Author Topic: Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil  (Read 3052 times)

Offline mombour

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Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil
« on: 01. September 2011, 15.20 Uhr »
Hallo,

mal wieder was Zeitgenössisches. Es ist kein Roman, kein Tagebuch. Vom Genre her formlos, passt es aber gut in diese Rubrik.

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil

Arno Geiger hat ein literarisch formloses Buch über seinen Vater geschrieben. Es ist kein Roman, keine Fiktion. Der Vater leidet an Alzheimer Demenz, die Krankheit hier aber nur sekundär auftritt, in erster Linie es aber um das Verhältnis zwischen Vater und Sohn geht. Eine subtile Annäherung an den Vater, dessen Herkunft auch beleuchtet wird. Als die Krankheit einsetzt, der Vater seine ersten Aussetzer hatte, wird falsch reagiert. Der Vater wird für ein Fehlverhalten kritisiert, was durch seine Erkrankung verschuldet ist. So wird es in vielen Familien sich zugetragen haben, bis irgendwann die Erkenntnis einsetzt, der Vater ist krank. August Geiger geht immer mehr in sein Exil, in seine Krankheit, sodass er wie ein heimatloser sich nach Hause sehnt, obwohl er ja physisch zu Hause ist. Aber der Geist zerfällt, die ganze Persönlichkeit, und das ist die Fremde, die dieser Vater fühlt. Arno Geiger hat diesen Vorgang an sich sehr schön erzählt, warum er aber die Alzheimer Erkrankung zur Metapher erklärt, ist seltsam. Alzheimer als

Quote from: Arno Geiger
..ein Sinnbild für den Zustand unserer Gesellschaft. Der Überblick ist verlorengegangen, das verfügbare Wissen nicht mehr überschaubar, pausenlose Neuerungen erzeugen o
Orientierungsprobleme  und Zukunftsängste.
(Seite 58).

Ich habe den Eindruck, mit diesem Gesellschaftsbezug soll der Text literarisch erhöht werden, denke ich bei diesem Zitat doch an Kafka. In meiner Rezension zu "Der Verschollene" schrieb ich:

Quote from: mArtinus
„...dass Kafka zu Beginn des 20 Jahrhunderts erschreckend in eine hochtechnisierte Welt sah, die den einzelnen Menschen, das Individium, unbedeutend erscheinen ließ.“
Ich gehe davon aus, Arno Geiger habe sich bewusst auf Kafka bezogen, ihn nur variiert, an einer anderen Stelle Kafka sogar wörtlich erwähnt  wie auch andere Größen. An sich besteht aber kein Grund seine Bildung vorzuzeigen, wenn es um den eigenen Vater geht, der übrigens schon immer „einen Hang zum Eigenbrötlerischen hatte“, aus dem Dorf kaum herausgekommen sei. Einerseits Verständnis für die Situation des Vaters gezeigt wird,  andererseits auf  Grenzen gestoßen wird, wenn der Autor sich  ärgert, wie überlegt doch manche Antworten seines Vaters erscheinen, außerdem am Rande schwelende Aggression brodelt, auf Seite 23 folgendes zugegeben wird:

Quote from: Arno Geiger
Hätte ich damals nicht mehrere Monate im Jahr zu Hause verbringen müssen, damit ich als Ton-und Videotechniker auf der Bregenzer Seebühne das Geld verdiente, das das Schreiben nicht abwarf, hätte ich einen weiten Bogen um das Elternhaus gemacht.

All das, obwohl auf Seite 11 noch zuversichtlich verkündet wird:

Quote
Da mein Vater nicht mehr über die Brücke in meine Welt gelangen kann, muss ich hinüber zu ihm.

Ein redlicher Vorsatz, der sich nur teilweise erfüllt. Das Buch hat gute Ansätze, die dem Leser die Situation nahebringen kann, wie es sein kann, wenn ein Familienmitglied einer dementiellen Entwicklung ausgesetzt ist und irgendwann doch der Punkt erreicht wird, dass die Inanspruchnahme eines Pflegeheimes irgendwann nicht mehr abzuwenden ist. Aber, wie oben ausgeführt, auch ein Buch, was Fragen aufwirft, warum nur Arno Geiger dieses Buch geschrieben habe. Um seinetwillen oder zum Andenken an seinen Vater?

Quote from: Arno Geiger
Meine ganze Kindheit lang war ich stolz gewesen, sein Sohn zu sein. Jetzt hielt ich ihn zunehmend für einen Schwachkopf.
Es wird wohl stimmen, was Jacques Derrida gesagt hat: dass man stets um Vergebung bittet, wenn man schreibt.
(Seite 23)

Liebe Grüße
mombour
Thomas Hardy: Herzen in Aufruhr
Fernando Pessoa: Buch der Unruhe

Offline Gontscharow

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Re: Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil
« Reply #1 on: 02. September 2011, 23.27 Uhr »

Hallo mombour!

Das Buch von Arno Geiger hat mir ausnehmend gut gefallen!
Von Freunden zu der Lektüre gedrängt, war ich zunächst skeptisch, so nach dem Motto: Schon wieder jemand, der über seinen demenzkranken Vater schreibt!

