Author Topic: Heinrich Mann: Die Jugend des Henri Quatre  (Read 4598 times)

Offline orzifar

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Heinrich Mann: Die Jugend des Henri Quatre
« on: 15. Mai 2016, 05.34 Uhr »
Hallo!

Man soll ja gelegentlich seine Eindrücke überprüfen und deshalb habe ich mit Heinrich Manns Henri begonnen. Er gefällt mir ein wenig besser als beim ersten Mal: Aber meine Vorbehalte sind im Prinzip dieselben geblieben. Dieser Henri bleibt ungreifbar, seine Reaktionen aufgrund dieses Romans für mich nicht nachvollziehbar (würde ich sein Leben nicht aus der Geschichte kennen, alles erschiene mir höchst sonderbar), Motivationen sind undurchschaubar, seine Gefühlslage hat etwas Beliebiges (natürlich wird damit zu Beginn auch der jugendliche Leichtsinn des Protagonisten demonstriert). Der Beginn des Kapitels "Der Louvre" mag dafür beispielhaft sein: Da werden anfangs Mädchen geküsst und der Leichtigkeit wird gehuldigt, ein paar Absätze ist wieder von Furcht und Hass die Rede, die ihn erfüllen usf. Der Mord an seiner Mutter macht ihn wütend, aber einige Minuten darauf ist er wieder vergessen - nie habe ich den Eindruck, dass hier eine Person mir präsentiert wird, dessen Gefühle wirklich plausibel sind. Alles wirkt wie eine Skizze, ein wenig oberflächlich.

Im Gegenteil dazu mag der Joseph Thomas Manns ein Ebenbild des Autors sein (wobei das sicher zu einfach ist): Aber seine Entwicklung ist absolut nachvollziehbar, seinem für mich abgrundtief unsympathischen Wesen würde ich zwar das Verweilen in der Zisterne wünschen, aber Sympathie spielt hier keine Rolle. Er ist selbst dort, wo er zum Typus wird, begreifbar.

lg

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Offline Karamzin

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Re: Heinrich Mann: Die Jugend des Henri Quatre
« Reply #1 on: 16. Mai 2016, 22.50 Uhr »
Im Alter von fünfzehn Jahren begann ich erstmals, die "Jugend" und die "Vollendung" des Königs Henri Quatre zu lesen, es blieb nicht bei der einmaligen Lektüre. Kein anderes Buch hatte mich mehrere Jahre derart beeindruckt wie dieser Roman, eine Erzählung von dem einzigen "guten König", den die Franzosen hatten, die im weiteren  Verlauf der Handlung immer wieder von dem realen Geschehen weg und ins Gleichnishafte führt. Der Erzähler sitzt sozusagen schon auf einer Wolke und blickt auf irdische Ereignisse herab.
Kurze nüchterne Zusammenfassungen am Ende der Kapitel geben die "Moral" wieder, in meiner Fassung in französischer Sprache, die ich damals an der Volkshochschule gerade erst zu lernen begann.
Als der 100. Geburtstag Heinrich Manns begangen wurde, organisierte ich in Erfurt im Deutschunterricht eine Lesung mit meinen Mitschülern, mit wechselnden Sprechern. Wenn es um die Faktengrundlage ging, konnte ich auf Saint-Rene Taillandiers Biographie des Königs zurückgreifen, die Heinrich Mann für seinen Roman bis in die Details hinein ausgiebig genutzt hatte.

