Author Topic: Umberto Eco: Der Friedhof in Prag  (Read 1887 times)

Offline mombour

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Umberto Eco: Der Friedhof in Prag
« on: 22. November 2011, 20.40 Uhr »
Hallo,

"Der Friedhof in Prag"

Ein Roman, der lieber ein Sachbuch gewesen wäre

Umberto Eco ist Autor von Sachbüchern, Essays und Romanen. Sein neuster Roman „Der Friedhof im Park“ handelt von fiktionalen Quellen, die eine Weltverschwörung der Juden belegen sollen. Dieses Pamphlet, eine Fälschung, entstand wenige Jahre nach 1897, dem zeitlichen Ende des Romans, in diesem Jahr  der Protagonist des Romans, der Antisemit, Vielfraß und Frauenhasser  Simone Simonini, in Paris sein Tagebuch schreibt, in dem er die Vorgeschichte dieser Fälschung darlegt, Die Protokolle der Weisen von Zion. Dieses Lügenwerk war den Nazis willkommen, einige Unverbesserliche halten diese Protokolle für wahr, wie der Holocaustleugner und Bischof der Piusbruderschaft Richard Williamson, der diesen Unsinn als „gottgesandt“ einstuft.

Der in Paris lebende Simone Simonini ist die einzige Figur des Romans, die Umberto Eco der Fantasie entsprungen ist, alle anderen Personen sind historisch belegt. Trotzdem ist Simonini auch nur eine Collage von mehreren Personen, die es im neunzehnten Jahrhundert gegeben hat. Ich gehe davon aus, und vieles spricht dafür, dass der Roman größtenteils aus Textcollagen besteht. Das ist eine Kunst, deren Thomas Mann sich auch gerne bedient hat. Schwierigkeiten, die bei der Lektüre vorkommen können, kann zu einem Teil einer historischen Unkenntnnis des Lesers ursächlich sein. Das schreibe ich mal so provokant hin, als ob man dem Leser  Vorwürfe machen könnte. Das ist natürlich Unsinn. Es liegt immer noch in der Verantwortung eines Schriftstellers, wie er einen Roman konzipiert. Um es kurz zu machen: In den Kapiteln um Garibaldi und Napoleon III. begann es schon, dass ich inhaltlich den Faden verlor, vieles verständnislos wurde,  weil meine Bildung (oder Unbildung) versagte. Nach der Lektüre ist man gescheit: Ach, hätte ich vor dem Schinken die Geschichte Italiens und Frankreichs studiert, dann hätte ich mehr vom Roman gehabt. Eine große Hilfestellung während der Lektüre war der wikipedia-Artikel „Protokolle der Weisen von Zion.“ Momentmal. Erstmals ist es mir passiert, dass ich einen Roman in etwa nur folgen konnte, weil ich einen bestimmten wikipedia- artikel zur Verfügung hatte. Das kann ich gar nicht gutheißen. Sicher, Eco hat recherchiert bis in die letzten Winkel. Sogar  die Theosophin Madame Blavatzky findet Erwähnung, wir erfahren auch nebenbei, Simonini sei mit Alphonse Daudet befreundet, dieses aber  hätte gar nicht erwähnt werden müssen, denn Daudet taucht im Roman niemals auf, Victor Hugo wird zweimal erwähnt, George Sand und Chopin dürfen natürlich auch nicht fehlen, natürlich auch nicht Charcot, Freud, Hysterieforschung, Mesmerismus. Was ich sagen will, Umberto Eco packt alles in dem Roman hinein, als ob er das ganze Paris in den Roman packen wolle, obwohl niemandem aufgefallen  wäre, wenn Simonini mit Daudet nicht befreundet gewesen wäre. Das mag eine Liebelei von Umberto Eco sein, der aus Freude an seiner überaus großen Bildung alles in den Roman hineinfließen lassen wollte.. Unbedingt nötig ist das nicht,  eher eine Überfrachtung, allerdings das herrliche wunderbare Kapitel um Freud, Charcot und Hysterie für den Roman unverzichtbar ist. Ja, naturlich. wunderbare literarisch gut ausgeformte Passagen gibt es natürlich wie auch der einführende Monolog  Simoninis,  auch wenn dieser Monolog an Gehässigkeit wohl kaum zu überbieten ist. Dass sogar Dostojewskij (seltsamerweise?) für eine Weltverschwörung herhalten muss,  hätte wohl niemand erwartet. Dostojewskij sei ein guter Rhetoriker heißt es. Erst zeige er Verständnis für die Juden und drücke seine Hochachtung aus,

Quote from: Eco
dass alles, was Humanität und Gerechtigkeit erfordere, alles was Menschlichkeit und das christliche Gesetz erfordere, für die Juden getan werden muss...
und dann wird gesagt, Dostojewskij hätte ausführlich beschrieben,
Quote from: Eco
wie diese unglückliche Rasse darauf abziehlt, die christliche Welt zu zerstören.

