Author Topic: Herbert Marcuse: Versuch über die Befreiung  (Read 3813 times)

Offline orzifar

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Herbert Marcuse: Versuch über die Befreiung
« on: 02. Mai 2012, 02.25 Uhr »
Hallo!

So nebenher begonnen, Reminiszenz wie bei Camus: H. Marcuses "Versuch über die Befreiung". Diese Art von Philosophie war mir immer fremd, amüsant finde ich (und fand ich), mit welcher Ernsthaftigkeit man von Klasseninteressen (überhaupt "Klasse" in allen nur denkbaren Hauptworverbindungen), Establishment, koporativen Kapitalismus, ökonomischer Basis etc. schreiben kann. Eigentlich wollte ich auch wieder ein wenig Marx-Lektüre betreiben: Denn das Schlimme an Marx ist nicht der Philosoph, sondern die Marxisten. Dort, wo er auf den Hegelschen Weltgeist im proletarischen Gewande verzichtet hat (wo er v. a. als Ökonom schreibt), gibt es viel Lesenswertes. Allerdings hat vor allem die Welterlösungskonzeption das Feigenblatt für Linksdiktaturen gebildet. Kann man dem Philosophen aber nicht unbedingt vorwerfen.

Marcuse setzt nicht wenig Hoffnung in diesem Buch auf die 68iger, bewegt sich irgendwo zwischen hoffnungsloser Romantik und luzider Kapitalismuskritik. Wirklich nostalgisch aber die Terminologie - und der scheinbar tatsächlich vorhandene Traum vom post-kapitalistischen Paradies. Seltsame Lektüre :).

lg

orzifar
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Offline orzifar

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Re: Herbert Marcuse: Versuch über die Befreiung
« Reply #1 on: 04. Mai 2012, 16.59 Uhr »
Hallo!

Die Konsumanalyse Marcuses scheint mir durchaus gelungen: Der Mensch als Konsument, der sich über diesen Konsum definiert und schon deshalb, weil ihm an diesen Konsumstatussymbolen so viel liegt, ein Interesse an der Aufrechterhaltung des status quo hat. Was mir bei diesen Analysen (die durchaus scharfsinnig sind) immer so lächerlich erscheinen will, ist die Personifizierung eines kapitalistischen Systems, das sich die Unterdrückung, Verdummung, den Konsumwahnsinn auf seine Fahnen geheftet hat - einzig zu dem Behufe, die Weltrevolution nicht zu ihrem Recht kommen zu lassen. Das klingt nach Weltverschwörungstheorie, einem fast manichäischen Denken: Hier der Kapitalismus als eine reale Kraft des Bösen, etwas, das mit Hingabe an der Unterdrückung der Menschen arbeitet - dort die Geknechteten, die durch die subtilen Praktiken des Kapitalismus in ihrer Unmündigkeit erhalten werden.

Dabei ist Marcuse klar, dass die Weltrevolution gegen die Mehrheit in den westlichen (= kapitalistischen) Ländern durchgeführt werden müsste: Er weist zuerst auf die unzähligen, neu geschaffenen Bedürfnisse hin, welche eine Art "biologische" Dimension erreicht zu haben scheinen, diese Dimension aber muss geändert werden, denn die "qualitative Differenz zwischen bestehenden Gesellschaften und einer freien Gesellschaft affiziert alle Bedürfnisse und Befriedigungen jenseits der animalischen Stufe". Und er fährt fort: "Triumph und Ende der Introjektion bildete die Stufe, auf der die Menschen das Herrschaftssystem nicht ablehnen können, ohne sich selbst, ihre eigenen repressiven Triebbedürfnisse und Werte abzulehnen. Wir müssen daraus schließen, daß die Befreiung Umsturz gegen den Willen und gegen die vorherrschenden Interessen der großen Mehrheit des Volkes bedeutet." - Das alles mag richtig sein, man mag dem sogar zustimmen, aber es stellt sich natürlich die Frage, wer und warum, kraft welcher Einsicht, denn nun das Recht haben solle, dieser großen Mehrheit zu sagen, wie sie zu leben habe. Wenn dies nicht im Rahmen ethisch-moralischer Überlegungen gerechtfertigt werden kann, so ist das der ideale Beginn einer Dikatatur. Andererseits scheint ein gewisses Recht auf Einschränkung der Freiheit durchaus legitim zu sein: Selbst wenn die Mehrheit der Menschen auf diesem Globus der Meinung ist, dass man sich um den Schutz dieses Lebensraumes nicht zu kümmern braucht (weil sie nicht verstehen, dass Umweltschutz immer nur Menschenschutz bedeutet - denn die Umwelt wäre am besten dadurch geschützt, wenn es keine Menschen gäbe), sollte die Minderheit dazu in der Lage sein, Regelungen zu schaffen, die einen solchen Missbrauch verhindern.

