohnehin nicht konsequent ist (bzw. sein kann): Wenn er (S. 250 ff) das Theodizee-Argument unter atheistischen Aspekt betrachtet (weil es denn so verwendet wurde), wird er gezwungen, auf Epikur bzw. Sextus Empiricus zurückzugreifen. Denn die ersten Atheisten haben selbstredend eine Geschichte - und es ist nicht damit getan, nur eine erste Formulierung explizit zu machen. Genau das, was du forderst, kommt mir in diesem Buch zu kurz: Die Einbettung in den philosophisch-sozial-historischen Kontext, das, was z. B. Kondylis in seiner Metaphysikkritik (die natürlich immer auch ein Teil Religionskritik ist - und oft nicht nur ein Teil), so wunderbar integriert. Indem er die einzelnen Fäden metaphysikkritischen Denkens in Strömungen und Philosophemen aufspürt und verbindet. - Der andere, mich seltsam berührende Punkt war die argumentative Abwägung der "Parteien", u. a. im Kapitel "Gegenbeweise": So schlecht sind die Argumente jener nicht (wie Schröder behauptet), die da Gott mit den machtpolitischen Bestrebungen erklären wollen (Gott als Mittel zum Machterhalt). Wenn ich auch nicht glaube, dass dies den ersten Vorstellungen zugrunde gelegen ist, so sind Welterklärungsmodelle nie politisch neutral, häufig anthropomorph und werden zumeist zur Legitimation herrschender Machtstrukturen eingesetzt.
lg
orzifar