Author Topic: Reiner Stach: Kafka. Die frühen Jahre. Die Jahre der Entscheidungen.  (Read 2949 times)

Offline orzifar

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Hallo!

Der erste Teil der wohl umfänglichsten, je erschienen Kafka-Biographie. Schon zu Beginn veritables Stirnrunzeln: Versucht sich Stach doch eher als Erzähler, verfällt in ein romanhaftes Schreiben, das er - glücklicherweise - bald darauf einstellt.

Dann eine beeindruckend penible Recherche der Kinderjahre, schließlich das - von mir mit Unbehagen - erwartete Kapitel "Gedanken an Freud". Kafkas Kindheit, ein Psychologe als Autor nebst dieser Überschrift verheißen nichts Gutes. Aber überraschenderweise geht Stach auf Distanz zur dümmlichen, simplifizierenden, psychoanalytischen Interpretation, weist im Gegenteil sogar auf die Gefahren einer solchen Kaffeesudleserei a posteriori hin. Gerade, als ich ihm schon fast ungeteiltes Lob zusprechen wollte, geht dann doch der Psychofuror mit ihm durch: Er phantasiert sich aus Kafkas Liebe zum Schwimmen und zum Wasser einen Hang zum Ewig-Weiblichen zusammen. Wenngleich diese zweifelhaften Erkenntnisse nur etwas über eine Seite ausmachen bleibt doch ein negativer Nachgeschmack zurück. Insgesamt bisher (ich halte auf S. 140) aber ein wirklich gut recherchiertes, gelungenes Werk (hoffentlich bereue ich diese Sätze nicht noch ...).

lg

orzifar
« Last Edit: 19. April 2015, 01.59 Uhr by orzifar »
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Offline sandhofer

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Re: Reiner Stach: Kafka. Die frühen Jahre. Die Jahre der Entscheidungen.
« Reply #1 on: 05. Februar 2015, 19.24 Uhr »
Ich warte mal ...  :angel:
« Last Edit: 19. April 2015, 02.00 Uhr by orzifar »
Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

Offline orzifar

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Re: Reiner Stach: Kafka. Die frühen Jahre. Die Jahre der Entscheidungen.
« Reply #2 on: 21. Februar 2015, 22.06 Uhr »
Hallo!

Zuvörderst: Wo immer ich das Gerücht, dass es sich bei Stach um einen Psychologen handle, aufgeschnappt habe - es ist offenkundig falsch. (Schon die Art und Weise, wie er mit Freudschen Theorien sich auseinandersetzt, ließ auf einige Distanz zu diesem Bereich schließen. Und studiert hat Stach wohl Philosophie, Mathematik und Literaturwissenschaft.)

Nach der "Wasserpassage" gab es nichts mehr zu beanstanden - im Gegenteil: Dies ist sicherlich die penibelste, kompetenteste Biographie, die ich über Kafka je gelesen habe (und die es wohl überhaupt auf dem deutschen Literaturmarkt gibt). Insofern einer uneingeschränkten Empfehlung wert.

Stach weiß klug zwischen den Zeilen (etwa des Kafkaschen Tagebuches) zu lesen, übernimmt nicht unhinterfragt die Aussagen (Kafkas Tagebücher sind unzweifelhaft Literatur - nicht nur in stilistischer Hinsicht, sondern auch was das Faktische anlangt: Man darf beileibe nicht alles wörtlich nehmen). Ähnlich (allerdings nicht in literarischer Hinsicht) verhält es sich mit den verschiedensten Aufzeichnungen von Max Brod: Dieser hat Kafka in seinen Aufzeichnungen geschont, meinte gar, manche Passagen aus den Tagebüchern streichen zu müssen und erfährt durch Stach jene kritische Beurteilung, die in anderen Arbeiten leider nur zu oft fehlt: Weder ist Max Brods eigenes Schaffen von besonderem Wert (wenn es denn überhaupt das Urteil mittelmäßig verdient), noch ist seine Biographie Kafkas dem Faktischen verpflichtet: Brod selbst und auch Kafka erfahren eine deutlich geschönte Darstellung.

Dieser erste Teil endet mit dem Jahr 1911. Das bedeutet, dass es kein einziges größeres Romanfragment zu besprechen gibt (nur in einigen kleineren Arbeiten hat sich Kafka bis zu diesem Zeitpunkt versucht: "Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande" oder das Fragment "Beschreibung eines Kampfes" sind entstanden). Das kann nun für die Qualität dieses ersten Teiles ein Vorteil sein: Lassen doch häufig erst die unzulässigen Verquickungen von Werk und Leben manche Biographie zum Desaster werden. Allerdings ist praktisch alles, was Stach bisher zum Kunstverständnis bzw. dem Schreiben Kafkas sagt, durchdacht und wohlbegründet, sodass ich die beiden andere Bände mit Sicherheit auch lesen werde.

lg

orzifar
« Last Edit: 19. April 2015, 02.00 Uhr by orzifar »
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Offline orzifar

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Hallo!

Nachdem ich nun rund die Hälfte des zweiten Bandes gelesen habe bin ich mir recht sicher: Das ist ziemlich genau die Kafka-Biographie, die ich mir gewünscht habe. Sehr genau, sehr klug und auch sehr gut geschrieben Während all die anderen Interpreten oft ihren ganz persönlichen Kafka präsentierten, versucht Stach sich einzufühlen - und dies gelingt ihm glänzend: Ich habe etwa noch nie so durchdachte, einfühlsame Bemerkungen zum großen Briefwechsel mit Felice gelesen (bei Canetti liest man viel über Canetti, weniger über Kafka), Kafka erscheint nicht als der unselbständige, asexuelle Sonderling (der er nicht war), sondern als Mensch mit nachvollziehbaren Neigungen und einer unbedingten Passion, der er fast alles unterordnete: Dem Schreiben.

Diese Biographie hat das Zeug dazu, noch lange der Standard zu bleiben. Wirklich großartig.

lg

orzifar
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Offline orzifar

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Re: Reiner Stach: Kafka. Die frühen Jahre. Die Jahre der Entscheidungen.
« Reply #4 on: 07. Oktober 2015, 04.30 Uhr »
Hallo!

Nach über 2000 Seiten Kafka-Biographie kann ich ein Resumee ziehen: Es hat sich mehr als gelohnt. Dieses Werk hat einen Standard gesetzt, an ihm werden sich alle zukünftigen Kafka-Biographen und Exegeten messen lassen müssen. Stach ist hier Außergewöhnliches gelungen: Nicht nur eine faktenreiche, sehr anschauliche und auch sprachlich gelungene Lebensbeschreibung zu verfassen, sondern - was gerade im Hinblick auf Kafka mehr als selten ist - auch eine Werkinterpretation (in Ansätzen) zu liefern, die nirgendwo den Interpreten selbst und dessen Befindlichkeiten in den Mittelpunkt stellt, sondern sich um das Werk als solches bemüht - und das mit enormem Einfühlungsvermögen und bestechender Literaturkenntnis.

Die Gefahr, den Autor Kafka durch Interpretationen und Auslegungen gleichsam zu Tode zu analysieren und dem Leser damit jegliche Freude am Lesen selbst zu nehmen, kann - was Schulen und Universitäten betrifft - gar nicht überschätzt werden. All denen sei ein Tucholsky-Zitat ins Stammbuch geschrieben, das ich für eine der klügsten Äußerungen über Kafka halte: "Ihr sollt nicht fragen, was das soll" schreibt er in einer Rezension der Strafkolonie, "das soll gar nichts, das bedeutet gar nichts". Aber lesen sollten wir es.

lg

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