Diese problematischen Zustände sind aber eines gewiss nicht: Ausfluss bzw. Ziel einer kapitalistischen Bourgeoisie, sondern resultieren schlicht aus dem spezifisch-menschlichen Charakter, teilweise aus unserem biologischen Erbe, das auf viele Problematiken schlecht vorbereitet ist (etwa auf den Umgang mit Strukturen exponentieller Art). Von dem Erlernen einer Weitsicht, die bislang evolutionär bedeutungslos war, wird vieles abhängen; dass es aber eine Klasse gibt, welche mit allerhand Tricks der großen Mehrheit diese Einsicht verwehren will, gehört in den Bereich der Märchen. Es gibt bestenfalls bislang evolutionär erfolgreiche, mittlerweile aber gefährliche Strategien, wie jemand seine Macht aufrecht erhalten will. Als einzelnes Individuum mag er in seinem egoistischen Vorgehen Recht haben (auch evolutionär im Recht sein), was ontogenetisch richtig ist, kann - und wird - aber ein phylogenetischer Bauchfleck sein.

lg

orzifar
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Offline sandhofer

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Re: Herbert Marcuse: Versuch über die Befreiung
« Reply #2 on: 05. Mai 2012, 08.50 Uhr »
Hallo!

Danke für Deine Eindrücke. Ich weiss nicht, ob ich diesen Marcuse (oder den andern oder etwas anderes von diesem) gelesen habe, aber was Du hier sagst:

Was mir bei diesen Analysen (die durchaus scharfsinnig sind) immer so lächerlich erscheinen will, ist die Personifizierung eines kapitalistischen Systems, das sich die Unterdrückung, Verdummung, den Konsumwahnsinn auf seine Fahnen geheftet hat - einzig zu dem Behufe, die Weltrevolution nicht zu ihrem Recht kommen zu lassen. Das klingt nach Weltverschwörungstheorie, [...]

kommt mir bekannt vor und hat mir irgendwann, ehrlich gesagt, die Lektüre verleidet. Vielleicht ein Fehler?

Grüsse

sandhofer
Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

Offline mombour

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Re: Herbert Marcuse: Versuch über die Befreiung
« Reply #3 on: 05. Mai 2012, 11.16 Uhr »
Die Konsumanalyse Marcuses scheint mir durchaus gelungen: Der Mensch als Konsument, der sich über diesen Konsum definiert und schon deshalb, weil ihm an diesen Konsumstatussymbolen so viel liegt, ein Interesse an der Aufrechterhaltung des status quo hat.

Ich denke, die Definition des Menschen über den Konsum hat keine Zukunft, denn diese Definition beinhaltet eben auch, dass wir auf Kosten von ärmeren Ländern uns diesen (fragwürdigen) (Un)Wohlstand gönnen. Dieses Konsumverhalten auch auf immer mehr und mehr Konsum hinausläuft, was ich für genauso befremdend und selbstzerstörerisch halte wie der Raubtierkapitalismus, der nur noch mehr und noch mehr Milliarden aus ist, irrsinig auch die Vorstellung, die Wirtschaftschaftsleistung eines Landes müsse jedes Jahr steigern. Es ist nur Verblendung und Trug zu glauben, wir müssten immer mehr haben.

Liebe Grüße
mombour
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Offline orzifar

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Re: Herbert Marcuse: Versuch über die Befreiung
« Reply #4 on: 25. Mai 2012, 19.18 Uhr »
Hallo!

Leicht macht es einem der Marcuse nicht. Das klassenkämpferische Vokabular, dessen er sich bedient, wirkt betulich, seltsam, zum nachsichtigen Lächeln anregend, es ist wie bei einem aufrichtig glaubenden Christen, der da mit Verve seinen lieben Gott verteidigt. Bei dem einen wie bei dem anderen lässt sich eine völlige Verkennung der Wirklichkeit, besser - der menschlichen Natur - konstatieren.

Marcuse schreibt im zweiten Abschnitt von den Möglichkeiten der Ästhetik: Einerseits soll sie in einer Zeit, in der die Ökonomie aufgrund der technischen Möglichkeiten an Einfluss auf die Menschen, ihre Arbeitsbedingungen verliert, dieses Primat des Ökonomischen ablösen, andererseits einen revolutionären Charakter entwickeln. Die ästhetische Form transzendiert ihren Inhalt, sie verleiht dem Unerträglichen Sinn, Zweck, sie hebt das Leiden auf, tilgt es (Nietzsche sagt mit anderen Worten annähernd dasselbe). Dennoch bleibt die Kunst doch wieder nur Kunst - und in dieser Hinsicht stellt sich die Frage nach ihrer Berechtigung. Allerdings wohnt dem Ästhetischen in der technisierten Gesellschaft eine Potenz zur "gesellschaftlichen Produktivkraft" inne, und als "solche könnte sie zum Ende der Kunst durch ihre Verwirklichung" führen. "Aus den Diensten der Ausbeutung entlassen könnte die Phantasie, gestützt von den Errungenschaften der Wissenschaft, ihre Produktivkraft der radikalen Umstrukturierung der Erfahrung und Erfahrungswelt zuwenden." Doch immer besteht die Gefahr, dass auch die revolutionäre Kunst vom Markt "absorbiert und entschärft" werden, Kunst muss sich die Entsublimierung der Kultur auf ihre Fahnen schreiben, um eine Kraft zu gewinnen, die das "ästhetische Ethos des Sozialismus" ausdrückt.

Das alles wirkt ein wenig sonderbar, abgehoben und reduziert den Menschen auf einen Teilaspekt (im übrigen auch die Ökonomie). Marcuse nimmt etwa den technischen Fortschritt zur Kenntnis, er hält ihn für etwas scheinbar Selbstverständliches, ohne zu bemerken, dass dieser Fortschritt zum Teil auf genau den (egoistisch-dummen) Eigenschaften des Menschen fußt, die er konsequent verleugnet bzw. auf den Einfluss des Kapitalismus zurückführt. Auch ich bin der Meinung, dass die Erfindung von "minderwertigen Waren und luxuriösem Plunder" etwas wenig Erstrebenswertes ist, ich halte diese Entwicklung aber nicht bloß für ein Zeichen des "Fortschritts der Beherrschung der Notwendigkeit", sondern diese Entwicklung ist zu einem Gutteil konstituierend für diesen Fortschritt. Man mag über alle möglichen marktstrategischen Idiotien lästern oder gegen sie zu Felde ziehen: Sie sind immer auch ein Motor dieser Entwicklung (wie es auch häufig militärische Gründe waren, die den Fortschritt voran brachten), weshalb man nicht das Ergebnis einfach zur Kenntnis nehmen (oder für die eigenen Bedürfnisse instrumentalisieren) darf, ohne auf das Zustandekommen zu achten. Fast alle Fortschritte, technische Entwicklungen etc. waren egoistisch motiviert, neben bloßer Wissbegier war immer auch die Gier nach Macht, Reichtum und Erfolg eine (und die wahrscheinlich wichtigste) Antriebskraft. Auch ich würde mir den altruistischen Weltbürger mit philosophisch-ästhetischen Neigungen wünschen. Aber hier findet die Überleitung zu unserer Leserunde statt: Denn auch Descartes wollte von der Vorstellung der Vollkommenheit auf das vollkommene Wesen selbst schließen, was denn doch eher ein Kurschluss war (ähnlich den Anselmschen Gottesbeweisen).

lg

orzifar
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Offline sandhofer

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Re: Herbert Marcuse: Versuch über die Befreiung
« Reply #5 on: 28. Januar 2013, 08.06 Uhr »
Ich weiss nicht, ob ich diesen Marcuse (oder den andern oder etwas anderes von diesem) gelesen habe,[...]

Mittlerweile - nach Durchsicht meines Buchbestands und alter Notizen, weiss ich, dass ich beide mal gelesen haben muss. Den hier allerdings damals im Studium, nach dem Alter der Ausgabe zu schliessen.
Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus