Hallo Bartlebooth - und alle anderen, die sich diesen Thread noch antun

Das ist für mich aber doch ein ziemlich entscheidender Unterschied - vielleicht auch nur deshalb, weil ich mich immer noch mit einer behelfsmäßigen Definition von "äußerer Handlung" herumschlagen muss.
Ich fürchte, dass ich mit einer umfassenden Definition nicht dienen kann, einzig mit Beispielen (wie bereits getan). Der Stechlin besteht im Grunde aus Maximen und Reflexionen eines älteren Herrn, sie werden einer Handlung unterlegt, die fast beliebig ist (ob er nun am Schluss stirbt oder der Sohnemann die eine, andere oder keine kriegt ist für den Fortgang des Buches nicht entscheidend). Beim Hotel Savoy habe ich (ohne den Bezug zu diesem Thread zu sehen) darauf hingewiesen, dass es nach meinem Dafürhalten für diesen Roman keines tatsächlichen "Abschlusses" bedurft hätte (er hat auch nicht geschadet).
Nun gibt es durchaus Romane, die von einem solchen Abschluss leben (etwa Kriminalromane) bzw. von Peripetien, dem Erzeugen von Spannungsmomenten durch das Wechseln zwischen den einzelnen Handlungssträngen etc., Simmel, Konsalik - überhaupt leicht verfilmbare Bücher (wiewohl es auch hier natürlich Ausnahmen gibt) leben von solchen "äußeren" Geschehnissen. Ein zusätzliches Erkennungsmerkmal ist für jene Art der Handlung (wie sie mir in diesem ganzen Thread vorschwebt) die Nacherzählbarkeit in der Form "a und b begeben sich auf eine Reise, werden überfallen, entführt, befreien sich mit Hilfe der hübschen Tochter der Entführer, geraten aufgrund beiderseitiger Verliebtheit miteinander in Konflikt etc. etc.". Beim Stechlin ist man in dieser Hinsicht alsbald am Ende, Dubslav spricht mit dem Lehrer, seinem Diener, seinem Sohn, an der Tafel seiner Schwester, er bewirbt sich um ein politisches Amt (das er nicht bekommt) und räsoniert über Politik, die soziale Frage usf.
Dich Bartlebooth als Leser vorstehender Zeilen gedacht muss ich mir fast Gewalt antun, um den Beitrag nicht mit einer Unzahl Prokatalepsen zu spicken. Mir ist klar, dass eine Menge Einwände gegen diese Art der Definition erhoben werden kann, vor allem weil eine exakte Definition des zu definierenden Gegenstandes wegen (der Literatur, die sich aufgrund ihrer Mannigfaltigkeit einer solchen konzisen Beschreibung entzieht) nicht gegeben werden kann.
Vielleicht versuche ich es noch einmal mit einer anderen Terminologie: Sicher kann ich zwischen dem Aufbau der meisten Geschichten Fontanes (insbesondere der späteren, ganz insbesondere des "Stechlin") einen Unterschied zu den großen Realisten wie Storm oder Keller feststellen. Die Geschichten sind reflexiver, mehr aus dem Gang des Lebens gegriffen als um ein zentrales Ereignis herum gegliedert zu sein. Man hat vielmehr mehrere Brennpunkte, mehrere Schauplätze und Handlungsstränge, die aufeinander bezogen sind (ich möchte sagen beim Stechlin stehen die beiden zentralen Stränge um Dubslav bzw. Woldemar sogar in einer recht engen Beziehung - in Bezug auf ihren reflexiven Gehalt nämlich).
Genau dieser Unterschied scheint mir evident. Vergleicht man etwa Storms "Schimmelreiter" mit dem "Stechlin", so fällt - vielleicht - ins Auge, was ich unter Mangel (in keinesfalls negativem Sinne) an äußerer Handlung bei Fontane (vergeblich) verständlich zu machen suchte.
Fontane ist noch kein Naturalist, der einfach nur abschildert und das Nebensächliche literaturfähig macht; er ist gleichwohl auch nicht mehr so von einem überraschenden "berichtenswerten", besonderen zentralen Ereignis abhängig wie eigentlich das gesamte 19. Jahrhundert vor ihm. Er ist Wegbereiter der Moderne, steht aber noch ganz eindeutig in einer anderen Erzähltradition, so wenigstens ist mein Eindruck aus der - zugegebenermaßen schmalen, aber stets wachsenden - Fontanelektüre, die mir als Anschauungsmaterial zu Gebote steht.
Um diese "Unabhängigkeit von einem zentralen Ereignis", einem Ereignis überhaupt war mir zu tun. Von Fontane führt der Weg tatsächlich ins 20. Jahrhundert (etwa zu Th. Mann, der sich selbst in einer Art Nachfolge sah, berechtigt, wie mir scheint), aber er ist als Realist (wenn man denn der literaturgeschichtlichen Definition folgt) kein Wegbereiter des Naturalismus (das wären wohl eher Balzac oder Freytag). Wobei sich im 20. Jahrhundert dann fast alle Stilrichtungen nebeneinander oder sich überschneidend finden und auch die "Moderne" für mich ein derart inhomogenes Konglomerat ist, dass eigentlich jeder ein Wegbereiter für alles sein kann. (Edit: Jetzt hab ich diesen letzten Absatz zusammengestrichen und reduziert, aber er will mir immer noch missverständlich, in jedem Fall sehr kontrovers erscheinen. Denn - Prolepsis!

- natürlich kann ich mir unzählige Argumente vorstellen, die Fontane sehr wohl als einen zum Naturalismus führenden Schriftsteller beschreiben. Für mich ist er allein aufgrund der Sprache ("poetischer Realismus") jemand, der ohne Umwege zum bürgerlichen Realismus des 20. Jahrhunderts führt, der aber kaum als Wegbereiter für Joyce angesehen werden kann, hingegen vielleicht für Proust, wobei das Problem entsteht, dass beide Vertreter der Moderne sind. Jetzt drängt sich wirklich Fontanes "weites Feld" auf.)
Liebe Grüße
orzifar