Natürlich hätte ich gerne gewusst, wo diese Ausführungen Dostojewskijs im Werk dieses Schriftstelles zu finden ist, Eco allerdings in einem Roman nicht zu Quellenverweisen verpflichtet ist. Allerdings, wenn ich mir die zweite Hälfte des Romans anschaue, hätte ich mir gewünscht, Umberto Eco hätte sich für die Form eines Sachbuches entschieden. In der zweiten Hälfte des Romans verarbeitet Eco fast nur abstruse fiktive Ideen aus der Literatur, z,B. Hermann Goedsche,   der in seinem Roman „Biarritz“ höchst seltsames über Juden verfasste und LéoTaxil, der abstruses über satanische Riten und Freimaurerei veröffentlicht hat, was nun ein gefundenes Fressen für den bösartigen Simonini ist. Allerdings ebbt dies bischen Romanhandlung im Roman  ziemlich ab, dass ich mich wirklich fragen muss, warum  dieses Buch nicht ein erstklassiges Sachbuch geworden ist, jetzt aber einen unausgegorener Roman vor uns liegt, dabei aber nicht vergessen werden darf, Umberto Eco  den wunderbaren großartigen Roman „Der Name der Rose“ geschrieben hat. Ein Roman mit Historie, Theologie, Philosophie; dieses Werk aber ein großartiger Roman geworden ist, den  ich ohne Sekundärliteratur inhaliert habe. Ein großes Vergnügen. Trotzdem hatte der Verlag eine „Nachschrift“ veröffentlicht.. Für „Der Friedhof im Park“ halte ich einen Kommentar mit Quellen für notwendig. Ein paar  wikipedia-artikel als Sekundarmaßnahme ist mir einfach zu bleich.

Liebe Grüße
mombour
Thomas Hardy: Herzen in Aufruhr
Fernando Pessoa: Buch der Unruhe

Offline orzifar

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Re: Umberto Eco: Der Friedhof in Prag
« Reply #1 on: 22. November 2011, 22.33 Uhr »
Hallo,

schon wieder ein Eco, den ich nicht kenne, die sind schön langsam Legion. Wobei ich meist weniger harsch über seine Bücher (belletristischer Natur) urteile, den "Namen der Rose" sehr gern gelesen habe, von allem anderen aber kaum berührt wurde (seine Essays finde ich schwach, das allüberall auftauchende Lob seiner Fachliteratur vermag ich so gar nicht nachzuvollziehen).

Hier scheint sich eine grundsätzliche Frage zu stellen: Was darf, kann von einem Leser erwartet werden? Wenn ein Roman eine umfangreiche Lektüre, Fachwissen voraussetzt scheint er mir das Thema zu verfehlen, ich bevorzuge den umgekehrten Weg: Dass ein Roman in mir ein Interesse für ein bestimmten Themengebiet weckt, mit dem ich mich im Anschluss vielleicht intensiver auseinandersetze. Ein intelligenter, aufgeschlossener Leser ist das eine (nur ein solcher wird höchstwahrscheinlich am Zauberberg oder dem Dr. Faustus oder oder oder ... seine Freude haben), ich aber (möglicherweise ist das aber meine ganz persönliche Sicht) möchte mich nicht auf einen Roman vorbereiten müssen, um ihn lesen und würdigen zu können (wie ich überhaupt mich an Romanen nicht im herkömmlichen Sinn "bilden" will: Dafür gibt's Fach- und Sachbücher, wenn auch - wie schon erwähnt - ein Interesse für ein bestimmtes Gebiet durchaus erweckt werden kann).

Zu Dostojewski: Ich vermag zwar nicht anzugeben, wo genau sich antisemitische Passagen in seinem Werk sich befinden, meine mich aber an derlei zu erinnern. Es gab auch mal eine Untersuchung zur spezifisch antisemitischen Ausgestaltung von "Schuld und Sühne" (bei mir heißt der Roman immer noch so ;)) - in der Form, ob mit der Ermordung einer (als jüdisch gedachten) Wucherin nicht Pogromen Vorschub geleistet werde. Möglicherweise hat Dostojewski einige spezifisch jüdische Vorurteile geteilt, besonders auffällig scheinen diese jedoch nicht gewesen zu sein.

lg

orzifar
Derzeitige Lektüre:

Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831 - 1933
Hans Albert: Kritik des theologischen Denkens
Marshall Sahlins: Neue Wissenschaft des verwunschenen Universums. Eine Anthropologie fast der gesamten Menschheit
Mark Lilla: Der totgeglaubte Gott. Politik im Machtfeld der Religion.
Douglas Rushkoff: Survival of the Richest

Offline mombour

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Re: Umberto Eco: Der Friedhof in Prag
« Reply #2 on: 23. November 2011, 13.58 Uhr »
schon wieder ein Eco, den ich nicht kenne,

der Roman ist noch ziemlich frisch.

zu Dostojewskij: Inzwischen weiß ich, im "Tagebuch eines Schriftstellers" gibt es antisemitische Passagen. Siehe hier. Bei Fontane gibt es auch ein antisemitisches Dilemma. Der Geist der Zeit? Warscheinlich.

Liebe Grüße
mombour
Thomas Hardy: Herzen in Aufruhr
Fernando Pessoa: Buch der Unruhe

Offline sandhofer

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Re: Umberto Eco: Der Friedhof in Prag
« Reply #3 on: 23. November 2011, 20.08 Uhr »
schon wieder ein Eco, den ich nicht kenne, die sind schön langsam Legion. Wobei ich meist weniger harsch über seine Bücher (belletristischer Natur) urteile, den "Namen der Rose" sehr gern gelesen habe, von allem anderen aber kaum berührt wurde (seine Essays finde ich schwach, das allüberall auftauchende Lob seiner Fachliteratur vermag ich so gar nicht nachzuvollziehen).

Ich müsste seine Semiotik wieder mal nachlesen, die liegt, glaube ich, noch bei mir herum. Seinerzeit - aber das ist ein Vierteljahrhundert her- fand ich sie so schlecht nicht. Seine Belletristik habe ich nach dem Namen der Rose nicht mehr zu Kenntnis genommen. Professorenliteratur, mit dem Zirkel konstruiert ... Mag sein, ich tue ihm Unrecht, aber bei mir liegt noch zu viel Ungelesenes, als dass ich Professor Eco zur Kenntnis nehmen möchte.
Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus