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Lektüren, Rezensionen => Sach- und Fachbücher, Biographien ... => Topic started by: Sir Thomas on 30. Juli 2013, 18.03 Uhr

Title: Sommer mit Nietzsche, Teil 1: Die fröhliche Wissenschaft
Post by: Sir Thomas on 30. Juli 2013, 18.03 Uhr
Sommer mit Nietzsche: So habe ich mein im Juni begonnenes Leseprojekt genannt. Es besteht derzeit aus drei abgeschlossenen Lektüren: Morgenröte, Die fröhliche Wissenschaft und, ergänzend, Nietzsche - Biographie seines Denkens von R. Safranski (Hanser, 2000). Die Auswertung und Ausformulierung der Notizen zur Fröhlichen Wissenschaft stelle ich als ersten Teil meiner Nietzscheana gern zur Diskussion.

Die fröhliche Wissenschaft

Oft als „Werk der Mitte“ bezeichnet (G. Colli), ist die FW das wohl vielfältigste und (lt. R. Safranski) erste und einzige Buch Nietzsches, dem ein „Erweckungserlebnis“ zugrunde liegt. Nietzsche hielt sich im Sommer 1881 zum ersten mal in Sils-Maria auf – er wird diesen Ort bis 1888 immer wieder aufsuchen. Was dort genau geschah, ist unklar. Aus Ns. Notizbüchern jener Zeit geht (immer noch lt. Safranski) hervor, dass er im Engadiner Sommer die eigentlich recht „triviale“, sowohl im abendländischen als auch im buddhistischen Denken fest verankerte Idee der ewigen Wiederkunft des Gleichen aus dem Hut zog. Das Thema spielt allerdings in der FW keine besondere Rolle. Lediglich zwei Aphorismen beschäftigen sich damit (in Ansätzen 109 und 341). N. wollte sich diesen Gedanken für spätere Werke aufsparen – genau wie die Figur des Zarathustra (die in der FW zum ersten Mal auftaucht), den Übermenschen und den Willen zur Macht. Um einen wesentlichen Aspekt vorwegzunehmen: Der Übermensch ist für N. der heroische Typus, der als einziger dem niederschmetternden Gedanken des ewig Gleichen nicht nur trotzen kann, sondern darin etwas Göttliches erblickt. Für die Masse hingegen sei die ewige Wiederkunft nichts als Last und Qual.   

Die FW bestand bei ihrem ersten Erscheinen 1882 zunächst aus vier Büchern. Das Ende des vierten Buches wird ein Jahr später das erste Zarathustra-Kapitel sein – mit nur geringfügigen Änderungen. Die Erstausgabe der FW endet mit dem berühmt-kryptischen Satz: „Also begann Zarathustras Untergang.“ Bekannt und berühmt geworden ist außerdem der Aphorismus 125, in dem es heißt: „Wohin ist Gott? Ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet – ihr und ich! Wir sind seine Mörder!“

Was ist „fröhliche Wissenschaft“? Im Vorwort der zweiten Auflage (1887) charakterisiert N. sein Werk: „Es scheint in der Sprache des Tauwinds geschrieben: es ist Übermut, Unruhe, Widerspruch, Aprilwetter darin, so dass man beständig … an den Sieg über den Winter gemahnt wird, der kommt, kommen muss, vielleicht schon gekommen ist … Fröhliche Wissenschaft: das bedeutet, die Saturnalien eines Geistes, der einem Druck geduldig widerstanden hat – geduldig, streng, kalt, aber ohne Hoffnung, und der jetzt von der Hoffnung angefallen wird, von der Hoffnung auf Gesundheit, von der Trunkenheit der Genesung.“  Diese Genesung hat vor allem einen Effekt: „Der Wille zur Wahrheit um jeden Preis“ ist der fröhlichen Wissenschaft verleidet. Sie  glaubt nicht mehr daran, „dass Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr den Schleier abzieht.“
   
Die erste „Entschleierung“ gilt dem Trieb der Arterhaltung. Was stärkt und was schwächt ihn? Wird er durch die Vernunft gestärkt? Nein, denn diese ist nicht mehr als eine beruhigende Erfindung, die weniger ist, als sie scheint. Vielmehr sind menschliches Bewusstsein und Erkenntnisfähigkeit potenziell zersetzende Kräfte . Beide beruhen auf religiös-moralischen Irrtümern, die folgende Grundtatsachen leugnen (Aph. 109):
 
- Es gibt keinen Zweck des Daseins; das ist eine Erfindung der Moral- und Religionsstifter.
- Im Universum herrscht stattdessen die kalte Notwendigkeit des ewig Gleichen, die ständige Wiederholung. Das All ist keine Maschine, sondern ein Chaos, das kein Ziel, keine Form, keine Weisheit, keine Moral, keine Schönheit und keinen Gott besitzt. Der Mensch ist Teil davon, er ist nichts als Natur.

Das zu erkennen, kann den Menschen zusammenbrechen lassen. Nur die Edlen und Starken (erst später werden sie „Übermenschen“ genannt) sind fähig, das Leben als Experiment des Erkennenden zu betrachten und sich Erkenntnisse dieser Art „einzuverleiben“, ohne daran zu Grunde zu gehen. N. problematisiert den Geist und wird später (in allen Werken ab „Zarathustra“) das einzige, nicht allein lebenserhaltende, sondern lebenssteigernde Prinzip in den Mittelpunkt seines Denkens stellen: den Willen zur Macht.

Im bekenntnishaften vierten Buch mit der Überschrift „Sanct Januarius“ plädiert N. u.a. für die unbedingte Bejahung des eigenen Schicksals. Amor fati, d.h. lernen, das Notwendige an den Dingen als das Schöne zu sehen (Aph. 276). In den anfänglich heiter-gelösten Ton dringen erste Kriegsschreie ein: „Ich begrüße alle Anzeichen dafür, dass ein männlicheres, ein kriegerisches Zeitalter anhebt, das vor allem die Tapferen wieder zu Ehren bringen wird! Denn es soll einem noch höheren Zeitalter den Weg bahnen … jenes Zeitalter, das den Heroismus in die Erkenntnis trägt und Kriege führt um der Gedanken und ihrer Folgen willen“ (Aph. 283). Mit dem berühmten „Auf die Schiffe, ihr Philosophen!“ fordert er dazu auf, eine andere Welt zu entdecken, gleichzeitig „viele neue Sonnen“ zu schaffen und mit Hilfe der Entsagung und Askese sich selber ertragen zu lernen, höher zu steigen bis zu dem Punkt, wo der Mensch „nicht mehr in einen Gott ausfließt“ (Aph. 285 u. 289). Ist das Euphorie, oder schon Hysterie?

N. schwankt auf unsicherem Boden, er will erhaben werden und ist misstrauisch „in Bezug auf Alles, was in uns fest werden will“ (Aph. 296). Lyrischer Höhepunkt ist der Abschnitt „Wille und Welle“ (Aph. 310): „Wie gierig kommt diese Welle heran, als ob es etwas zu erreichen gälte! … Es scheint, sie will Jemandem zuvorkommen …  Und nun kommt sie zurück, etwas langsamer, immer noch ganz weiss vor Erregung – ist sie enttäuscht? … So leben die Wellen, so leben wir, die Wollenden! …“     

1887, nach der Veröffentlichung  der vier Zarathustra-Bände und „Jenseits von Gut und Böse“, fügte N. der zweiten Auflage der FW nicht nur ein Vorwort, sondern auch ein fünftes Buch mit der Überschrift „Wir Furchtlosen“ hinzu. Eigentlich handelt es sich um eine Fortsetzung der Gedanken aus „Jenseits von Gut und Böse“. Was N. bewogen hat, diese Abschnitte der zweiten FW-Ausgabe anzufügen, ist unklar. „Wir Furchtlosen“ beginnt als Diagnose des europäischen Religions- und Kulturverfalls (Nihilismus!) und enthält die seltsame Warnung, dass der Wille zur Wahrheit ein durchaus „lebensfeindliches, zerstörerisches Prinzip“ sein kann. „Wille zur Wahrheit – das könnte ein versteckter Wille zum Tode sein“ (Aph. 344). N. greift die Gefahren der Erkenntnisleidenschaft aus dem fünften Buch der „Morgenröte“ noch einmal auf – diesmal jedoch ungleich schärfer, düsterer, irritierender …

Das wahrhaft Erschreckende an diesem fünften Buch der FW kommt zum Schluss. Es endet mit einer fast schon wahnsinnig anmutenden Hymne auf eben jene „Furchtlosen“, die als heimatlose, von der dumpfen Masse unverstandene und sich selbst veredelnde überzeitliche Heroenexistenzen geschildert werden. Das Wort „Übermensch“ fällt kaum – das hatte Zarathustra zur Genüge gepredigt. Dennoch: Der Sog dieser Abschnitte ist nahezu unheimlich. Jeder moralisch ungefestigte Leser wird hier zum Kumpanen des Übermenschen, eines furchtlosen Kämpfers und inhumanen Eroberers gemacht, der – und jetzt wird es richtig krass! – eines modernen Sklaventums bedarf, um seiner eigenen Erhöhnung die notwendige Basis zu verschaffen (Aphorismus 377) …   

Was bleibt? Ein zwiespältiger Eindruck, ein sprachlich relevantes, jedoch inhaltlich oft dürftiges Werk, das Vieles streift und wenig erhellt. Typisch Nietzsche halt.

Wird fortgesetzt.
Title: Re: Sommer mit Nietzsche, Teil 1: Die fröhliche Wissenschaft
Post by: sandhofer on 30. Juli 2013, 20.47 Uhr
Danke für Deinen ausführlichen Beitrag. Ich werde leider erst Mitte August zu einer genauen Lektüre kommen.
Title: Re: Sommer mit Nietzsche, Teil 2: Safranskis Nietzsche-"Biographie"
Post by: Sir Thomas on 02. August 2013, 07.47 Uhr
Weiter geht es mit:

Rüdiger Safranski: Nietzsche – Biographie seines Denkens (Hanser 2000)

Ein durchaus lesbares, über weite Strecken interessantes Buch, das keine typische Biografie sein möchte.
 
Safranski unterteit Nietzsches Denken, durchaus in Details abweichend von den üblichen Lesarten, in folgende, von mir sehr verkürzt wiedergegebene Phasen (die kursiv gedruckten Bezeichnungen stammen überwiegend von mir, nicht von S.):
 
 bis 1876: der Philologe im dionysisch-ästhetizistischen Taumel; Lebensphilosophie; das Dasein als ästhetisches Phänomen, Leben als Kunstwerk; Schopenhauer- und Wagnerverehrung; Wesentliche Werke: Die Geburt der Tragödie, Unzeitgemäße Betrachtungen I – IV, philologische Nachlassfragmente
 ab 1876: der Freigeist der demokritisch-atomistischen Kälte; drastische Abkehr von Wagner, später auch von Schopenhauer; vom naturwissenschaftlich-deterministischen Denken zum freigeistigen Perspektivismus und heiteren Naturalismus; Ablehnung von Religion und Moral als geistfeindliche Kräfte; Hinwendung zur Psychologie und Erkenntnistheorie; Werke: Menschliches, Allzumenschliches; Morgenröte
 ab Sommer 1881 (erster Aufenthalt in Sils-Maria!): der Freigeist im kosmisch-heraklitischen Weltspiel; ewige Wiederkunft als unerbittliche Notwendigkeit des Universums, Übermensch; Beginn einer gewissen Geist-Verneinung; Werke: Fröhliche Wissenschaft I - IV, Zarathustra I - III
 ab 1885/86: der heroisch-heilige Selbstüberwinder; Denken als geistig-körperliche Wirklichkeit; Leben nicht als Selbsterhaltung, sondern als Selbststeigerung und Experiment des Erkennenden; der Wille zur Macht als Prinzip der auf Wettkampf beruhenden Grundstruktur des Lebens; Wesentliche Werke: Zarathustra IV, Jenseits von Gut und Böse, Fröhliche Wissenschaft V, Zur Genealogie der Moral, Götzen-Dämmerung und nachgelassene Schriften (Antichrist, Ecce homo).

Nietzsches Denken, das betont Safranski, führt nirgendwo hin und hat keine philosophische Schule begründet. Nach seinem geistigen Zusammenbruch Anfang 1889 wurde N. als tragisch gescheiterter Titan von „Europas Edelfäule“ (schöner Begriff von Gottfried Benn!) entdeckt, verehrt, missbraucht – vor allem von Künstlern, Philosophen und elitär eingestellten „Denkern“, die aus seinen Werken ein „politisches“ oder „weltgeschichtliches“ Programm formen wollten.   

