Author Topic: Alois Brandstetter: Zur Entlastung der Briefträger  (Read 1269 times)

Offline orzifar

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Alois Brandstetter: Zur Entlastung der Briefträger
« on: 26. Dezember 2012, 21.50 Uhr »
Hallo!

Nun erfährt also das mit Abstand erfolgreichste Buch Brandstetters eine Fortsetzung. Jene drei Briefträger kommen wieder zu Ehren, denn in "Zu Lasten ..." einiges zur Last gelegt wurde. Aber wie das häufig Fortsetzungen so an sich haben: Sie vermögen nicht einzulösen, was da einmal versprochen wurde.

Bei Brandstetter ist es offenkundig: Was er am Beginn seines Schreibens (auch noch in der "Überwindung der Blitzangst") so glänzend verstand: Nämlich sprachliche und soziale Sonderbarkeiten zu beobachten und in eine Sprache zu transponieren, die die Paradoxa des common sense nur umso deutlicher hervortreten ließ (nebst einigen, immer äußerst angenehm, lehrreich und witzig zu lesenden etymologischen Ausflügen), das hat er mit zunehmender Dauer von der bloßen Darstellung zu einer oft peinlichen Kommentierung verwandelt. Der geistreiche Beobachter und Beschreiber wurde zum moralisierenden Kommentator, dessen etwas betulich-konservative Ethik zwischen den Zeilen hervorquillt.

Und so ist dies Buch nur Beweis und Abschluss einer Entwicklung, die den Leser mehr als enttäuchst zurücklässt. Die Briefträger (aber auch das restliche Personal), die einst fleischgewordener Ausdruck verschiedener menschlicher, allzu menschlicher Grundhaltungen waren, sind hier nur noch Sprachrohr für die Kommentierung des Weltgeschehens aus brandstetterscher Sicht. Man wird also nicht mehr auf ironische Weise mit Stammtischargumentationen konfrontiert, sondern mit den zweifelhaften, christlich verbrämten Meinungen eines emeritierten Universitätsprofessors. Und das ist ein Vergnügen minderer Art, wie es auch schon die letzten Romane des Autors waren. Dies ist der entscheidende Punkt: Stammtischmeinungen zu hören und in ihrer bloßen Schilderung das Verräterische und Dümmliche solcher Ansichten zu demonstrieren oder mehr-weniger ernsthaft sich über die Schlagzeilen der Boulevardpresse auszulassen.

Fazit: Schade um einen Autor, der einstmals Witz und Esprit besessen hatte, der etwa auch wunderbar zu lesenden Kindheitserinnerungen verfasst hat. Und nun nur noch als Kolummnenschreiber für's christliche Wochenblatt taugt.

lg

orzifar
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