Kleine Poetik
Hilde Domin meint in ihrem Buch “Wozu Lyrik heute” : “Das moderne Gedicht ist etwas wesentlich Optisches... Es muss mit den Augen erfahren werden. Es ist aber nur eine Teilwahrheit. Es muss eingeatmet werden.
Der Atem ist das Medium des Gedichts...” (S. 166)
Ich verstehe das im doppelten Sinne: Einmal gibt der Atem dem Gedicht den Rhythmus, sowohl bei der Entstehung als auch beim Lesen, zum anderen ist das Leben (Atem als Bild dafür) die Grundlage des Gedichts. Ein Dichter, der nichts zu sagen hat, kann es auch bleiben lassen.
Entscheidend für ein Gedicht (im Gegensatz zur Prosa) aber ist das “Wie” des Gesagten. Und da kommt das Gedicht, gerade in einer Zeit, in der andere Merkmale wie Metrik, Reim, Strophenformen in den Hintergrund treten, nicht ohne die Metapher aus.
Bei Joachim Sartorius heißt dies so: “Poesie ist konzentriertes, verknapptes Sprechen... Sie ist, zweitens, abstrahiertes Sprechen, das vom Bedürfnis nach Mitteilung zunächst nicht wesentlich bestimmt ist” - “Ein gutes Gedicht ist eine absolute Metapher für einen Weltmoment.” (Minima Poetica, S. 13)
Raoul Schrott ("Die Erde ist blau wie eine Orange") nennt dies knapp “die Ökonomie der Sprache”. (S. 17)
“Wovon sie ausgeht, ist ein Denken in Analogien.” (Sartorius S. 39) Raoul Schrott führt dies näher aus als Denken “in Analogien, Vergleichen und Metaphern; über Ähnlichkeiten stellen wir neue Bezüge her...” (S. 23)
Und was bewirkt dieses metaphorische Denken und Sprechen?
“Lesen, das tut man selbst, und allein. ... Lyrik ist ein sprachliches und zugleich geistiges Abenteuer.” (S. 170)
Raoul Schrott drückt es wie folgt aus: “Keine Theorie kann das nachvollziehen, was eine Metapher oder eine Assoziation in uns auslöst.” (S. 132)
Damit sind wir schnell bei dem “Mehr”, wie es Hilde Domin benennt, “das jenseits von Willen und Wissen des Autors im Text und der Deutung ... sich zugleich anbietet und entzieht”. (S. 176)
“Nicht nur das Schreiben, sondern auch das Lesen von Lyrik ist eine Spezialdisziplin, bei der es ... nur ein Gesetz gibt, das der Authentizität und der inneren Logik. Ein Gedicht muss ... stimmen... “(S. 171)
In diesem Sinne meine ich, dass ein gutes Gedicht niemals ausgelesen werden kann; man kann es immer wieder lesen und immer Neues an ihm und mit ihm entdecken.