Als ich mich einmal darauf eingelassen hatte, hat es mich sehr berührt. Dass da irgend welche Aggressionen brodeln, wie du schreibst, kann ich nicht finden. Das liegt zurück! Der Vater war ihm unverständlich, ein Monolith. Eigentlich war er vorher der „König im Exil“. Durch die Krankheit drehen sich die Machtverhältnisse zwischen Vater und Sohn um. Der Autor erfährt viel über sich und seine Kindheit und lernt den Vater verstehen, z. B. warum er sich nie aus seinem Dorf wegbewegen wollte. Der Vater gehört zu der Generation, die im Krieg Traumatisches erlebte und nie darüber geredet hat, seinen Kindern und sich selbst ein Rätsel. Die Krankheit setzt die Verdrängungs-und Kontrollmechanismen außer Kraft. Aufgrund des Gedächtnisverlustes empfindet er Vergangenes als gegenwärtig und will z. B eingedenk seiner Gefangenschaft  immer wieder nach Hause, obwohl er zu Hause ist.
Die Aussprüche des demenzkranken Vaters, bizarr und hellsichtig, die am Anfang oder Ende jeden Kapitels zitiert werden  und Geiger zu der Frage veranlassen, warum  ihm als Schriftsteller so etwas nicht einfällt, nehmen mich völlig für dieses Buch ein. Ein liebevolles,  respektvolles Buch!

Eigentlich würde es in den von sandhofer eingerichteten thread “Belletristik über Sterben /Tod“ passen.


Offline Anita

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Re: Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil
« Reply #2 on: 16. September 2011, 11.40 Uhr »
In dem Interview Arno Geiger im Gespräch mit Thea Dorn, da gab es starke Einblicke in die Unerreichbarkeit des Vaters. Er stand da wirklich wie ein Monolith, aus einem Guss, eher gefühlskarg, aber er hat den anderen, auch seinen Kindern, nichts auferlegt. Hier sehe ich eher die Situation wie bei den Manns, also Thomas Mann zu Klaus als bei Kafkas. Aber das jetzt nur am Rande.

Auch ich habe das Buch geschenkt bekommen, selber hätte ich es mir nicht gekauft, meine Bedenken gingen in die Richtung: Herz-Schmerz, Verunglimpflichung einer Person oder gar Verharmlosung einer Krankheit. Das alles hat sich nicht eingestellt, nein ganz im Gegenteil, ich bin tief in den Sog des Buches hineingezogen worden. Zu Beginn war es die Offenheit mit der der Autor über die Streitigkeiten und Streitereien berichtet hat. Man fand keinen Schnittpunkt mehr, der Vater tat Dinge, die vom Sohn als Trotz oder gar Aggression gegen ihn aufgefasst wurde, aber die Verantwortung gab der Vater nicht auf. Diese Situation, die sich immer am Anfang einstellt, wie das berühmte Katz und Maus-Spiel, wobei allerdings beide Parteien, Kranker sowie Angehörige, eher die Mäuse sind, das war sehr einfühlsam, authentisch ehrlich beschrieben und öffnete damit den Zugang zu Vater und Sohn.

Zur Frage warum schreibt der Autor darüber? Weil jeder Autor über Dinge schreibt, die ihm persönlich sehr bewegen, die Mittelpunkt seines Lebens sind? Ein Autoren-Zwang …

Und es ist dem Autor sogar sehr gelungen! Er zeichnet ein anmutiges Portrait über seinen Vater. Er transportiert die Liebe und Wertschätzung beiderseits. Nichts ist kitschig oder überzogen – sondern alles haftet auf dem realen Boden und dennoch geht das Buch unter die Haut. Kurz: mir hat es gut gefallen!
Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.  Nietzsche in "Also sprach Zarathustra"

Offline klara ka

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Re: Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil
« Reply #3 on: 04. Januar 2012, 11.43 Uhr »
Ich habe dieses Buch aus persönlichen Gründen ans Herz gelegt bekommen. Ich hatte zunächst die Befürchtung, dass es sich um ein melancholische Abschiedspamphlet vom Vater handelt, aber ganz und gar nicht! Ich finde, Geiger hat seinen Vater auf sehr einfühlsame Weise sehr erlebbar/spürbar für den Leser gemacht. Es ist nicht so, dass er seinen Vater vorführt, er kann dies nicht, er kann das nicht. Nein, er versucht (und teileweise gelingt ihm das auch) zu verstehen, warum der Vater so wird und lebt, wie er es im Verlauf seiner Krankheit eben tut.

Meiner Meinung nach ein gelungenes und unaufgeregtes Buch über eine Krankheit, die mit dem Älterwerden der Gesellschaft immer häufiger auftreten wird, und auf die sich so manch ein Angehöriger vielleicht besser einstellen kann, wenn er dieses Buch liest. Obwohl, die krankheit steht gar nicht so im Vordergrund, vielmehr der Vater. Vielleicht ist auch das der Schlüssel. Auch wenn sich der Mensch unweigerlich verändert, er bleibt doch immer noch ein Mensch, nicht nur ein Kranker.

Klara