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Lektüren, Rezensionen => Zeitgenössische, nicht-klassische Literatur => Topic started by: orzifar on 05. Februar 2013, 18.12 Uhr

Title: Gernot Wolfgruber: Auf freiem Fuß
Post by: orzifar on 05. Februar 2013, 18.12 Uhr
Hallo!

Was die bürgerliche Welt einer Brigitte Schwaiger - das ist das Arbeitermilieu für Gernot Wolfgruber. Damit ist nichts gesagt über die Qualität des Beschriebenen, nur die Zeit umrissen, die Nachkriegszeit, in der sich das Leben normalisierte, in der Dankbarkeit eine Grundkategorie wurde, Dankbarkeit dafür, nicht 20 Jahre früher geboren worden zu sein, nicht hungern zu müssen, Kleidung zu haben und in der der Vorwurf erhoben wurde, dass diese Umstände von den Betreffenden nicht geschätzt würden, dass sie nicht wüssten, wie gut sie es hätten.

Und obwohl man es soviel besser hat, ist allüberall Perspektivenlosigkeit, werden Tugenden verlangt wie Gehorsam und Fleiß, welche sinnlos erscheinen, weil es nichts zu geben scheint, was ein sinnvolles Ziel darstellen könnte. Einzig darauf, dass die gerade unerträgliche Zeit vergeht, einmal vergangen sein wird, darauf kann man sich freuen, der Rest sind Träume, Versatzstücke aus Filmen, die als Vorlage dienen für das lässige Verhalten, das den Betreffenden das Leben noch schwerer macht.

Aus dem Überdruss der Sinnlosigkeit begeht die Hauptfigur kleinere Einbrüche, aus Langeweile, die Idee einer romantisch-verruchten Verbrecherkarriere im Hintergrund. Man stiehlt Würfelzucker oder Gurkengläser, manchmal Zigaretten - und das Erwischtwerden ist eine Selbstverständlichkeit, eine bloß andere Fortsetzung der grautristen Welt. - Wenn auch sprachlich unreifer, weniger eingängig als "Herrenjahre", so ist dies doch ein beeindruckendes Werk, schnörkellos, fast grausam in seiner schalen Zukunftslosigkeit.

Wolfgruber ist jener Autor, der die vielleicht prägnanteste, eingehendste Schilderung jener Nachkriegswelt lieferte, die die Geisteshaltung des Vergessens kultivierte und alle ihre Anstrengungen auf das "Wiederaufbauen" richtete - mit Tugenden, die ganz offenkundig in die ansonsten verpönte Zeit zurückreichten. Der selbstverständliche Gehorsam, das Sich-Unterordnen, der eingeforderte Respket vor den Erwachsenen, die ihrerseits nicht das Geringste dazu beitrugen, einen solchen Respekt zu verdienen, all die Feigheit, Kleinlichkeit, Armseligkeit im Denken, vor der der Heranwachsende nur mit Unverständnis und Ekel stehen konnte. Und die doch alles war, unveränderlich aus der Sicht des Jugendlichen, eine unverrückbare Macht, an der man sich mit hilflosen Gewaltausbrüchen, Straftaten aus Überdruss versuchte - und die nur umso stärker und eingängiger ihre Unantastbarkeit bewies, an Menschen bewies, denen da ständig von ihrem Glück der späten Geburt gesprochen wurde und die nur das Übermaß der Hoffnungslosigkeit und des Unglücks sahen.

lg

orzifar