Hallo!
Ein irgendwie seltsames Buch, das sich primär als eine Entgegnung auf Samuel Huntingtons "Clash of Civilizations" versteht. Dieses ist - berechtigt - einiger Kritik von seiten des Autors ausgesetzt, ist es doch eine oft oberflächliche und auch dümmliche Kampfschrift des christianisierten Westens gegen den islamischen Fundamentalismus. Huntington war froh, sein antagonistisches Denken aus dem Ost-West-Konflikt fortführen zu können, indem er in der arabischen Welt ein neues Feindbild ausmachte. Oberflächlich, vorurteilsbehaftet und ohne Tiefgang bedient es sich der typischen Klischees, um die eigene Kultur als prägende Kraft darzustellen, die sich - um überleben zu können - von dieser Gegenwelt abschotten soll.
Huntingtons Werk verdiente also im Grunde kaum Beachtung, wäre es nicht zu einem Bestseller geworden und als fundierte Analyse einer neuen Weltordnung verstanden worden. Riesebrodt ist es daher um eine Gegendarstellung zu tun - und, soweit man das nach einem Drittel des Buches zu beurteilen vermag, ist ihm diese auch gelungen.
Das aber vorhin erwähnte Seltsame an diesem Werk liegt darin, dass sich mir die Meinung des Autors bislang nur im Widerspruch zu anderen Autoren gezeigt hat, dass der Leser nunmehr weiß, warum diese oder jene Theoriebildung zu verwerfen ist, ohne aber zu erfahren, was denn im Kopf des Autors vorgeht. Wenngleich ich noch immer vermute, dass ich das auf den restlichen Seiten erfahren werde, ist die bisherige Vorgehensweise unbefriedigend: Kann doch bei den unzähligen kurzen Widerlegungen der erwähnten Bücher nicht davon ausgegangen werden, dass der Leser diese auch kennt; für eine ausführlichere Darstellung nimmt sich Riesebrodt hingegen keine Zeit. Und von einem weiteren Vorwurf, den er zu Recht gegenüber Huntington erhebt, kann auch er - mutatis mutandis - nicht freigesprochen werden: Während Huntington Trivialitäten für's gemeine Volk äußert, ergeht sich Riesebrodt immer wieder in einer ebenso inhaltsleeren Diktion, verwendet aber zu diesem Zweck soziologische Leerphrasen.
In der Hoffnung, dass mich der Verfasser nicht dumm sterben lasse
orzifar
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Hallo!
Das Buch hat mich nun doch einigermaßen versöhnlich zurückgelassen, Riesebrodt bemüht sich um klare Definitionen (wenn ihm dabei auch der Soziologenjargon manchmal einen Strich durch die Rechnung macht), um ein strukturiertes Vorgehen und ist sich der Schwierigkeiten bewusst, die eine Theoriebildung in der Soziologie mit sich bringt.
Er geht in Bezug auf seine Religionstheorie bzw. der Entstehung von Religion von drei Kernannahmen aus:
1. Es existieren "übermenschliche" persönliche oder unpersönliche Mächte
2. Diese haben Einfluss auf das Sozialleben, der einer direkten Kontrolle entzogen ist
3. Man kann Zugang zu diesen Mächten finden, um sie zu manipulieren
Des weiteren unterscheidet er verschiedene religiöse Praktiken:
- interventionistische (Gebet, Opfer, etc.)
- diskursive (deuten, tradieren, verstärken, revidieren religiöses Wissen)
- abgeleitete (überformen außerreligiöse Handlungen)
Die Krise ist das die Religion konstituierende Faktum, Religion wird als ordnungs- und sinnstiftend für das mit anderen Erklärungsmodellen nicht Verstehbare angesehen, dient zur Kontingenzbewältigung. Bei den Krisen werden solche der Naturbeherrschung (Katastrophen, aber auch in bezug auf Jahreszeiten, Jagd, Ernte ...), des menschlichen Körpers (Krankheit, Fruchtbarkeit, Tod) und des sozialen Lebens (Aufbrechen tradierter Familienkonstellationen, Autoritätsverluste, Ungleichheit ...) unterschieden. Religionsstiftungen dienen im Regelfall als Krisenbewältigungsszenario, liefern Erklärungen und Lösungsansätze für ansonsten nicht ins Weltbild integrierbare Erscheinungen.