Safranski umkreist Nietzsche, begleitet ihn von Werk zu Werk, liefert Redundantes, Interessantes - und geht gelegentlich über das hinaus, was aus einer genauen Primärlektüre hervorgehen kann (bzw. herauslesbar ist): Ns. Empfindlichkeit gegenüber jeder Herabsetzung seiner Person und seiner Ansichten, was als Ursache seines Furors gilt; Ns. Vergesslichkeit bzgl. eigener Werke, was all die Redundanzen erklärt; Ns. Verletzlichkeit gegenüber der Ungerechtigkeit der Welt – eine lt. Safranski wesentliche Quelle für den sich dagegen wappnenden „mitleidlosen Übermenschen“; Ns. vermutete Homosexualität, was seine Frauenfeindlichkeit in ein anderes (wenn auch nicht besseres) Licht rückt, usw usf.     

Fazit: Es ist durchaus wohltuend, die Details eines nicht immer stringenten Denkens in einer kompetenten und gut lesbaren Zusammenfassung vor sich zu haben.
Title: Re: Sommer mit Nietzsche, Teil 2: Safranskis Nietzsche-"Biographie"
Post by: orzifar on 03. August 2013, 03.23 Uhr
Ns. vermutete Homosexualität, was seine Frauenfeindlichkeit in ein anderes (wenn auch nicht besseres) Licht rückt, usw usf.     

Also diese "Vermutung" würde mir das Buch (bis zu diesem Punkt habe ich deine Zusammenfassung interessiert gelesen) schon wieder gänzlich verhageln. "Empfindlichkeit gegen Herabsetzung", "Verletzlichkeit gegenüber der Ungerechtigkeit der Welt" - das klingt vernünftig und nachvollziehbar. Was aber gibt es für Belege für Nietzsche homoerotische Neigungen? Er war wohl eher extrem unsicher gegenüber Frauen (die Sentenz mit der Peitsche geht womöglich auf ein Bild einer Schlittenfahrt zurückgeht mit L. A. Salome und P. Ree *glaub* - bin jetzt zu faul zum Suchen), schüchtern, überkompensierte diese seine Unsicherheit. Nicht dass ich es irgendwie schlimm fände, wenn Nietzsche schwul wäre, aber das scheint mir doch eine sehr spekulative, an den Haaren herbeigezogene These. (Ich habe einiges über Nietzsche gelesen, wurde aber mit einem solchen Verdacht noch nirgends konfrontiert, auch nicht in der sehr ausführlichen Biographie von Werner Ross.)

lg

orzifar

Nachsatz: Vielleicht komme ich noch ein wenig zu der "Fröhlichen Wissenschaft" und kann ein bisschen was beitragen, sie liegt zumindest mal auf dem Nachttisch (die Vorrede wurde schon gelesen: Und wenn Nietzsche dort von der Abhängigkeit der Philosophie von der körperlichen Verfassung schreibt, so vergisst er die eigene Abhängigkeit von der psychischen Verfasstheit zu erwähnen, die bei ihm die allergrößte Rolle spielt: Etwa seine Unsicherheit, Schüchternheit etc., die dann in ihrer Überkompensation zu diesen martialischen Tönen führt).
Title: Re: Sommer mit Nietzsche, Teil 2: Safranskis Nietzsche-"Biographie"
Post by: Sir Thomas on 03. August 2013, 12.54 Uhr
Ns. vermutete Homosexualität, was seine Frauenfeindlichkeit in ein anderes (wenn auch nicht besseres) Licht rückt, usw usf.     

Also diese "Vermutung" würde mir das Buch (bis zu diesem Punkt habe ich deine Zusammenfassung interessiert gelesen) schon wieder gänzlich verhageln.

Das muss es nicht. Für mich war dieser Aspekt auch unbekannt, und ob er überhaupt stimmt, daran kann man zweifeln. Trotzdem: Dieser Einschub mindert nicht die Qualität des Ganzen.
Title: Re: Sommer mit Nietzsche, Teil 1: Die fröhliche Wissenschaft
Post by: sandhofer on 03. August 2013, 15.42 Uhr
Ns. vermutete Homosexualität, was seine Frauenfeindlichkeit in ein anderes (wenn auch nicht besseres) Licht rückt, usw usf.     

Also diese "Vermutung" würde mir das Buch (bis zu diesem Punkt habe ich deine Zusammenfassung interessiert gelesen) schon wieder gänzlich verhageln.

Das muss es nicht. Für mich war dieser Aspekt auch unbekannt, und ob er überhaupt stimmt, daran kann man zweifeln. Trotzdem: Dieser Einschub mindert nicht die Qualität des Ganzen.

Darüber nun liesse sich trefflich streiten. Mir sind solche Aussagen, die doch immer auf die niederen, voyeuristischen Vorurteile des Lesers zielen, suspekt. Für mich wirft das ein dubioses Licht auch auf andere Aussagen...
Title: Re: Sommer mit Nietzsche, Teil 1: Die fröhliche Wissenschaft
Post by: Sir Thomas on 03. August 2013, 16.16 Uhr
Darüber nun liesse sich trefflich streiten. Mir sind solche Aussagen, die doch immer auf die niederen, voyeuristischen Vorurteile des Lesers zielen, suspekt. Für mich wirft das ein dubioses Licht auch auf andere Aussagen ...

Hast Du das Buch vorliegen oder Zugriff darauf? Ich nenne Dir dann gern die relevanten Abschnitte, um dieser Diskussion das Hypothetische zu nehmen. Vorab nur dies: An einen Angriff auf meine niederen Instinkte kann ich mich nicht erinnern. 
Title: Re: Sommer mit Nietzsche, Teil 1: Die fröhliche Wissenschaft
Post by: Gontscharow on 03. August 2013, 19.09 Uhr
Darüber nun liesse sich trefflich streiten. Mir sind solche Aussagen, die doch immer auf die niederen, voyeuristischen Vorurteile des Lesers zielen, suspekt. Für mich wirft das ein dubioses Licht auch auf andere Aussagen ...

Hast Du das Buch vorliegen oder Zugriff darauf? Ich nenne Dir dann gern die relevanten Abschnitte, um dieser Diskussion das Hypothetische zu nehmen. Vorab nur dies: An einen Angriff auf meine niederen Instinkte kann ich mich nicht erinnern. 

 ;D


Quote from: Autor: orzifar« am: Heute um 03:23
Er war wohl eher extrem unsicher gegenüber Frauen (die Sentenz mit der Peitsche geht womöglich auf ein Bild einer Schlittenfahrt zurückgeht mit L. A. Salome und P. Ree *glaub* - bin jetzt zu faul zum Suchen), schüchtern, überkompensierte diese seine Unsicherheit.

Das hatten wir doch schon mal.... im Klassikerforum oder hier. Ich werde nicht müde zu erklären, dass dieser zu Tode gerittene Ausspruch, auf den man N. gern festnagelt, gar nicht von Nietzsche qua Nietzsche stammt, sondern in Also sprach Zarathustra von einer alten Frau(!) getan wird!

Das berühmte Bild, eine gestellte Aufnahme aus dem Atelier, zeigt L.A.-Salomé, eine Spielzeugpeitsche schwingend, auf einem kleinen Leiterwagen, der von Paul Ree und Nietzsche „gezogen“ wird. Das hat mit dem Ausspruch nichts zu tun, bzw. zeigt ja, wenn überhaupt, eher das Gegenteil: die Frau als Domina.
Wenn ich mir’s recht überlege, ergäbe sich allerdings ein ganz neuer, nicht uninteressanter Aspekt: Wenn du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht, damit sie dich vermöbeln kann. ;)

Ich verstehe auch nicht, inwiefern die Vermutung der Homosexualität hypothetischer und mehr auf "niedere" Vorurteile zielen soll als die der   Angst vor Frauen und des Frauenhasses.
Title: Re: Sommer mit Nietzsche, Teil 1: Die fröhliche Wissenschaft
Post by: orzifar on 04. August 2013, 00.11 Uhr
Hallo!

Ich kenne das Bild (und weiß, dass die gute Lou die Peitsche hält). Bei Ross (*glaub* - ich bin mir nicht sicher, mag jetzt auch nicht die andere Sekundärliteratur nachsehen) liest man, dass die entsprechende Stelle im Zarathustra durch dieses Bild motiviert war ...

Was die vermutete Homosexualität betrifft, so scheint mir ein Hinweis auf Occam hier angebracht: Ich habe einen nachweislich verklemmten, schüchternen, von Frauen (Mama und Schwester) verunsicherten Mann, dem es offenkundig schwer fällt, zu einem weiblichen Wesen eine einigermaßen "normale" Beziehung aufrecht zu erhalten. (Dass er in Lou verliebt war steht ja außer Zweifel, ebenso, dass seine Bemühungen verkorkst waren usf.) Heißt: Ich habe hier ein Erklärungsmodell, das all das belegt, was ich brauche; und ich habe schon deshalb überhaupt keinen Grund, mit etwas anderem zu spekulieren (wozu außerdem noch alle Quellen fehlen). (So nebenbei: War dann Schopenhauer auch schwul? An abfälligen Bemerkungen über die Frau besteht bei ihm ja wirklich kein Mangel.) Deshalb sehe ich das schon ähnlich wie Sandhofer: Jemand, der mit derlei Dingen operiert, dem traue ich auch sonst nicht. Das zielt ganz offenkundig auf Effekthascherei ab. (Hat jetzt im übrigen nichts mit einer Vorverurteilung Safranskis zu tun: Bis genau zu der Stelle mit der Homosexualität dachte ich beim Lesen dieses Postings noch daran, dass ich dem Buch vielleicht eine Chance geben sollte. Aber derart obskure Spekulationen verhageln mir - wie oben erwähnt - jede Lust an der Lektüre. Weil ich eben dann das Vertrauen in andere Erklärungen verliere.)

Ich verstehe auch nicht, inwiefern die Vermutung der Homosexualität hypothetischer und mehr auf "niedere" Vorurteile zielen soll als die der   Angst vor Frauen und des Frauenhasses.

Der Unterschied ist wohl sonnenklar: Zum einen ist die These eines schwulen Nietzsche "neu", sie ist - im Gegensatz zur These des Frauenhasses - nicht belegt, während man für das verquere Verhältnis Nietzsches zum Weiblichen nun wirklich kein eingehendes Quellenstudium betreiben muss. Ganz, als ob man über Schopenhauer das gleiche sagen würde: Ein die Frauen verachtender Schopenhauer ist nun wirklich nichts Sensationelles, einer, der homosexuelle Beziehungen hatte, sehr wohl. Mit dem Abzielen auf "niedere Instinkte" ist hier das Neue, Sensationelle gemeint (das immer dann etwas besonders Anziehendes hat, wenn es sexuell konnotiert ist).

lg

orzifar
Title: Re: Sommer mit Nietzsche, Teil 1: Die fröhliche Wissenschaft
Post by: sandhofer on 04. August 2013, 15.07 Uhr
Hast Du das Buch vorliegen oder Zugriff darauf?

Nein. Aber das Hauptsächliche zu meinen Vorbehalten gegen das Aufstellen von solchen Thesen hat orzifar ja schon dargelegt. Diese - ich nenne sie "Illustrierten-Thesen" werden ja immer mal wieder kolportiert. Mal ist es Goethe, mal Nietzsche, der schwul gewesen sein soll, mal soll Goethe aber auch in Tat und Wahrheit ein Verhältnis mit Anna Amalia gehabt haben und nicht eine verkorkste Geschichte mit der Frau von Stein ... Und alles natürlich wissenschaftlich und seriös bewiesen.  :angel:
Title: Re: Sommer mit Nietzsche, Teil 1: Die fröhliche Wissenschaft
Post by: Gontscharow on 04. August 2013, 20.41 Uhr

Quote from: orzifar« am: Heute um 00:11 »
Ich kenne das Bild.

Warum sprichst du dann von Schlittenfahrt? ;)

Quote from: orzifar« am: Heute um 00:11 »
Bei Ross (*glaub* - ich bin mir nicht sicher, mag jetzt auch nicht die andere Sekundärliteratur nachsehen) liest man, dass die entsprechende Stelle im Zarathustra durch dieses Bild motiviert war ...

Das mag irgendwo in der Sekundärliteratur stehen, überzeugt aber, wenn man den Originalzusammenhang kennt, eher nicht, da das Verbindende äußerst dünn ist. Es sei denn, Nietzsche selbst hätte etwas in der Art geäußert. Ist aber auch eigentlich nicht wichtig.

Quote from: orzifar« am: Heute um 00:11 »
Was die vermutete Homosexualität betrifft, so scheint mir ein Hinweis auf Occam hier angebracht: Ich habe einen nachweislich verklemmten, schüchternen, von Frauen (Mama und Schwester) verunsicherten Mann, dem es offenkundig schwer fällt, zu einem weiblichen Wesen eine einigermaßen "normale" Beziehung aufrecht zu erhalten. (Dass er in Lou verliebt war steht ja außer Zweifel, ebenso, dass seine Bemühungen verkorkst waren usf.)

