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Lektüren, Rezensionen => Zeitgenössische, nicht-klassische Literatur => Topic started by: orzifar on 25. Mai 2012, 21.22 Uhr
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Hallo!
Die Marketingabteilung des Verlages war offenbar in Verlegenheit: Ein Krimi, ein Thriller - magischer Realismus? - oder aber eine Aufarbeitung der Zeit des "Leuchtenden Pfades"? Von allem ein wenig, vor allem aber: Ein sehr lesenswerter, spannender und kluger Roman.
Staatsanwalt Chacatana wird mit einem Mord konfrontiert: Wobei es sich eher um eine Hinrichtung mit sadistischen Zügen zu handeln scheint, fehlt der Leiche doch eine Hand, die man ihr noch zu Lebzeiten abgesägt hatte. Eine Chance für Chacatana, er, den seine Frau verlassen hat und der in seltsamer Zweisamkeit mit seiner verstorbenen und vielgeliebten Mutter lebt. Aber sein Ehrgeiz erweckt Befremden oder Ablehnung: Nirgendwo scheint man an einer Aufklärung all zu sehr interessiert zu sein, weder die militärischen noch die zivilen Behörden gewähren Unterstützung. Und so folgt ein Mord dem anderen, einer grausamer und skurriler als der vorhergehende und die Spuren deuten immer stärker in eine Richtung: Die des "Leuchtenden Pfades", jener kommunistischen Organisation, deren Kampf eigentlich vor Jahren erloschen ist. Bald aber wird der Staatsanwalt auch persönlich involviert - und sieht sich bereits als Hauptverdächtigen.
Es sind nicht so sehr die Spannungsmomente, die äußere Handlung, die diesen Roman so lesbar machen, als vielmehr die Schilderung einer Gesellschaft, die sich mit korrupten militärischen und zivilen Machthabern arrangieren muss, die all die Schatten der Vergangenheit nicht überwunden hat - und nicht überwinden kann. Ein als selbstverständlich angesehener Sumpf von Korruption und Ignoranz, ein Volk, dass seine Herrscher erträgt wie eine verhängte biblische Plage, einzig die Personen wechseln, die Unterdrückung bleibt. Roncagliolo ist ein großartiger Erzähler in bester südamerikanischer Tradition, witzig-ironisch, abgründig, brutal. Und seine Protagonisten sind glaubhaft, sein Staatsanwalt kein klischeehafter Antiheld, sondern durch und durch originell - bis zum Schluss. Dazu mythologisch-phantastische Verbrämungen, vorsichtig platziert und mit großem Geschick. Hier wächst ein Autor heran, von dem man sich noch einiges erwarten darf.
lg
orzifar