Hallo!
Zuvörderst: Wo immer ich das Gerücht, dass es sich bei Stach um einen Psychologen handle, aufgeschnappt habe - es ist offenkundig falsch. (Schon die Art und Weise, wie er mit Freudschen Theorien sich auseinandersetzt, ließ auf einige Distanz zu diesem Bereich schließen. Und studiert hat Stach wohl Philosophie, Mathematik und Literaturwissenschaft.)
Nach der "Wasserpassage" gab es nichts mehr zu beanstanden - im Gegenteil: Dies ist sicherlich die penibelste, kompetenteste Biographie, die ich über Kafka je gelesen habe (und die es wohl überhaupt auf dem deutschen Literaturmarkt gibt). Insofern einer uneingeschränkten Empfehlung wert.
Stach weiß klug zwischen den Zeilen (etwa des Kafkaschen Tagebuches) zu lesen, übernimmt nicht unhinterfragt die Aussagen (Kafkas Tagebücher sind unzweifelhaft Literatur - nicht nur in stilistischer Hinsicht, sondern auch was das Faktische anlangt: Man darf beileibe nicht alles wörtlich nehmen). Ähnlich (allerdings nicht in literarischer Hinsicht) verhält es sich mit den verschiedensten Aufzeichnungen von Max Brod: Dieser hat Kafka in seinen Aufzeichnungen geschont, meinte gar, manche Passagen aus den Tagebüchern streichen zu müssen und erfährt durch Stach jene kritische Beurteilung, die in anderen Arbeiten leider nur zu oft fehlt: Weder ist Max Brods eigenes Schaffen von besonderem Wert (wenn es denn überhaupt das Urteil mittelmäßig verdient), noch ist seine Biographie Kafkas dem Faktischen verpflichtet: Brod selbst und auch Kafka erfahren eine deutlich geschönte Darstellung.
Dieser erste Teil endet mit dem Jahr 1911. Das bedeutet, dass es kein einziges größeres Romanfragment zu besprechen gibt (nur in einigen kleineren Arbeiten hat sich Kafka bis zu diesem Zeitpunkt versucht: "Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande" oder das Fragment "Beschreibung eines Kampfes" sind entstanden). Das kann nun für die Qualität dieses ersten Teiles ein Vorteil sein: Lassen doch häufig erst die unzulässigen Verquickungen von Werk und Leben manche Biographie zum Desaster werden. Allerdings ist praktisch alles, was Stach bisher zum Kunstverständnis bzw. dem Schreiben Kafkas sagt, durchdacht und wohlbegründet, sodass ich die beiden andere Bände mit Sicherheit auch lesen werde.
lg
orzifar