Ein besonderes Anliegen ist Riesebrodt die Abgrenzung von Klassenkulturen (sozioökonomisch homogen) und Kulturmileus (heterogen, wobei er hier weitere Unterscheidungen trifft), welche zwar hauptsächlich von der Mittelklasse geprägt, deren Hauptmitgliederzahl aber aus der Unterschicht rekrutiert werden. Als Gründe für eine Teilnahme an solchen fundamentalistischen Bewegungen gelten ihm möglicher Statusverlust, Verlust tradierter Familienordnungen, daraus resultierende Unsicherheiten, deren Lösung für die Betreffenden durch ein zurück zu einer als heil gedachten, früheren Welt besteht.
Eine weitere Unterscheidung trifft der Autor zwischen literalistisch-legalistischem Fundamentalismus, der sich stark an der Interpretation überlieferter Schriften orientiert, hauptsächlich von Männern getragen wird, streng patriarchalisch ausgerichtet ist und dem charismatischem Fundamentalismus, in dem Frauen eine ungleich stärkere Rolle zugestanden wird (Charisma im ursprünglichen Wortsinne der durch die Gnade Gottes vermittelten Befähigungen und Gaben). Die "Schau" Gottes ist geschlechtsneutral, schafft für Frauen ein öffentliches Forum, um ihre eigenen Interessen vertreten zu können, erzeugt aber eine für die Befreiung der Frauen kontraproduktive "gemäßigte" patriarchalische Ordnung, in der ihr Einfluss wieder zusehends verloren geht.
Im Engagement der Frauen für den Fundamentalismus sieht Riesebrodt ein zweifaches Paradox: Normativ (weil sich Frauen für eine Bewegung einsetzen, die per se ihre Recht zu beschränken sucht) und strukturell, da ein solches Engagement aufgrund der gedachten Beschränkung der Frau auf die häusliche Sphäre überhaupt nicht vorgesehen ist.
Die Erklärungsversuche für dieses Verhalten bleiben jedoch unbefriedigend - und dies wohl auch deshalb, weil R. implizit von einem "positiven", der Aufklärung geschuldeten Freiheitsverständnis ausgeht: Dass da jeder im Grunde einer Art von individualistischer Freiheitsmaximierung huldigen würde. Andeutungsweise kommt die Relativierung dieser Annahme im Buch in der Sehnsucht vieler nach alten (patriarchalen) Strukturen zum Tragen; tatsächlich kann man von der Annahme ausgehen, dass ein Übermaß individueller Freiheit keineswegs für viele erstrebenswert erscheint, vielmehr muss bloß der Anschein einer solchen freien Willensbildung gewahrt bleiben.
Und auch Riesebrodts Zukunftsmodell wird zu einem nichtssagenden Konstrukt: Da er - mit Recht - davon ausgeht, dass selten Extrempositionen auf längere Sicht sich durchzusetzen in der Lage sind, postuliert er eine Art "Zwischenzustand", in dem system- und gesellschaftsimmanent neue Positionen ausverhandelt werden. Das nun aber ist nichts anderes als die von ihm zu Beginn des Buches kritisierte Annahme, dass es zu einer langsamen Säkularisierung und Modernisierung der Geschlechter-, Kultur- und damit Religionsverhältnisse kommt, einer positiv konnotierten Entwicklung in Richtung rationaler Modernität. Dabei ignoriert er die Tatsache, dass er eine solche lineare Entwicklung selbst durch den Verlauf der letzten Jahrzehnte widerlegt sieht.
Die Sprache des Buches ist - wie bei Soziologen leider nicht weiter verwunderlich - gewöhnungsbedürftig (Genitivfetischismus und allerlei redundantes Wortgeklingel: "Vielmehr findet die Milieubildung durch Institutionalisierung praxisrelevanter Ideologie sowie ideologisch signifikanter Praxis statt, welche gemeinsam den klassenübergreifenden Zusammenhalt schaffen, verstärken und reproduzieren." Das führt - je nach Gemütslage - zu Amusement oder Verärgerung und ist als eine kaum heilbare Berufskrankheit anzusehen.) Insgesamt aber ein durchaus anregendes und lesenswertes Buch.
lg
orzifar