Es ist das Alterswerk Heinrich Manns, und ich war noch sehr jung. Heinrich Mann besuchte vor 1933 und dann im Exil südfranzösische Orte wie Pau, von denen mir klar war, dass ich sie wegen der fehlenden Reisefreiheit nie im Leben sehen würde. Henri vergötterte seine "reizende Gabriele", die ihm 1599 durch eine Verschwörung entrissen wurde, und ich befand mich gerade noch in einer Entwicklungsphase, in der ich erfahren wollte, was es mit der Weiblichkeit auf sich hatte. Am Schluss die Ermordung Henris 1610 wiederum infolge einer Verschwörung, die zuschlug, kurz bevor er seinen letzten Feldzug zur Errichtung des "ewigen Friedens" in Europa beginnen wollte. Das wusste man dann allerdings: es folgten nach 1618 dreißig Jahre des Abschlachtens im Namen der Religion, das Zeitalter des Wallensteins Friedrich Schillers (Frage der mündlichen Abiturprüfung: "Wie stellt Schiller seinen Wallenstein als Helden dar und ziehen Sie aktuell-politische Schlußfolgerungen!") und Döblins, des Schwedenkönigs Gustav Adolf, der 1631 in der "Hohen Lilie" am Erfurter Domplatz abstieg ...
Seit dieser Zeit der Lektüre Heinrich Manns, der utopischen Friedenspläne Sullys, des Ministers des Königs Henri IV, bewegten mich die pazifistischen Ideen des Abbe de Saint-Pierre, Rousseaus, Kants, Malinovskijs - und das in einer Zeit, in der unsere kürzlich verstorbene Ministerin Margot Honecker den Wehrkundeunterricht und den Haß auf den Klassenfeind propagierte.


Unvergeßlich blieben mir etliche Szenen: das Gespräch Henris mit Montaigne am Strand etwa. In Zeiten, in der sich der Parteiwahn austobte, Feindbilder gepflegt wurden und der gegnerischen Seite der tödliche Untergang angedroht wurde (Kalter Krieg! Vietnamkrieg, über uns allen schwebte die Gefahr atomarer Vernichtung), flüsterten sich der Philosoph und Henri zu: "Die Gewalt ist stark, die Güte ist stärker." Montaigne wurde mein Lieblings-Philosoph in einer Zeit, in der nur die "allmächtige Lehre" von  Marx und Lenin galt. Leise klopfte immer wieder bei Heinrich Mann mit Montaignes Worten die Skepsis an: "Was weiß ich".
Wie um 1935 in der Zeit der "Volksfront": kann es nicht möglich sein, dass sich gegen die Kräfte der Finsternis Leute aus ganz unterschiedlichen Lagern zur Abwehr der tödlichen Gefahr zusammenschließen könnten? Später lernte ich zu begreifen, dass sich Heinrich Mann 1937 wie sein Freund Lion Feuchtwanger kritiklos der Propaganda des anderen großen Diktators ergaben, von dem wir bis 1989 nichts lesen durften und nichts zu hören bekamen.

Man hat mir im Forum den Vorwurf gemacht, dass ich in vielen meiner Beiträge meine DDR-Erinnerungen einflechte und damit vom Thema wegführe, aber gerade im Falle dieses Romans drängen sie sich mir immer wieder auf.
Als 1991 mit allem rigoros abgerechnet wurde, was die Grundlagen der DDR ausmachte (die sich schon damals kaum jemand zurückwünschte), fiel der westdeutsche Kritiker Ulrich Greiner in der "Zeit" über Heinrich Mann her. Total überschätzte Mittelmäßigkeit, sein Jugendwerk Kolportage, wie klein der Heinrich gegenüber seinem Großen Bruder! Der Bruder Thomas Manns hatte sich des Vergehens schuldig gemacht, kurz vor seinem Tod 1950 aus Santa Monica ausgerechnet in den ostdeutschen Staat übersiedeln zu wollen.

Dieses Werk Heinrich Manns zeichnete ein ganz eigentümlicher, unverwechselbarer Redefluss aus.

Ich las Heinrich Manns Roman nach Jahrzehnten wieder und erinnerte mich daran, wie ich mich damals als Jugendlicher fühlte.



« Last Edit: 16. Mai 2016, 23.40 Uhr by Karamzin »

Offline orzifar

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Re: Heinrich Mann: Die Jugend des Henri Quatre
« Reply #2 on: 16. Mai 2016, 23.42 Uhr »
Hallo!

Ich möchte dich ausdrücklich darum ersuchen, auf diesen persönlichen Hintergrund nicht zu verzichten. Er ist das, was Beiträge über - vor allem so bekannte und berühmte - Literatur oft erst lesenswert macht, denn was ließe sich noch großartig sagen über Werke, zu denen schon unzählige Monographien, Dissertationen geschrieben worden sind? Für mich ist es etwa erstaunlich, dass man den Heinrich in dem Maße "politisch" verstehen kann (und als Jugendlicher wäre mir das schon gar nicht in den Sinn gekommen). Diese ganz individuell-persönliche Sicht (wenn sie denn nicht sich in jugendliche Klischeevorstellung ergeht - aber die Jugendlichkeit hast du ja schon einige Zeit hinter dir gelassen :)) lässt andere, alternative Interpretationen verständlich(er) werden. (Du hast ja schon mal dankenswerterweise auf den DDR-Hintergrund eines anderen, geschichtlichen Werkes hingewiesen, das mir dann nachträglich in einem anderen Licht erschien.)

Allerdings muss ich gestehen, dass ich Greiners Urteil wenigstens in Teilen unterschreibe: Etwa das Kolportagehafte der Jugendwerke, aber vielleicht auch die "überschätzte Mittelmäßigkeit". Heinrich Mann pflegt einen Stil, den ich nicht goutiere, der mir immer ein wenig unbeholfen und plakativ erscheinen will (ich habe gerade die Bartholomäusnacht hinter mich gebracht: Auch hier erscheint mir die Befindlichkeit Henris wenig nachvollziehbar. Zum einen stellt er anhand des vor ihm sich vollziehenden Mordens hochtheoretische Reflexionen über die Natur des Menschen an, um alsbald angesichts des Tod seines Lehrers in Ohnmacht zu fallen.) Für mich wird Henri nirgendwo wirklich greifbar, er kommt mir vor wie eine abstrakte Bühnenfigur - und die Bühne als solche ist stets sichtbar.

Im übrigen kann ich verstehen, wenn man Thomas Mann nicht mag: Man kann ihm natürlich Manieriertheit des Stils unterstellen oder aber (wie Nossack) die alles übertünchende Bürgerlichkeit. Das Artifizielle des Stils kommt in "Königlicher Hoheit" zum Ausdruck, zeigt sich dort am reinsten und wirkt, weil Thomas Mann in diesem Buch eigentlich nichts zu erzählen hat (nicht mal über sich selbst) wie eine Fingerübung in Schönschreiben. Aber er ist m. E. dort hervorragend, wo er seine Umgebung, sich selbst beschreibt - und sieht dann tief und sezierend in das psychologische und oft ungustiöse Gekröse seiner Personen.

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Offline Karamzin

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Re: Heinrich Mann: Die Jugend des Henri Quatre
« Reply #3 on: 17. Mai 2016, 09.24 Uhr »
Hallo Orzifar,

danke für den Zuspruch, wenn ich hier Erinnerungen aus der Jugendzeit bringe, in der sich pubertäres Empfinden, Politik und sich entwickelnder literarischer Geschmack überlagerten. Wie der 'Henri Quatre' heute auf Dich wirkt, kann ich schon nachempfinden.

Damals waren in verschiedenen Klassenstufen sowohl "Der Untertan" als auch Klaus Manns "Mephisto" Pflichtlektüren in der Oberstufe. Wenn man mit Fragen wie "Was lehrt uns das über die damalige Gesellschaft?" malträtiert wurde, entwickelte man eine Abneigung gegenüber dem Schulstoff. Von "Häßlich" auf "Heßling" zu kommen, das wirkte auf den Jugendlichen plakativ. Der Kult um Marlene Dietrich und den "Blauen Engel" tat ein Übriges, um sich bei dieser Lektüre von der offiziellen Lehrmeinung der Älteren abzugrenzen.

Die beiden in braunes Leinen eingebundenen Bände des 'Henri Quatre' aus den 1950er Jahren standen in dem reichhaltig mit Gegenwartsliteratur bestückten Bücherschrank meiner Eltern; meine Mutter hatte mit blauer Tinte den Roman mit Randbemerkungen versehen, Geschichte immer als Lehrstück für die Gegenwart aufgefasst.

Ulrich Greiner und andere Kritiker übergingen dann allerdings den 'Henri Quatre' mit Schweigen. Der autobiographische Bericht Heinrich Manns "Ein Zeitalter wird besichtigt', ist in dem gleichen Stil verfasst wie der 'Henri Quatre'. In seinem Kampf gegen den Faschismus richtete Heinrich Mann - voller Naivität, wie später erkannt wurde - seine Hoffnungen auf die Sowjetunion. Dies taten auch andere Männer des Exils, wie Freund Lion Feuchtwanger und Bertolt Brecht, der seinerseits Thomas Mann verachtete.

Was Thomas Mann betrifft, so zog mich ebenfalls ein Alterswerk an, die "Lotte in Weimar". Vorrangig sollte ich mich mit der literarischen Epoche der Weimarer Klassik beschäftigen, was damals eine Flucht aus der Gegenwart bedeutete.

Offline orzifar

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Re: Heinrich Mann: Die Jugend des Henri Quatre
« Reply #4 on: 18. Mai 2016, 00.08 Uhr »
Hallo!

Es ist was Faszinierendes an dem, wie unterschiedlich man literarisch sozialisiert wird. Bücher aus einem politischen Blickwinkel zu betrachten war hier (in Österreich) - wenigstens in den Schulen, die ich besucht habe - vollkommen unüblich; mir ist auch von anderen kaum etwas Derartiges bekannt. Selbst der Nationalsozialismus war immer nur am Rande ein Thema (Österreich verstand sich ja bis gegen Ende der 80ger als erstes Opfer Hitlers - und noch heute wird gerne die Mär vom Widerstand gegen das NS-Regime aufrecht erhalten: Es waren aber nur unterschiedlich mächtige Ausprägungen des Faschismus, die da aneinander gerieten). Die Bücher (der Schulkanon) scheinen ein wenig die Gesellschaft widerzuspiegeln (in der DDR natürlich sehr viel stärker): Wir identifizierten uns eher mit dem Individualismus Hesses oder Camus' (ich zumindest), "gesellschaftliches" Denken war mir eigentlich fremd, die Affinität zu den linken Bewegungen der Post-68ger wollte sich (bei mir) nicht wirklich einstellen, immer waren es individualistische Denkmuster, die Bedeutung hatten. Das mag mit meiner eigenen Geschichte zu tun haben, scheint aber auch vielen anderen so ergangen zu sein: Wir kämpften ganz konkret gegen unsere Eltern, die Lehrer, Autoritäten aller Art - und wir kämpften jeder für uns allein.

Vermiest wurde uns die Literatur häufig durch einen übertriebenen Interpretationswahn (den ich auch an der Universität noch beobachten konnte): Da blieb wenig Platz für das Schöne in der Literatur, für das reine Genießen; Lesen war dadurch immer mit Arbeit verbunden, der Text wurde seziert, ehe er überhaupt auf einen wirken konnte (bestes und schlimmstes Beispiel war Kafka). Aber auch hier immer ein individueller Zugang, was will Literatur mir sagen, welche Lehren kann ich daraus ziehen etc.

Dass Heinrich Mann in seinem Glauben an den Kommunismus stalinistischer Prägung ähnlich naiv wie viele andere Denker war (ich empfinde Sperbers "Wie eine Träne im Ozean" trotz mancher Schwächen als eine sehr gelungene Aufarbeitung dieser Problematik), würde mir seine Bücher nicht vermiesen: Th. Mann war - man denke nur an die Betrachtungen eines Unpolitischen - politisch ähnlich blind, wenn auch auf dem anderen Auge. Im übrigen habe ich den Untertan immer als das beste Werk von Mann angesehen: Aber selbst das müsste ich erneut prüfen. Ansonsten schien es mir, dass es eine Zeitlang einfach en vogue war (warum auch immer), Heinrich dem Thomas vorzuziehen: Vielleicht weil man jenen mit einen aufklärerischen Impetus leichter verbinden konnte als den bürgerlichen Ästhetizismus Thomas'.

Bei mir zu Hause gab es nicht mal einen Bücherschrank: Und Belletristik zu kaufen wäre eine Art Sakrileg gewesen, mit dem Sparsamkeitsdenken unvereinbar. Romane borgte man sich bestenfalls aus, hatte man sie einmal durch, war der Inhalt ohnehin bekannt und das Buch unnütz. So waren die wenigen Bücher, die ich in meiner Kindheit und Jugend daheim vorgefunden habe, Werke wie das rororo-Tierlexikon und dergleichen. Vielleicht eine Art Überkompensation, dass ich mittlerweile rund 7000 Bücher mein eigen nenne. Meine Kinder können sich zumindest bezüglich der Auswahl nicht beklagen, vielleicht aber sitzt Papa zu oft hinter seinen Büchern und diese bekommen dadurch einen negativen Anstrich.

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Offline Dostoevskij

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Re: Heinrich Mann: Die Jugend des Henri Quatre
« Reply #5 on: 18. Mai 2016, 01.04 Uhr »
Moin, Moin!

In seinem Kampf gegen den Faschismus richtete Heinrich Mann - voller Naivität, wie später erkannt wurde - seine Hoffnungen auf die Sowjetunion.

Hans Fallada bezeichnete solche Apologeten in seiner kürzlich von mir gelesenen Kleinstadtsatire "Bauern, Bonzen und Bomben" als "Sowjetjünger".

Vielleicht eine Art Überkompensation, dass ich mittlerweile rund 7000 Bücher mein eigen nenne. Meine Kinder können sich zumindest bezüglich der Auswahl nicht beklagen, vielleicht aber sitzt Papa zu oft hinter seinen Büchern und diese bekommen dadurch einen negativen Anstrich.

"Papa ist nieee da!"
"Wieso, er sitzt doch da hinter den Büchern?"
"Hinter waaaas?"
-- 
Keep reading, Markus Kolbeck
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Offline Karamzin

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Re: Heinrich Mann: Die Jugend des Henri Quatre
« Reply #6 on: 18. Mai 2016, 10.21 Uhr »
Mit Büchern haben sich meine Eltern nach dem Krieg - beide verloren 1944 und 1945 ihre Wohnungen bei den Bombardements - reichlich ausgestattet. Diese Sammlung existiert noch, vollständig erhalten, dann aber kamen meine Büchersammlungen hinzu, die in zwei anderen Städten aufgestellt sind und bestimmt auch 'Orzifarische' Dimensionen angenommen haben. Mit den meisten kann wegen ihres spezifischen Charakters kaum jemand etwas anfangen, nicht einmal ein Antiquariat. Ich glaube jetzt, eine Lösung gefunden zu haben.
In dritter Generation hat der Sohn schon wieder eine ansehnliche Bibliothek zusammengetragen und hat, halb so alt wie ich, viel mehr als ich gelesen, sich auch nicht derart auf eine bestimmte historische Epoche eingeschränkt. Hingegen habe ich noch nie ein elektronisches Buch benutzt und die Zeit gefunden, mir entspannt ein Hörbuch anzuhören, und die altertümlichen Lesegewohnheiten werde ich wohl auch kaum noch ändern.

Nun noch einmal zur Haltung der Schriftsteller zur Sowjetunion in den 1930er Jahren. Sie sahen, was sie sehen wollten. Sie mussten eine kritische Einstellung mitbringen, wenn sie dann mehr sahen als andere. Lagerdenken war verbreitet, man wollte der 'eigenen', der Sache des Antifaschismus nicht schaden, und fiel prompt auf Fälschungen und durch Folter erzwungene Geständnisse herein.
Henri Quatre hat immerhin in Frankreich den Ausgleich nach einem jahrzehntelangen Bürgerkrieg hinbekommen. Wichtig war nicht die Konfession - auch Montaigne war beim alten Glauben geblieben - sondern der Wille zum Kompromiss und zum Wiederaufbau des zerstörten Landes. Als Heinrich Mann seinen Henri Quatre vollendet hatte, tobte in Spanien der Bürgerkrieg. Erst 1975 wurde, nach hunderttausenden Toten des Franco-Regimes, ein vorläufiger Ausgleich geschaffen, ohne dass die Vergangenheit Gegenstand einer landesweiten Diskussion geworden wäre, die Republikaner hatten insgesamt das Nachsehen (und jetzt schlägt das Pendel wieder nach 'links' aus).

Man sollte immer beachten, dass die Geschichte für die Zeitgenossen noch offen war. 1937, im Jahr der Moskauer Schauprozesse, wusste man zwar, wenn man es wahrnehmen wollte, was sich nach dem Reichstagsbrand abgespielt hatte und dass Bücher in Flammen aufgegangen waren, wieder einmal - im kommenden Jahr kann man das 200jährige Jubiläum des Wartburgfestes 1817 begehen, und wenn auch hinsichtlich der Ziele und Dimensionen der Bücherverbrennung gewaltige Unterschiede festzustellen sind, vergessen sollte man diesen Flammenschein am Rande dieses abendlichen Festes nicht ganz.

1937 wusste man aber nicht, dass zwei Jahre später der mörderischste aller Kriege entfesselt werden würde, wobei sich der Einmarsch der Roten Armee in Westbelorussland und Westukraine sicher in vergleichsweiser Stille vollzog, in Deutschland kaum wahrgenommen.
Im nachhinein kann man den Menschen in Diktaturen Vorwürfe machen, sie hätten doch dieses oder jenes früh erkennen und danach entsprechend handeln müssen. Der jetzige Bundespräsident nimmt offenbar an, dass alle DDR-Bürger aus dem Westfernsehen hätten erkennen müssen, dass sie in einem "Unrechtstaat" leben. "Gute", "Böse" und "Mitläufer" - schön, wem eine solche Sicht als ausreichend erscheint.
1969 erschien ich das erste Mal in der Sowjetunion, und unsere Moskauer Gastgeberin, die jüdischer Herkunft war, meinte, dass es kaum eine Familie gäbe, die nicht unter Stalin Opfer gebracht hätte. Davon erfuhren wir zu Hause überhaupt nichts, im Unterricht war Stalin eine "Unperson", man sagte höchstens, dass die Sowjetarmee in der Zeit über Hitlerdeutschland siegte, als Stalin an der Macht war. Und ich fuhr für längere Zeit nach Moskau, lernte die russischen Menschen und die Angehörigen anderer Völker der Sowjetunion näher kennen, bevor ich nach dem Fall der Mauer erstmals mit Bundesbürgern zu tun bekam und einige Jahre später auch Schweizer in größerer Anzahl sah. ;) 
Die Begeisterung Heinrich Manns und Lion Feuchtwangers für die Sowjetunion fiel also nicht weiter auf. Erst 1977 erschien mit den Erinnerungen Ilja Ehrenburgs ein Text, in dem zwischen den Zeilen einige der Verbrechen angedeutet wurden, im darauf folgenden Jahr Rosa Luxemburgs suversiver Artikel "Über die russische Revolution" in Band 4 ihrer Werkausgabe, ohne Kommentar.

 
« Last Edit: 18. Mai 2016, 10.36 Uhr by Karamzin »

Offline orzifar

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Re: Heinrich Mann: Die Jugend des Henri Quatre
« Reply #7 on: 19. Mai 2016, 04.02 Uhr »
Hallo!

Dass die historische Figur des Henry Quatre etwas Bewundernswürdiges hat, ist unbestritten, es war einer jener Herrscher, die mich zutiefst beeindruckten. (Aber umso unangenehmer ist es, eine eigentlich positiv konnotierte Figur dann in einer Weise dargestellt zu sehen, die so gar nicht zusagt.)

Dass die Geschichte für Zeitgenossen offen ist, ist so natürlich wie trivial. Dass aber gerade die Sowjetunion der 20er und 30er betreffend so wenig Kritik erfuhr, muss wenigstens teilweise den Betreffenden angelastet werden. (Russel lieferte etwa schon 1919/20 eine ziemlich konzise Beschreibung dessen, was dort geschah.) Natürlich entstand das positive Urteil auch als eine Reaktion auf den aufkommenden Faschismus, aber spätestens nach den Schauprozessen hätte jeder auch nur einigermaßen denkende Mensch erkennen müssen, dass sich in der SU keinesfalls ein humaneres Regime an der Macht befindet als in den faschistischen Staaten. Um aber diese Erkenntnis zu gewinnen, muss wohl eine schwierige, psychologische Hürde überwunden werden: Man ist einer Ideologie verbunden und muss - zumindest ihre damalige Realisierung - als verbrecherisch erkennen.

Was man hat in der DDR erkennen können, erkennen müssen, ist für mich schwer zu beurteilen. Ich habe Menschen kennengelernt, die da meinten, es wäre eigentlich alles offenkundig gewesen: Die Unterdrückung, das Unrecht etc. - einfach deshalb, weil es für viele spürbar war, weil diese Dinge erlitten wurden. Andere hinwiederum sahen in einer selbstgewählten inneren Emigration die "selbstverständliche" Haltung: Weil man denn doch irgendwie leben muss, leben will. Typisch ist, dass ich mit niemanden je gesprochen habe, der mit dem Staat, der Partei eng verbunden war (bzw. dies zugegeben hätte). Insofern sind natürlich auch die anderen Aussagen mit Vorsicht zu genießen. Und ich kenne Dokumentation wie jene über Sascha "Arschloch" Anderson, die einiges nachvollziehbar, kaum aber etwas akzeptabel erscheinen lassen.

Die Menschen werden völlig dieselben gewesen sein in Ost und West: Aber die Konsequenzen ihres Tuns, ihres Charakters waren andere. Wie viele "idealistische" Freunde aus der Jugendzeit habe ich gekannt, die - kaum erwachsen - keine Probleme hatten, sich zu verleugnen, Parteimitgliedschaften einzugehen (in Österreich lange Zeit fast das einzige Mittel, um gesichert Karriere zu machen, das begann schon in frühester Jugend: Ich war im Landesschülergremium seinerzeit der einzige, der nicht einer politischen Gruppierung angehörte) und ihr opportunistisches Handeln mit einem "mehr" an Reife zu begründen die Unverfrorenheit hatten. In der DDR wäre ihre Karriere ähnlich verlaufen, aber sie hätten sich als IM möglicherweise moralisch fragwürdiger verhalten, Menschen wirklich geschadet, während sie in Österreich nicht weiter auffielen.

Schwer verständlich und fragwürdig erscheinen mir allerdings jene Intellektuellen, die noch nach Hitler-Stalin-Pakt an ihren Träumen festgehalten haben: Denn ab diesem Zeitpunkt bedurfte es schon eines gehörigen Maßes an Kreativität, sich den stalinistischen Staat schönzureden.

Für mich persönlich war es als Jugendlicher schwer verständlich, dass viele Linke (zu denen ich mich im Prinzip auch gezählt habe und wohl immer noch zähle, wenn ich mich den zählen müsste, wobei ich links für mich vor allem mit "solidarisch mit Schwächeren" übersetzen würde) kommunistische Staaten in diesem Ausmaß verklären konnten: Mir war völlig klar, dass ich, der ich mit Autoritäten ein großes Problem hatte, in diesen Staaten ein sehr viel unbequemeres Leben haben würde.

Und nun werde ich noch ein paar Seiten Heinrich Mann lesen ...

lg

orzifar
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Offline Karamzin

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Re: Heinrich Mann: Die Jugend des Henri Quatre
« Reply #8 on: 19. Mai 2016, 08.18 Uhr »
Hallo Orzifar,

vielleicht kannst Du einmal im Zusammenhang mit der Lektüre des ersten Bandes mitteilen, wie Du die Zeichnung der Katharina von Medici und der Valois-Familie findest? Werden Sie überzeichnet, zu Karikaturen?
Wie der völlig von der Bürde seines Amtes überforderte König, ein armer Hund, innerhalb weniger Stunden vom Freund des Admirals Coligny zum Verantwortlichen für die Bartholomäusnacht gemacht wurde? Ich habe später das Drama von Chenier "Charles IX" (1788) gelesen; man kann sich heute nur schwer vorstellen, dass diese langen Monologe das Publikum des Jahres 1789 derart faszinierten, dass es bereit war, für die Freiheit auf die Barrikaden zu gehen.

Was die Gestalt des Montaigne betrifft, so hat sie mich angeregt, mich in der Folgezeit mit dem Lebenswerk des Philosophen zu beschäftigen. Obwohl er einer ganz anderen Epoche angehörte, schien er mir ein Zeitgenosse zu sein.
Als hervorstechendes Merkmal fiel mir seine Uneitelkeit auf: er gab zu, dass er in vielen Dingen, die für andere wichtig waren, völlig ungeschickt war und als Vertreter seines Standes einen läppischen Eindruck hinterließ. Sie war sicher aus der antiken stoischen Philosophie gespeist. Und doch gab es einige Axiome, an denen er festhielt, wie: "Humanisten müssen streitbar sein."

Viele Grüße
K.

Offline orzifar

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Re: Heinrich Mann: Die Jugend des Henri Quatre
« Reply #9 on: 20. Mai 2016, 00.39 Uhr »
Hallo Karamzin!