Nachweislich?? ;D  Solche Gefühlsqualitäten und psychischen Befindlichkeiten kann man nicht nachweisen (auch wenn Nietzsche bei uns auf der Couch läge), auf sie lässt sich nur aufgrund irgendwelcher Zeichen und Äußerungen schließen. Sie sind mehr oder weniger spekulativ, unterliegen der Deutung. An den vielbeschworenen kompensatorischen Frauenhass Nietzsches glaube ich zum Beispiel nicht. Vieles, was bei ihm als misogyne Äußerung rüberkommt, ist mMn nicht so sehr gegen die "holde Weiblichkeit" an sich gerichtet als gegen die Zumutungen, Restriktionen und Rollenzuweisungen, denen Mann und Frau (die vor allem) unterworfen sind und die eine Beziehung schwierig machen.
Nietzsche und "normale" Beziehung , (klein)bürgerliche Ehe? :

Ach, diese Armut der Seele zu zweien! Ach, dieser Schmutz der Seele zu zweien! Ach, dies erbärmliche Behagen zu zweien! oder:
 Ferne bleibe mir auch der Gott, der heranhinkt, zu segnen, was er nicht zusammenfügte!

Auf der anderen Seite aber das Ideal einer „partnerschaftlichen" Beziehung mit einer Frau auf Augenhöhe:

Der beste Freund wird wahrscheinlich die beste Gattin bekommen, weil die gute Ehe auf dem Talent zur Freundschaft beruht.
Oder sogar darüber: Das vollkommene Weib ist ein höherer Typus des Menschen als der vollkommene Mann…

"Verkorkste Bemühungen" um Lou? Mag sein, aber es ehrt ihn, es versucht zu haben, finde ich. Das Bild der "Dreieinigkeit" mit Lou und Ree deutet ja an, dass er durchaus experimentierfreudig war. Wer weiß schon, was zwischen dieser geistvollen Frau, die - lebensklug sich mit ihrem Ehemann und der Gesellschaft arrangierend - immer wieder jüngere talentierte Männer „vor ihren Karren spannte“ ;), als eine der ersten eine Psychoanalyse bei Freud machte etc, und Nietzsche wirklich abgelaufen ist…

Quote from: orzifar« am: Heute um 00:11 »
Heißt: Ich habe hier ein Erklärungsmodell, das all das belegt, was ich brauche;

Na dann muss es ja stimmen. Seltsame Art der Wahrheitsfindung...

Quote from: orzifar« am: Heute um 00:11 »
Das zielt ganz offenkundig auf Effekthascherei ab.

Glaub ich nicht, so wie ich Safranski kenne… Hat er gar nicht nötig. Entspricht nicht seinem Niveau. Im übrigen, warum vertrauen wir nicht Sir Thomas, der versichert, dass S. seine Vermutung durch Belege untermauert…

Quote
Hat jetzt im übrigen nichts mit einer Vorverurteilung Safranskis zu tun

Nein? Leider habe ich den Eindruck, dass doch.., denn obwohl  Thomas mehrfach betont, dass die Homo-Vermutung eine Marginalie sei und der Qualität des Buches keinen Abbruch tue, dehnst du deine Ablehnung auf das ganze Werk aus:

Quote from:
Deshalb sehe ich das schon ähnlich wie Sandhofer: Jemand, der mit derlei Dingen operiert, dem traue ich auch sonst nicht.

Es muss mal gesagt werden: Es ist nicht das erste Mal, dass aufgrund irgendwelcher dusseliger Details  angeblich - eigentlich aber wegen uneingestandener Ressentiments -  ein ungelesener Text in Bausch und Bogen abgelehnt wird und die beiden Köpfe hinter dem Forum dabei - nichts für ungut - eine unheilige Allianz eingehen.
 
Quote from:
Zum einen ist die These eines schwulen Nietzsche "neu“

So neu auch wieder nicht. Adrian Leverkühn z. B, in dessen Lebensweg Thomas Mann im Doktor Faustus erklärtermaßen die Biographie Nietzsches dichterisch nachgezeichnet hat, ist einzelgängerisch, bindungsunfähig und…. homosexuell .
Title: Re: Sommer mit Nietzsche, Teil 1: Die fröhliche Wissenschaft
Post by: Sir Thomas on 04. August 2013, 21.27 Uhr
Was ist denn hier auf einmal los? Aus einer Randnotiz macht Ihr ein großes Fass auf? Ich staune ...

Um es noch einmal ganz klar zu sagen: Die Homosexualität Nietzsches wird als möglich, keineswegs als erwiesen geschildert. Ich persönlich glaube nach wie vor nicht daran, aber das tut nichts zur Sache. Wesentlich ist doch: Safranskis Nietzsche-Buch wurde zu keinem Zeitpunkt mit dieser "sensationellen Erkenntnis" vermarktet - kein Klappentext o.ä. deutet dies auch nur an. Marktschreierei sieht wahrlich anders aus (ich erinnere mich dunkel an ein dubioses Buch, das mit der angeblichen Homosexualität Goethes einen Verkaufserfolg erzielen wollte).

Es sind ganz wenige Seiten, die Safranki dem Thema "Nietzsche - Liebe - Frau" etc. widmet - und das auch nur im Zusammenhang mit der Wirkung, die von der Dame Salomé auf sein Denken ausging. Und darum geht es in dem ganzen Buch: Um Nietzsches Denken, das Wendungen erfuhr, aber auch Konstanten aufwies. Hier wird also nicht wild über das angebliche oder tatsächliche Liebesleben des Philosophen spekuliert.

Zum Schluss muss ich Gontscharow beipflichten: Es gibt keinen Grund, Safranski als unseriösen Autor hinzustellen. Ich kenne drei seiner Bücher: Die hier ebenfalls vorgestellte und diskutierte Schiller-Biographie, sein Romantik-Buch (nicht der ganz große Gewinn, aber deshalb nicht unseriös) und eben die Nietzsche-Arbeit (die übrigens das älteste der drei genannten Werke ist). Ich habe keine Ahnung, ob sie "zitierfähig" im streng wissenschaftlichen Sinn sind. Schiere Geldvermehrung sind sie aber ganz gewiss nicht. Dafür sind allein schon die Themen viel zu exotisch.         
Title: Re: Sommer mit Nietzsche, Teil 1: Die fröhliche Wissenschaft
Post by: orzifar on 04. August 2013, 23.58 Uhr
Hallo!

@gontscharow: Ich hätte mir schon die letzte Antwort sparen können: Es ist - wie nun schon das xte Mal - mehr-weniger offenkundig, dass du nichts verstehst (und das, was du verstehst, nicht verstehen willst). Dass du im Bereich "logische Argumentation" offenkundige Defizite aufweist, werde ich nicht zu meinem Problem machen. Das Aufbauschen "dusseliger" Details erfolgt ausschließlich von deiner Seite: Weil du den irgendwo ausgesprochenen Gedanken nicht begreifst, aber dennoch nicht umhin kannst, dich ein wenig bildungsbürgerlich wichtig zu machen. Deshalb also kein Eingehen mehr auf "Argumente" deinerseits.

Und: Erspar mir in Zukunft irgendwelche Antworten auf meine Beiträge. Außerdem betreffs der unheiligen Allianz: Sie - die Allianz - entsteht doch bloß dadurch, dass - mal der eine, mal der andere - sich bemüht, das von dir nicht Begriffene in andere Worte zu setzen, um diesem deinem Verständnis aufzuhelfen. Mit wenig Erfolg ...

Zu Safranski: Ich kenne nur seine medialen Äußerungen und das Schillerbuch (das mir aus den beschriebenen Gründen nicht besonders gefallen hat). Und das mir nicht eben Lust auf mehr gemacht hat. Diese Erwähnung von Nietzsches vermuteter Homosexualität passt in das Bild eines Autors, dem es immer auch um den Verkauf seiner Werke geht. Das ist legitim, schätze ich aber nicht sehr.

lg

orzifar

Nachsatz: So nebenbei kenne ich Besprechungen von Safranskis Büchern wie diese (http://www.spiegel.de/spiegel/spiegelspecial/d-9295572.html) über Heidegger. Das rundet das Bild ein wenig ab, könnte man doch dasselbe - mutatis mutandis - auch über die Schillerbiographie sagen.
Title: Re: Sommer mit Nietzsche, Teil 1: Die fröhliche Wissenschaft
Post by: Gontscharow on 05. August 2013, 14.34 Uhr
Geschätzter orzifar!

Deine Reaktion bestätigt schlimmste Befürchtungen. Ich mach mir Sorgen. Dabei weißt Du doch, dass Ausfälle dieser Art auf einen selber zurückfallen, oder?
Ja, ich "willl nicht hören“, bin strohdumm, unbelehrbar, beratungsresistent und widerborstig. Denn nur: Wo Vernunft befiehlt, gehorcht man gern.(Kant)
Deine Beiträge zu ignorieren, wird mir nicht schwerfallen, denn mich deprimieren die Sach-,Fach-, Sekundär- und Tertiär-Literatur, die auf deiner endlosen Gerade- am- Lesen- Liste steht, und deine oft negativen Tiraden dazu eigentlich eher. Nicht ohne Grund stehen Deine Beiträge meist einsam im Forum rum….Schreibst du für österreichische Philosophie- Studenten im ersten Semester, die bei dir Prüfung machen müssen?

Von einem Literaturforum verspreche ich mir eigentlich erwachsenen Austausch über Literatur, Mit-teilung von Begeisterung und Entdeckerfreude und nicht die öde vergebliche Beweisführung, dass man dem anderen über ist und (als einziger) den großen Durchblick hat und wehe er sieht das nicht so...

Mit bildungsbürgerlichen Grüßen - weiß mich da in bester Gesellschaft -

Gontscharow
Title: Re: Sommer mit Nietzsche, Teil 3: Morgenröte
Post by: Sir Thomas on 06. August 2013, 09.43 Uhr
Morgenröte

Wir schreiben das Jahr 1880. Nietzsche beginnt nach seinem freiwilligen Abschied aus dem akademischen Betrieb ein unstetes Wanderleben. Er will sich als freier Schriftsteller behaupten. Hatte er schon in „Menschliches, Allzumenschliches“ (1878/79) seiner Entfremdung von der zeitgenössischen Kultur, Wissenschaft und Philosophie Ausdruck verliehen,  so nimmt er in „Morgenröte“ seinen Erzfeind noch deutlicher ins Visier: das Christentum und die daraus abgeleiteten Moralvorstellungen. „Morgenröte“ (erschienen im Sommer 1881) ist der erste Teil der Rampe für Zarathustra (der zweite, Die fröhliche Wissenschaft, erscheint ein Jahr später) – auch wenn vieles hier noch nicht so hymnisch-verspannt klingt. „Gedanken über die moralischen Vorurteile“ lautet der Untertitel, der sich auf ein Werk seines Freundes Paul Rée bezieht. „Der Ursprung der moralischen Empfindungen“ nannte Rée sein 1877 veröffentlichtes Buch, dem Nietzsche (lt. Wikipedia) u.a. die Idee entnahm, dass auch egoistische Motive nicht zwingend zu schädlichen Handlungen führen. Später (1887, in der „Genealogie der Moral“) wird Nietzsche die Ideen des Freundes vehement ablehnen – eine der vielen „Inkonsequenzen“ seines nicht immer schlüssigen intellektuellen Werdegangs.

„Morgenröte“ ist Nietzsches Anlauf zur berühmten Umwertung aller Werte (auch wenn der Begriff hier noch nicht fällt) und damit einem zentralen Axiom seines Denkens, das 1889 in der „Götzen-Dämmerung“ einen ausführlichen und wuchtigen Abschluss erfährt. Zusammen mit der ein Jahr später erschienenen „Fröhlichen Wissenschaft“ ist „Morgenröte“ das entspannteste Nietzsche-Buch, ein Werk seiner Ja-sagenden Phase, wie Giorgio Colli meint.

Vorrede und erstes Buch
(Die Seitenzahlen beziehen sich auf die von Colli/Montinari herausgegebene Kritische Studienausgabe KSA, Band 3)

Es lohnt sich, die später von N. hinzugefügten Vorreden der präzarathustrischen Schriften zu lesen, denn darin liefert er idR. interessante Anhaltspunkte zur Erfassung seiner intellektuellen Biographie. Hier eine Kostprobe (sie ist typischer Nietzsche-Sound): In diesem Buche findet man einen „Unterirdischen“ an der Arbeit, einen Bohrenden, Grabenden, Untergrabenden. Man sieht ihn, vorausgesetzt, dass man Augen für solche Arbeit der Tiefe hat —, wie er langsam, besonnen, mit sanfter Unerbittlichkeit vorwärts kommt … Glaubt ja nicht, dass ich euch zu dem gleichen Wagnisse auffordern werde! Oder auch nur zur gleichen Einsamkeit! Denn wer auf solchen eignen Wegen geht, begegnet Niemandem: das bringen die „eignen Wege“ mit sich … Damals unternahm ich Etwas, das nicht Jedermanns Sache sein dürfte: ich stieg in die Tiefe, ich bohrte in den Grund, ich begann ein altes Vertrauen zu untersuchen und anzugraben, auf dem wir Philosophen seit ein paar Jahrtausenden wie auf dem sichersten Grunde zu bauen pflegten, — immer wieder, obwohl jedes Gebäude bisher einstürzte: ich begann unser Vertrauen zur Moral zu untergraben.

Schon das Vertrauen in die Vernunft ist für N. ein moralisches Phänomen (S. 15). Über Moral - das, was Gut und Böse ist - wurde seiner Meinung nach bislang am schlechtesten nachgedacht (12). Der Grund: Die Logik des christlichen Dogmas “Ich glaube, weil bzw. obwohl es absurd ist“. Dabei ist Sittlichkeit zunächst einmal nichts Anderes als Gehorsam gegen Sitten, also die herkömmlichen Arten zu denken und zu handeln. Wo jedoch kein Herkommen ist, gibt es keine Sitte, keine Sittlichkeit. Deshalb ist der freie Mensch unsittlich, weil er von sich selbst und nicht von einem Herkommen abhängen möchte (22).

Die Sittlichkeit verlangt, dass man Vorschriften beachtet, ohne an sich als Individuum zu denken. Der Sittlichste ist derjenige, der der Sitte am meisten opfert und die Regeln der Moralität unter den schwersten Bedingungen erfüllt. Diese Selbstüberwindung wird nicht aufgrund eventuell nützlicher Folgen für das Individuum bewertet, sondern nur danach, ob die Sitte als herrschend daraus hervortritt. Individuelle Handlungen und Denkweisen erregen hingegen Schauder. Die Originalität hat unter der Herrschaft der Sitte und Moral ein böses Gewissen bekommen (24).

Die Überbewertung des Glaubens und des Geistes (vita contemplativa) löst überall dort, wo sie als reine Geistigkeit und Sitte herrschen, dort, wo der Körper gering geschätzt und vernachlässigt wird, eine extreme Handlungsarmut und damit eine Zerstörung der Nervenkräfte sowie Verdüsterung der Seelen aus (46).  Nun würde man solch handlungs- und tatenarme Menschen gern aus der Gemeinschaft ausschließen. Das erscheint jedoch gefährlich, weil man sie im Besitz unbekannter Machtmittel wähnt. Die vita contemplativa kommt als vermummte, zweideutige Gestalt mit einem bösen Herzen daher. Sie wird im Geheimen verachtet und gefürchtet, öffentlich jedoch mit Ehre überschüttet (50).

Dieser contemplative Geist wird im Christentum leiblich sichtbar. Es hat sich der Ängstlichen und Unterwerfungslustigen bemächtigt oder bedient und stieg somit von ländlicher Plumpheit zu einer geistreichen Religion auf (60). Das Christentum ist eine orientalische und eine weibliche Religion; sie erzieht die Menschen zu Schuld- und Selbstzüchtigungsgefühlen. Motto: Es ist besser, sich Schuld einzureden, als Unschuld, denn man weiss nicht, wie gnädig oder ungnädig die Richter mit einer gefundenen, zuvor aber geleugneten Schuld, umgehen werden! (72) Eros und Aphrodite, einst verehrungswürdige, idealfähige Mächte, wurden zu Quellen des Elends und der Hölle umfunktioniert (73), eine neue Gattung des Mitleidens und Erbarmens mit den zur Hölle Verdammten entstand. Auch die Erde der Christen ist schon zu Lebzeiten eine entsetzliche Stätte der Qualen (75). Das persönliche Unglück eines Menschen verlor seine „Unschuld“, weil es im Christentum als persönliche Strafe für individuelle Schuld empfunden wurde (77).

Wird fortgesetzt
Title: Re: Sommer mit Nietzsche, Abschluss: Jenseits von Gut und Böse
Post by: Sir Thomas on 16. August 2013, 16.51 Uhr
Jenseits von Gut und Böse

Beginnen wir mit zwei zeitgenössischen Urteilen über dieses Buch, das für N. Teil seines Hauptwerks werden und ursprünglich „Der Wille zur Macht“ heissen sollte. Zuerst der Schweizer Journalist und Kritiker Joseph Victor Widmann: „Wir sprechen von dem neuen Buch des Philosophen Nietzsche als von einem gefährlichen Buch.“ – Zum zweiten ein langjähriger Weggefährte Nietzsches, der Altphilologe Erwin Rohde: „… das eigentlich Philosophische daran ist so dürftig und fast kindisch …“. Widmanns Kritik machte den bislang kaum gelesenen deutschen „Philosophen“ mit einem Schlag relativ bekannt. Rohdes Verdikt dürfte ihn hingegen arg geschmerzt haben.

Das erste nachzarathustrische Werk (erschienen 1886) ist Ausfluss eines „heiligen“ Zorns, eine Abrechnung mit der gesamten Philosophie und Metaphysik.  Mit den Worten Safranskis: Er durchmustert die Reihe der metaphysischen Fiktionen, mit denen der abendländische Geist die imaginäre Welt der Haltbarkeit, Einheit und Dauer gegen den heraklitischen absoluten Fluss des Werdens und Vergehens entworfen hat (S. 311). Für N. gibt es keine Gegensätze, keine Dialektik, keine historischen Gesetzmäßigkeiten, sondern nur noch fließende Übergänge.

Das „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ (so der Untertitel) bietet wenig Neues. In neun sog. Hauptstücke wiederholt N. seine Kritik an der Moral, am religiösen Menschen und am Christentum. Er hält diesen alten Zöpfen sein neues Denken, das Denken der „freien, sehr freien Geister“ und den „neuen Typus Mensch“ entgegen, der all die metaphysischen Tröstungen des religiösen Herdentiers nicht mehr nötig hat, weil er hart ist gegen sich und andere, weil er souverän über den Dingen steht und nichts anerkennt, als das, was er sich und anderen zum Gesetz macht.

Abschnitt 51: Bisher haben sich die mächtigsten Menschen immer noch verehrend vor dem Heiligen gebeugt, als dem Rätsel der Selbstbezwingung und absichtlichen letzten Entbehrung: warum beugten sie sich? Sie ahnten in ihm — und gleichsam hinter dem Fragezeichen seines gebrechlichen und kläglichen Anscheins — die überlegene Kraft, welche sich an einer solchen Bezwingung erproben wollte, die Stärke des Willens, in der sie die eigene Stärke und herrschaftliche Lust wieder erkannten und zu ehren wussten: sie ehrten Etwas an sich, wenn sie den Heiligen ehrten. Es kam hinzu, dass der Anblick des Heiligen ihnen einen Argwohn eingab: ein solches Ungeheures von Verneinung, von Wider-Natur wird nicht umsonst begehrt worden sein, so sagten und fragten sie sich. Es giebt vielleicht einen Grund dazu, eine ganz grosse Gefahr, über welche der Asket, Dank seinen geheimen Zusprechern und Besuchern, näher unterrichtet sein möchte? Genug, die Mächtigen der Welt lernten vor ihm eine neue Furcht, sie ahnten eine neue Macht, einen fremden, noch unbezwungenen Feind: — der „Wille zur Macht“ war es, der sie nötigte, vor dem Heiligen stehen zu bleiben. Sie mussten ihn fragen.

Abschnitt 197: Man missversteht das Raubtier und den Raubmenschen (zum Beispiele Cesare Borgia) gründlich, man missversteht die „Natur“, so lange man noch nach einer „Krankhaftigkeit“ im Grunde dieser gesündesten aller tropischen Untiere und Gewächse sucht, oder gar nach einer ihnen eingeborenen „Hölle“ —: wie es bisher fast alle Moralisten getan haben. Es scheint, dass es bei den Moralisten einen Hass gegen den Urwald und gegen die Tropen gibt? Und dass der „tropische Mensch“ um jeden Preis diskreditiert werden muss, sei es als Krankheit und Entartung des Menschen, sei es als eigene Hölle und Selbst-Marterung? Warum doch? Zu Gunsten der „gemässigten Zonen“? Zu Gunsten der gemässigten Menschen? Der „Moralischen“? Der Mittelmässigen? — Dies zum Kapitel „Moral als Furchtsamkeit“.

N. philosophiert lang und breit über das, was den edlen, aristokratisch gesinnten Menschen von dem niedrigen Sklaventum der großen Masse abhebt und wie viel Grausamkeit und Unterdrückung im Untergrund jeder Kultur lauert (– notwendigerweise lauern muss!), weil Zivilisation eben mit Grausamkeit, Durchsetzung der willensstarken Naturen und Unterdrückung von Massen verbunden sei. Grausam sei letztlich auch der Hang eines jeden Erkennenden zu eigenem Leiden und zu dem Drang, die Dinge tief und gründlich zu nehmen. N. nennt es eine intellektuelle Grausamkeit, wenn die freien Geister jenseits der Moral den schrecklichen „Grundtext homo natura“ wieder erkennen wollen. Sie streben nämlich vor allem danach, den Menschen „zurück zu übersetzen in die Natur“ (Abschnitt 230).

Diese „Natur““ kennt vor allem den Unterschied zwischen „vornehm“ und „gemein“. Im letzten Hauptstück offenbart N. sein aristokratisch-elitäteres Menschenbild. Abschnitt 257: Jede Erhöhung des Typus „Mensch“ war bisher das Werk einer aristokratischen Gesellschaft — und so wird es immer wieder sein: als einer Gesellschaft, welche an eine lange Leiter der Rangordnung und Werthverschiedenheit von Mensch und Mensch glaubt und Sklaverei in irgend einem Sinne nöthig hat. Ohne das Pathos der Distanz, wie es aus dem eingefleischten Unterschied der Stände, aus dem beständigen Ausblick und Herabblick der herrschenden Kaste auf Unterthänige und Werkzeuge und aus ihrer ebenso beständigen Übung im Gehorchen und Befehlen, Nieder- und Fernhalten erwächst, könnte auch jenes andre geheimnissvollere Pathos gar nicht erwachsen, jenes Verlangen nach immer neuer Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst, die Herausbildung immer höherer, seltnerer, fernerer, weitgespannterer, umfänglicherer Zustände, kurz eben die Erhöhung des Typus „Mensch“, die fortgesetzte „Selbst-Überwindung des Menschen“, um eine moralische Formel in einem übermoralischen Sinne zu nehmen.

Kurz vor Schluss gibt N. noch ein treffendes Selbstbild ab. Abschnitt 289: Man hört den Schriften eines Einsiedlers immer auch Etwas von dem Wiederhall der Oede, Etwas von dem Flüstertone und dem scheuen Umsichblicken der Einsamkeit an; aus seinen stärksten Worten, aus seinem Schrei selbst klingt noch eine neue und gefährlichere Art des Schweigens, Verschweigens heraus. Wer Jahraus, Jahrein und Tags und Nachts allein mit seiner Seele im vertraulichen Zwiste und Zwiegespräche zusammengesessen hat, wer in seiner Höhle — sie kann ein Labyrinth, aber auch ein Goldschacht sein — zum Höhlenbär oder Schatzgräber oder Schatzwächter und Drachen wurde: dessen Begriffe selber erhalten zuletzt eine eigne Zwielicht-Farbe, einen Geruch ebenso sehr der Tiefe als des Moders, etwas Unmittheilsames und Widerwilliges, das jeden Vorübergehenden kalt anbläst.

Auffällig an diesem Werk: N. schreibt nicht mehr in Aphorismen, sondern beweist einen längeren Atem. Das macht das Buch trotz zahlreicher Kettensätze erstaunlich gut lesbar. Der Ton ist, verglichen mit „Morgenröte“ und „Fröhlicher Wissenschaft“ deutlich aggressiver geworden. Er wird sich weiter steigern – über die „Genealogie …“ und „Götzen-Dämmerung“ bis zum geifernden „Anti-Christen“ und der fast nur noch wahnsinnig anmutenden Autobiographie „Ecce Homo“. Mit „Jenseits …“ hat N. drei Jahre vor seinem Zusammenbruch die schiefe Ebene betreten, die ihn der Nachwelt verdächtig machen wird – und bis heute seinen zweifelhaften Ruf als Prediger der Amoral begründet.