Author Topic: Mario Vargas Llosa: Der Geschichtenerzähler  (Read 1403 times)

Offline orzifar

  • Administrator
  • *****
  • Posts: 2 944
Mario Vargas Llosa: Der Geschichtenerzähler
« on: 27. Dezember 2011, 01.23 Uhr »
Hallo!

Kein "typischer" Llosa mit seinem Geschichten- und Handlungsreichtum, auch wenn der Titel etwas anderes vermuten lässt. Sondern ein wenig stiller, nachdenklicher, was wohl am Thema liegen mag.

Peru in den 50iger Jahren, Llosa lernt an der Universität Saul Zuratas kennen, Sohn eines jüdischen Einwanderers, der sich im Rahmen seines Studiums zusehends für Ethnologie zu interessieren beginnt - und im besonderen für die Machiguenga, einen kleinen Indianerstamm im Amazonasgebiet, der durch die Zivilisation vom Aussterben bedroht wird, durch Akkulturation seine Geschichte und Identität zu verlieren beginnt. Selbst ein Außenseiter durch seine jüdische Herkunft und noch mehr durch einen ihn entstellenden, das halbe Gesicht überziehenden Leberfleck, taucht der "Mascarita" genannte Saul immer tiefer in die Kultur dieses Stammes ein, verurteilt alle "Zivilisierungsversuche", wenngleich er auch die Schwierigkeiten erkennen muss, die das Belassen der Gruppe in ihrem "Urzustand" mit sich bringt.

Llosa und sein Freund verlieren sich aus den Augen, von Mascarito hört man nur noch, dass er nach dem Tode seines Vaters nach Israel ausgewandert sei. Llosa hingegen stößt immer wieder auf die Machiguengas, liest alles nur Verfügbare über ihre Mythologie, ihre Lebensweise in Kleingruppen und die Institution des Geschichtenerzählers, der von Gruppe zu Gruppe wandert und eine Art kollektives Gedächtnis, wandernde Tageszeitung und mythologischer Fabulierer zu sein scheint. Nach einem Vierteljahrhundert trifft der Autor im Rahmen einer Fernsehdokumentation wieder auf den Stamm, auf die geheimnisvolle Institution des Erzählers und erfährt - halb staunend, halb seine Ahnungen bestätigend - dass einer dieser Erzähler ein großes Mal im Gesicht habe.

Erzählt wird der Roman aus wechselnder Perspektive: Zum einen der Geschichtenerzähler der Machiguenga, der sich im Verlaufe des Romans unzweifelhaft als Saul Zurata entpuppt, zum anderen aus der Sicht des Autors, der immer wieder auf dessen Spuren trifft. Dieser Perspektivenwechsel erzeugt Spannung, Neugier im Leser und ist auch mit einer wechselnden Sprache verbunden, ein Wechsel, der Llosa auf eindrucksvolle Weise gelingt. Duktus und Tonfall vermitteln glänzend die mythologisch-philosophische Grundhaltung des Stammes, der ganz offenkundig jene Trennung zwischen Mythos und Logos noch nicht vollzogen hat und in der Sprache des Ethnologen als Mana bezeichnet wird: Eine immaterielle, stets präsente Kraft zwischen Natur und Mensch, sodass diese eine unauflösliche Einheit bilden, ein Zustand, der zwischen Physik und Metaphysik keinen Unterschied macht, eine Bewusstseinsstruktur, die die Betreffenden nur innerhalb eines größeren Ganzen handeln lässt.

Die angedeutete Problematik der indigenen Völker wird nirgends aufgelöst. Llosa ist zu klug, um auf einfache Lösungen zu verfallen: Weder Akkulturation noch der Versuch, den Stämmen ihre Einsamkeit zu garantieren, können befriedigen. Neben pragmatischen, geographischen Überlegungen stellen sich automatisch moralische Bedenken ein: So pflegen sowohl die Machiguengas als auch verwandte Völker Sitten und Gebräuche, die unserem humanen Grundverständnis aufs entschiedenste widersprechen. Diese Problematik wird anhand des "Mascarita" offenbar: Denn er mit seinem entstellenden Leberfleck, der schließlich als einziger Fremder im Gefüge der Machiguenga hohe Anerkennung erfährt, wäre aufgrund dieses Gebrechens schon bei der Geburt ertränkt worden.

Mit dieser unauflösbaren Schwierigkeit bleibt der Leser allein zurück - und diese Zurückhaltung ist das Schlechteste nicht. Statt bornierter Selbstgefälligkeit und Scheinlösungen hört man nur leise Zwischentöne: Die nach einer vorsichtigen Toleranz - allen gegenüber.

lg

orzifar
Derzeitige Lektüre:

Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831 - 1933
Hans Albert: Kritik des theologischen Denkens
Marshall Sahlins: Neue Wissenschaft des verwunschenen Universums. Eine Anthropologie fast der gesamten Menschheit
Mark Lilla: Der totgeglaubte Gott. Politik im Machtfeld der Religion.
Douglas Rushkoff: Survival of the Richest