Hallo!
Die Konsumanalyse Marcuses scheint mir durchaus gelungen: Der Mensch als Konsument, der sich über diesen Konsum definiert und schon deshalb, weil ihm an diesen Konsumstatussymbolen so viel liegt, ein Interesse an der Aufrechterhaltung des status quo hat. Was mir bei diesen Analysen (die durchaus scharfsinnig sind) immer so lächerlich erscheinen will, ist die Personifizierung eines kapitalistischen Systems, das sich die Unterdrückung, Verdummung, den Konsumwahnsinn auf seine Fahnen geheftet hat - einzig zu dem Behufe, die Weltrevolution nicht zu ihrem Recht kommen zu lassen. Das klingt nach Weltverschwörungstheorie, einem fast manichäischen Denken: Hier der Kapitalismus als eine reale Kraft des Bösen, etwas, das mit Hingabe an der Unterdrückung der Menschen arbeitet - dort die Geknechteten, die durch die subtilen Praktiken des Kapitalismus in ihrer Unmündigkeit erhalten werden.
Dabei ist Marcuse klar, dass die Weltrevolution gegen die Mehrheit in den westlichen (= kapitalistischen) Ländern durchgeführt werden müsste: Er weist zuerst auf die unzähligen, neu geschaffenen Bedürfnisse hin, welche eine Art "biologische" Dimension erreicht zu haben scheinen, diese Dimension aber muss geändert werden, denn die "qualitative Differenz zwischen bestehenden Gesellschaften und einer freien Gesellschaft affiziert alle Bedürfnisse und Befriedigungen jenseits der animalischen Stufe". Und er fährt fort: "Triumph und Ende der Introjektion bildete die Stufe, auf der die Menschen das Herrschaftssystem nicht ablehnen können, ohne sich selbst, ihre eigenen repressiven Triebbedürfnisse und Werte abzulehnen. Wir müssen daraus schließen, daß die Befreiung Umsturz gegen den Willen und gegen die vorherrschenden Interessen der großen Mehrheit des Volkes bedeutet." - Das alles mag richtig sein, man mag dem sogar zustimmen, aber es stellt sich natürlich die Frage, wer und warum, kraft welcher Einsicht, denn nun das Recht haben solle, dieser großen Mehrheit zu sagen, wie sie zu leben habe. Wenn dies nicht im Rahmen ethisch-moralischer Überlegungen gerechtfertigt werden kann, so ist das der ideale Beginn einer Dikatatur. Andererseits scheint ein gewisses Recht auf Einschränkung der Freiheit durchaus legitim zu sein: Selbst wenn die Mehrheit der Menschen auf diesem Globus der Meinung ist, dass man sich um den Schutz dieses Lebensraumes nicht zu kümmern braucht (weil sie nicht verstehen, dass Umweltschutz immer nur Menschenschutz bedeutet - denn die Umwelt wäre am besten dadurch geschützt, wenn es keine Menschen gäbe), sollte die Minderheit dazu in der Lage sein, Regelungen zu schaffen, die einen solchen Missbrauch verhindern.
Diese problematischen Zustände sind aber eines gewiss nicht: Ausfluss bzw. Ziel einer kapitalistischen Bourgeoisie, sondern resultieren schlicht aus dem spezifisch-menschlichen Charakter, teilweise aus unserem biologischen Erbe, das auf viele Problematiken schlecht vorbereitet ist (etwa auf den Umgang mit Strukturen exponentieller Art). Von dem Erlernen einer Weitsicht, die bislang evolutionär bedeutungslos war, wird vieles abhängen; dass es aber eine Klasse gibt, welche mit allerhand Tricks der großen Mehrheit diese Einsicht verwehren will, gehört in den Bereich der Märchen. Es gibt bestenfalls bislang evolutionär erfolgreiche, mittlerweile aber gefährliche Strategien, wie jemand seine Macht aufrecht erhalten will. Als einzelnes Individuum mag er in seinem egoistischen Vorgehen Recht haben (auch evolutionär im Recht sein), was ontogenetisch richtig ist, kann - und wird - aber ein phylogenetischer Bauchfleck sein.
lg
orzifar