Author Topic: Kleine Poetik  (Read 6302 times)

arbor

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Kleine Poetik
« on: 31. Juli 2009, 11.38 Uhr »
Kleine Poetik

Hilde Domin meint in ihrem Buch “Wozu Lyrik heute” : “Das moderne Gedicht ist etwas wesentlich Optisches... Es  muss mit den Augen erfahren werden. Es ist aber nur eine Teilwahrheit. Es muss eingeatmet werden.
Der Atem ist das Medium des Gedichts...” (S. 166)

Ich verstehe das im doppelten Sinne: Einmal gibt der Atem dem Gedicht den Rhythmus, sowohl bei der Entstehung als auch beim Lesen, zum anderen ist das Leben (Atem als Bild dafür) die Grundlage des Gedichts. Ein Dichter, der nichts zu sagen hat, kann es auch bleiben lassen.

Entscheidend für ein Gedicht (im Gegensatz zur Prosa) aber ist das “Wie” des Gesagten. Und da kommt das Gedicht, gerade in einer Zeit, in der andere Merkmale wie Metrik, Reim, Strophenformen in den Hintergrund treten, nicht ohne die Metapher aus.

Bei Joachim Sartorius heißt dies so: “Poesie ist konzentriertes, verknapptes Sprechen... Sie ist, zweitens, abstrahiertes Sprechen, das vom Bedürfnis nach Mitteilung zunächst nicht wesentlich bestimmt ist” - “Ein gutes Gedicht ist eine absolute Metapher für einen Weltmoment.” (Minima Poetica, S. 13)
Raoul Schrott ("Die Erde ist blau wie eine Orange") nennt dies knapp “die Ökonomie der Sprache”. (S. 17)

“Wovon sie ausgeht, ist ein Denken in Analogien.” (Sartorius S. 39) Raoul Schrott führt dies näher aus als Denken “in Analogien, Vergleichen und Metaphern; über Ähnlichkeiten stellen wir neue Bezüge her...” (S. 23)

Und was bewirkt dieses metaphorische Denken und Sprechen?

“Lesen, das tut man selbst, und allein. ... Lyrik ist ein sprachliches und zugleich geistiges Abenteuer.” (S. 170)

Raoul Schrott drückt es wie folgt aus: “Keine Theorie kann das nachvollziehen, was eine Metapher oder eine Assoziation in uns auslöst.” (S. 132)

Damit sind wir schnell bei dem “Mehr”, wie es Hilde Domin benennt, “das jenseits von Willen und Wissen des Autors im Text und der Deutung ... sich zugleich anbietet und entzieht”. (S. 176)

“Nicht nur das Schreiben, sondern auch das Lesen von Lyrik ist eine Spezialdisziplin, bei der es ... nur ein Gesetz gibt, das der Authentizität und der inneren Logik. Ein Gedicht muss ... stimmen... “(S. 171)

In diesem Sinne meine ich, dass ein gutes Gedicht niemals ausgelesen werden kann; man kann es immer wieder lesen und immer Neues an ihm und mit ihm entdecken.

Offline Sir Thomas

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Re:Kleine Poetik
« Reply #1 on: 01. August 2009, 08.51 Uhr »
Hallo arbor,

hier noch zwei Ergänzungen zu Deiner kleinen Poetik:

„Dichter macht der Himmel, der liebe Gott. Das Gedicht ist die beste Kompaßnadel. Nur extreme Subjektivität, Überempfindlichkeit und Vorurteile helfen, die Klischees zu vermeiden. Je mehr man Lyrik liest, desto unduldsamer wird man für jede Art von Weitschweifigkeit. Die Lyrik ist ein großer Zuchtmeister der Prosa. Sie lehrt nicht nur den Wert jedes einzelnen Wortes sondern auch die quecksilbrigen Denkmuster ihrer Gattung, Alternativen zur linearen Komposition, den Kniff, das Selbstverständliche wegzulassen, die Betonung des Details, die Technik der Antiklimax. Vor allem aber bringt die Lyrik in der Prosa jenen Appetit für das Metaphysische hervor.“ (Joseph Brodsky)

„Gedichte sind Balsam auf Unerfüllbares im Leben.“ (Karoline von Günderrode an Bettine Brentano)

Ein schönes Wochenende wünscht

Tom

arbor

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Re:Kleine Poetik
« Reply #2 on: 02. August 2009, 08.50 Uhr »
Wilhelm Lehmann schrieb einmal:

Gedichtet bleibt die Welt mir wahr...

...und bei Paul Celan fand ich diese bemerkenswerte Erkenntnis:

Gedichte verändern wohl nicht die Welt, aber das In-der-Welt-sein.

Offline Sir Thomas

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Re:Kleine Poetik
« Reply #3 on: 18. August 2009, 10.04 Uhr »
Ein Zufallsfund:

Friedrich Gottlieb Klopstock: Von der heiligen Poesie (1755)

Der lezte Endzweck der höhern Poesie, und zugleich das wahre Kennzeichen ihres Werths, ist die moralische Schönheit.

[...]

