Mit Büchern haben sich meine Eltern nach dem Krieg - beide verloren 1944 und 1945 ihre Wohnungen bei den Bombardements - reichlich ausgestattet. Diese Sammlung existiert noch, vollständig erhalten, dann aber kamen meine Büchersammlungen hinzu, die in zwei anderen Städten aufgestellt sind und bestimmt auch 'Orzifarische' Dimensionen angenommen haben. Mit den meisten kann wegen ihres spezifischen Charakters kaum jemand etwas anfangen, nicht einmal ein Antiquariat. Ich glaube jetzt, eine Lösung gefunden zu haben.
In dritter Generation hat der Sohn schon wieder eine ansehnliche Bibliothek zusammengetragen und hat, halb so alt wie ich, viel mehr als ich gelesen, sich auch nicht derart auf eine bestimmte historische Epoche eingeschränkt. Hingegen habe ich noch nie ein elektronisches Buch benutzt und die Zeit gefunden, mir entspannt ein Hörbuch anzuhören, und die altertümlichen Lesegewohnheiten werde ich wohl auch kaum noch ändern.
Nun noch einmal zur Haltung der Schriftsteller zur Sowjetunion in den 1930er Jahren. Sie sahen, was sie sehen wollten. Sie mussten eine kritische Einstellung mitbringen, wenn sie dann mehr sahen als andere. Lagerdenken war verbreitet, man wollte der 'eigenen', der Sache des Antifaschismus nicht schaden, und fiel prompt auf Fälschungen und durch Folter erzwungene Geständnisse herein.
Henri Quatre hat immerhin in Frankreich den Ausgleich nach einem jahrzehntelangen Bürgerkrieg hinbekommen. Wichtig war nicht die Konfession - auch Montaigne war beim alten Glauben geblieben - sondern der Wille zum Kompromiss und zum Wiederaufbau des zerstörten Landes. Als Heinrich Mann seinen Henri Quatre vollendet hatte, tobte in Spanien der Bürgerkrieg. Erst 1975 wurde, nach hunderttausenden Toten des Franco-Regimes, ein vorläufiger Ausgleich geschaffen, ohne dass die Vergangenheit Gegenstand einer landesweiten Diskussion geworden wäre, die Republikaner hatten insgesamt das Nachsehen (und jetzt schlägt das Pendel wieder nach 'links' aus).
Man sollte immer beachten, dass die Geschichte für die Zeitgenossen noch offen war. 1937, im Jahr der Moskauer Schauprozesse, wusste man zwar, wenn man es wahrnehmen wollte, was sich nach dem Reichstagsbrand abgespielt hatte und dass Bücher in Flammen aufgegangen waren, wieder einmal - im kommenden Jahr kann man das 200jährige Jubiläum des Wartburgfestes 1817 begehen, und wenn auch hinsichtlich der Ziele und Dimensionen der Bücherverbrennung gewaltige Unterschiede festzustellen sind, vergessen sollte man diesen Flammenschein am Rande dieses abendlichen Festes nicht ganz.
1937 wusste man aber nicht, dass zwei Jahre später der mörderischste aller Kriege entfesselt werden würde, wobei sich der Einmarsch der Roten Armee in Westbelorussland und Westukraine sicher in vergleichsweiser Stille vollzog, in Deutschland kaum wahrgenommen.
Im nachhinein kann man den Menschen in Diktaturen Vorwürfe machen, sie hätten doch dieses oder jenes früh erkennen und danach entsprechend handeln müssen. Der jetzige Bundespräsident nimmt offenbar an, dass alle DDR-Bürger aus dem Westfernsehen hätten erkennen müssen, dass sie in einem "Unrechtstaat" leben. "Gute", "Böse" und "Mitläufer" - schön, wem eine solche Sicht als ausreichend erscheint.
1969 erschien ich das erste Mal in der Sowjetunion, und unsere Moskauer Gastgeberin, die jüdischer Herkunft war, meinte, dass es kaum eine Familie gäbe, die nicht unter Stalin Opfer gebracht hätte. Davon erfuhren wir zu Hause überhaupt nichts, im Unterricht war Stalin eine "Unperson", man sagte höchstens, dass die Sowjetarmee in der Zeit über Hitlerdeutschland siegte, als Stalin an der Macht war. Und ich fuhr für längere Zeit nach Moskau, lernte die russischen Menschen und die Angehörigen anderer Völker der Sowjetunion näher kennen, bevor ich nach dem Fall der Mauer erstmals mit Bundesbürgern zu tun bekam und einige Jahre später auch Schweizer in größerer Anzahl sah.
Die Begeisterung Heinrich Manns und Lion Feuchtwangers für die Sowjetunion fiel also nicht weiter auf. Erst 1977 erschien mit den Erinnerungen Ilja Ehrenburgs ein Text, in dem zwischen den Zeilen einige der Verbrechen angedeutet wurden, im darauf folgenden Jahr Rosa Luxemburgs suversiver Artikel "Über die russische Revolution" in Band 4 ihrer Werkausgabe, ohne Kommentar.