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Lektüren, Rezensionen => Sach- und Fachbücher, Biographien ... => Topic started by: orzifar on 29. Oktober 2013, 05.02 Uhr
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Hallo!
Ein sehr lesbares Buch über die Besonderheiten von Zeit und Raum im großen und ganz kleinen, insonderheit über das Verhalten bzw. das Entstehen schwarzer Löcher. Das Buch ist allerdings von 1993 und wahrscheinlich nicht auf dem neuesten Stand, was ich aber nicht zu beurteilen imstande bin. Thorne selbst ist ein anerkannter Physiker, weshalb ich ihm durchaus traue, er weist allerdings auch auf die Schwierigkeiten bildhafter Sprache hin: Sie mag zwar einiges verständlicher machen, man läuft aber auch Gefahr, unzulässig zu vereinfachen oder zu verfälschen.
Neben der also durchaus ansprechenden Darstellung der physikalisch-astronomischen Inhalte gibt es allerdings ein etwas kurioses Kapitel: In dem Thorne Thomas Kuhn zitiert, vor allem seinen Begriff des Paradigmas. Und dieser Begriff ist bei ihm positiv konnotiert, was umso überraschender ist, da Physiker jedweder Couleur sich normalerweise von der Kuhnschen Historizität der Forschung verärgert abwenden, da sie die tatsächliche Forschung nicht ansatzweise widerspiegeln würde.
Diese Verwunderung löst sich beim Lesen auf: Thorne missversteht diesen Begriff des Paradigmas von Grund auf, er glaubt, dass damit einzig die Bilder und metaphorischen Beschreibungen bestimmter Theorien gemeint seien (was aber, wenn überhaupt, nur ein - unwichtiger - Bestandteil dieses Begriffs ist). Dass unter einem Paradigmenwechsel etwas sehr viel fundamentaleres verstanden wird, dass - vor allem - naturwissenschaftliche Theorien als unvergleichbar, inkompatibel und damit auch - dies das vielleicht wichtigste - völlig fortschrittsfrei dargestellt werden, ist Thorne vollkommen entgangen. Nach meinem Dafürhalten ist die Beschreibung der naturwissenschaftlichen Arbeit durchaus treffend (etwa das, was Kuhn als Normalwissenschaft bezeichnet, wobei diese im Grunde nur spezifisch menschliche Verhaltensweisen umfasst), sämtliche Schlussfolgerungen und Interpretationen des wissenschaftshistorischen Materials sind hingegen entweder an den Haaren herbeigezogen oder aber im Sinne der Theorie konstruiert.
Vor allem seine Ablehnung des Fortschrittsgedanken in der Naturwissenschaft hält einer Prüfung nicht stand: Diese Theorien sind zeitlich voneinander abhängig, sie beinhalten insofern Fortschritt, als dass nachfolgende Theorien (vor allem wenn sie sich im Sinne Kuhns als "Normalwissenschaft" etabliert haben) nur durch die vorhergehenden zu verstehen und auch durch sie bedingt sind. (Es wäre etwa unmöglich, die zeitliche Abfolge von Newton und Einstein zu vertauschen - was Kuhn durch seine radikale Auslegung der neutral nebeneinander stehenden Paradigmen suggeriert). Feyerabend hat Kuhn eigentlich nur zu Ende gedacht: Indem er auch mythologische Weltbilder als prinzipiell gleichwertig neben technisch-wissenschaftliche Weltbilder in bezug auf ihren Erklärungswert stellte.
Interessant wäre hingegen, das Kuhnsche Konzept auf die Philosophie zu übertragen. Natürlich ist auch hier eine zeitlich-historische Abhängigkeit gegeben, sehr viel eher aber kann behauptet werden, dass die verschiedenen, genuin philosophischen Konzepte, kaum einen Fortschritt beinhalten. Das wäre eine Untersuchung durchaus wert.
lg
orzifar