Der Mensch, auf diese Höhe geführt, und in diesem Gesichtspunkte angesehn, ist der eigentliche Zuhörer, den die höhere Poesie verlangt.



Friedrich Gottlieb Klopstock: Über die Natur der Poesie (1759)

Das Wesen der Poesie besteht darin, daß sie, durch die Hülfe der Sprache, eine gewisse Anzahl von Gegenständen, die wir kennen, oder deren Dasein wir vermuten, von einer Seite zeigt, welche die vornehmsten Kräfte unsrer Seele in einem so hohen Grade beschäftigt, daß eine auf die andre wirkt, und dadurch die ganze Seele in Bewegung setzt.

[...]

Es gibt eine Anordnung des Plans eines Gedichts, die einem Gebäude gleichet; und sie sollte einer schönen Gegend gleichen. Der Poet ist kein Baumeister; er ist ein Maler.

[...]

Es sind daher eigentlich nur sechs verschiedne Füße, auf deren guten Zusammensetzung die ganze Harmonie der Prosa und der Poesie beruht. Ich verstehe durch einen Fuß so viele Silben, als das Ohr auf einmal miteinander vergleicht.

[...]

Die Prosa ist deswegen nicht so wohlklingend als die Poesie, weil sie diese angeführten Worte nicht nach einer so feinen Regel der Harmonie ordnet, als die guten Versarten tun.


Quelle: http://www.uni-due.de/lyriktheorie/

LG

Tom

arbor

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Re:Kleine Poetik
« Reply #4 on: 18. August 2009, 13.22 Uhr »
Klopstock schön und gut, aber die Poetik hat sich seitdem weiterentwickelt; und auch, wenn es vielleicht niemand glauben mag, ein "stimmiger" freier Rhythmus ist schwieriger zu verwirklichen als manche klassische Strophen- und Rhythmusform.

Offline sandhofer

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Re:Kleine Poetik
« Reply #5 on: 18. August 2009, 20.27 Uhr »
Natürlich ist Klopstock heute "überholt" (allerdings: was heisst das schon in litteris?), aber gerade das erste Klopstock-Zitat, das Sir Thomas anführt:

Der lezte Endzweck der höhern Poesie, und zugleich das wahre Kennzeichen ihres Werths, ist die moralische Schönheit.

müsste doch Dir, arbor, gefallen. (Auch wenn ich persönlich nicht nachvollziehen kann, was Klopstock meinen könnte ...)
Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

Offline Sir Thomas

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Re:Kleine Poetik
« Reply #6 on: 18. August 2009, 20.42 Uhr »
... Auch wenn ich persönlich nicht nachvollziehen kann, was Klopstock meinen könnte ...

Dunkel ist der Rede Sinn ... Aber "moralische Schönheit" ist eine wunderbare Wortschöpfung ...

Ich habe Klopstock sicher nicht zitiert, um ihn als aktuelles und modernes Beispiel für Lyriktheorie zu missbrauchen. Aber er hat Großes geleistet, unser "Vater des deutschen Hexameter" (wenn ich mich recht erinnere). Ohne ihn hätte Voß seinen Homer evtl. anders (freier? besser?) übersetzt.

LG

Tom

Offline sandhofer

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Re:Kleine Poetik
« Reply #7 on: 18. August 2009, 20.44 Uhr »
PS - weil's auch hier passt:

Hallo zusammen!

Ist jetzt nicht abgesprochen mit meinen Co-Administratoren, aber ich fände ein klein wenig weniger aneinandergereihte Zitate berühmter oder bekannter Autoren und ein klein bisschen mehr eigene Meinung interessanter.

Sorry, aber ein bisschen Foren- :police: musste jetzt sein.

Grüsse

sandhofer
Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

Offline Sir Thomas

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Re:Kleine Poetik
« Reply #8 on: 18. August 2009, 20.54 Uhr »
ein bisschen Foren- :police: musste jetzt sein.

Rechts ranfahren und Schreiberlaubnis zeigen! Wir sind nicht zum Vergnügen hier!  >:D

arbor

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Re:Kleine Poetik
« Reply #9 on: 19. August 2009, 07.52 Uhr »
1. Natürlich hat Klopstock Recht - für seine Zeit, in manchem auch darüber hinaus; ich sage ja auch nichts gegen ihn, wollte nur darauf hinweisen, dass es eine Entwicklung gegeben hat, die er nicht voraussehen konnte.

2. Klopstock ist noch mehr als nur der Einführer einer bislang nicht im Deutschen so gehandhabten Technik; auch seine Inhalte sind ohne Zweifel in vielen Punkten noch aktuell, weil alle große Dichtung "aktuell" bleibt, d.h. einen Begriff für die unveränderlich immerwährenden Grundbedingungen des Menschseins findet.

3. Was Zitate betrifft, finde ich die nicht so abwegig; warum etwas wiederholen, was schon besser gesagt worden ist? Das meiste was noch zu sagen bleibt, ist eh Wiederholung, weil sich (s. Punkt 2 ) die Grundbedingungen des Menschseins soooooooooo wesentlich nicht geändert haben und nicht ändern werden.