Ich finde - und bin mir erst durch deine Frage dessen bewusst geworden - eigentlich alle Figuren besser gezeichnet als den Henri. Ich kann mich sowohl mit der Darstellung der Katharina als auch - mit Abstrichen - der der Margot anfreunden, ebenso mit Karl IX. und seinen Brüdern, wobei das Verhalten des Königs in der Bartholomäusnacht mir ein wenig problematisch erschien (ich kenne Durants Kulturgeschichte, die mir diesen König "näher" brachte als H. Mann). Aber insgesamt muss ich zugeben, dass die gesamte Valois-Michepoche mich in ihrer literarischen Ausgestaltung sehr viel eher anspricht.

Ich habe nun auch das erste Gespräch mit dem "Edelmann aus dem Süden" (dessen - vor langer Zeit zerlesene - Essais ich mir wieder aus dem Regal geholt habe) gelesen und war nicht wirklich begeistert. Aber diese Idee der fiktiven Gespräche ist gut, allerdings wird es schwer sein, sie entsprechend einzufügen. (Eigentlich gefallen mir auch die "moralités" nicht wirklich: Das könnte ich mir in einem Theaterstück vorstellen, einen auftretenden Erzähler, der über die noch auf der Bühne befindlichen Figuren seine Meinung ausspricht als eine Art Personifikation des Schicksals, im Roman aber hat das etwas Betuliches.)

Vielleicht ein Beispiel (für viele), was mir denn "mittelmäßig" erscheint: Auf S. 359 meiner Ausgabe (Kapitel "Der Hass bringt nahe") beginnt ein Absatz mit "Karl war zum Sterben traurig". Und das zu untermalen werden seine Seelenzustände anschließend (gar nicht übel) beschrieben. Aber eine solche Einleitung klingt so unglaublich holprig, so hilflos: Wenn denn jemand "zum Sterben traurig" ist reicht es, dies aus den Beschreibungen erschließen zu lassen, es aber anzukündigen hat so was Schulaufsatzmäßiges. Bei Henri sind diese Sätze Legion.

lg

orzifar
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Offline orzifar

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Re: Heinrich Mann: Die Jugend des Henri Quatre
« Reply #10 on: 06. Juni 2016, 19.06 Uhr »
Hallo,

ich habe nun die "Jugend" des Henri beendet - und bin im Grunde so enttäuscht, wie ich es befürchtet, erwartet habe. Die Dialoge sind hölzern, mir erschließt sich dieser Heinrich in keiner Weise, er macht auf mich den Eindruck einer absolut künstlichen Figur. Sandhofer meinte, dass er in Heinrich Manns Bücher wenigstens etwas über die Hauptfigur und nicht nur über den Schreibenden selbst erfahren würde: Genau das Gefühl habe ich nicht. Dass man historische Personen auch sehr viel eingängiger, eindrucksvoller darstellen kann, zeigte etwa Solschenizyn mit seinem Stalinporträt ("Im ersten Kreis der Hölle"). Wobei das Fiktionale (oder auch die historische Genauigkeit) keine Rolle spielen, sondern nur die "potentielle Authentizität".

Andererseits bin ich mir dessen bewusst, dass man genau die von mir monierten "Fehler" als "gewollt, stilistisch gelungen, für den Leser herausfordernd zur Interpretation, die Phantasie anregend etc." bezeichnen und dafür auch Argumente finden könnte (weshalb solche Diskussionen - im Gegensatz zu philosophischen, die man bei ein wenig guten Willen der Beteiligten sehr wohl sinnvoll führen kann - oft ins Leere laufen). Für mich trifft es "Mittelmäßigkeit" sehr gut, es gab da nichts, was ich noch mal zu lesen Lust verspürt hätte (weshalb ich den zweiten Teil der "Vollendung" nun nicht sofort anschließen werde). Vor allem schien mir Mann auch mit dem Stoff überfordert: Es wird erzählt und erzählt, Episode an Episode gefügt (ohne dass der Zusammenhang für die Entwicklung der Persönlichkeit erkennbar wäre) - als ob der Autor alles und jedes, das er sich angelesen hat,  unterbringen wollte. Kürzen pflegt eine große Kunst zu sein, die bei diesem Roman wahrlich zu kurz gekommen ist.

lg

orzifar
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Offline sandhofer

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Re: Heinrich Mann: Die Jugend des Henri Quatre
« Reply #11 on: 08. Juni 2016, 22.03 Uhr »
*seufz* Ich werde ihn mal wiederlesen müssen. Wird aber noch einen Moment dauern...
Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus