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Lektüren, Rezensionen => Gerade am Lesen ... => Topic started by: sandhofer on 31. Dezember 2011, 19.06 Uhr

Title: Kuno Raeber
Post by: sandhofer on 31. Dezember 2011, 19.06 Uhr
Kennt den jemand von Euch? Mir war er vor Jahrzehnten als Lyriker übern Weg gelaufen. Scheint aber auch ein Prosa-Autor von Kaliber zu sein. Jedenfalls füllt er die Lücke nach Doderer sehr kompetent. Mehr im Neuen Jahr ...  :hi:
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: sandhofer on 01. Januar 2012, 15.36 Uhr
Hallo zusammen!

Ich lese gerade mit zunehmender Begeisterung das Werk dieses Mannes. "Geheimtipp" würde ich nicht sagen, auch wenn er offenbar zu jenen gehört, die mehr unter der Hand weiter gegeben wurden. Dass er zu Lebzeiten nicht bekannt wurde, mag auch daran liegen, dass zu seiner Zeit eigentlich nur bekannt werden durfte, wer das Gütesiegel der Gruppe 47 bekommen hatte. Und als Historiker, der dann bei den phantastischen Welten eines Borges zur Schule gegangen ist, also Mythen und "alte Geschichten" der Schilderung der Gegenwart, die die Gruppe 47 ultimativ verlangte, vorzog, hatte Raeber wohl keine grosse Chance. Immerhin interessant, dass er im selben Verlag veröffentlichte, bei dem auch der andere sprachgewaltige Historiker veröffentlichte: Biederstein in München.

Grüsse

sandhofer
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: BigBen on 02. Januar 2012, 07.46 Uhr
Was genau liest Du denn von ihm?
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: sandhofer on 02. Januar 2012, 08.10 Uhr
Im Moment das hier:

http://www.amazon.de/Werke-Romane-Dramen-Bd/dp/3312002958/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1325487601&sr=8-1

Es handelt sich um die Ausgabe seiner Werke in 5 Bänden. Bei Amazon ist sie nicht mehr vollständig gelistet; ich habe sie vor Wochen als Restexemplar bei Zweitausendeins gekauft und vermute, dass sie vergriffen ist.

Im Moment stecke ich in Das Ei, wo Raeber die tatsächlich passierte Verstümmelung der Pietà von Michelangelo im Jahre 1972 als Ausgangspunkt für eine Geschichte nimmt, in der es um die Auseinandersetzung zwischen Mann und Mutter geht, zwischen Mensch und Vorbild / geliebtem Mensch. Raeber erzählt assoziativ, d.h., seine Geschichte hat keinen erkennbaren zeitlichen Rahmen. Auch mischt er zeitliche / historische Ebenen. So lässt er z.B. römische Kaiser als Aztektenpriester agieren, die auf der Spitze des Empire State Building im Gegenwarts-New York von 1960 Menschenopfer darbringen. (Das Beispiel ist aber aus einem früheren Roman: Alexius unter der Treppe oder Geständnisse vor einer Katze.) Im Ei sind dafür Schilderungen aus der damaligen Schwulen-Szene in Rom eingeflochten. (Raeber war selber homosexuell.)
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: BigBen on 02. Januar 2012, 08.39 Uhr
Klingt interessant. Vorgemerkt.
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: sandhofer on 02. Januar 2012, 09.12 Uhr
Kommt hinzu, dass Raeber ein äusserst sprachgewaltiger Autor ist. Und das heisst nicht "redselig". Man stelle sich vor, dass Das Ei ursprünglich über 800 Manuskriptseiten umfasste, die Raeber in 5 Jahren Arbeit auf etwas über 200 Druckseiten kondensierte. Auch seine Lyrik (und Raeber kommt eigentlich von daher) zeichnet sich durch ungeheure Reduktion aus, ohne dass ein irgendwie gearteter Minimal-Stil à la Hemingway zu erkennen wäre.

(Daneben: Markanter Gebrauch des Konjunktiv, weil seine Geschichten eben nicht linear fortschreitende Gebilde sind, sonder eher Gedankenspiele im Sinne von "Es hätte so, es hätte aber auch ganz anders sein können. Oder ähnlich." Wenn Vaihinger der Philosoph des Als Ob war, könnte man Raeber den Poeten des Als Ob nennen. Veränderung, Metamorphose als poetologisches Programm. Ovid als Ausgangspunkt, Borges als Anreger.)

Der Gedanke an den Gebrauch bewusstseinsverändernder Drogen liegt nahe, besonders zu jener Zeit. Allerdings war Raeber die Generation der Väter. Seine differierende Sichtweise auf die Dinge stammt wohl eher daher, dass er als dem Jesuitenorden (und damit dem Christentum) Entlaufener und Schwuler vieles, praktisch alles, aus einem andern Blickwinkel sehen musste als seine Zeitgenossen. So zitiert er zwar die Beatles, aber nicht "Lucy in the Sky with Diamonds" ... Und seine Anregungen holt er neben Borges aus der Legenda Aurea des Jacobus de Voragine ...
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: Gontscharow on 02. Januar 2012, 15.30 Uhr

Veränderung, Metamorphose als poetologisches Programm. Ovid als Ausgangspunkt, Borges als Anreger.)
...Und seine Anregungen holt er neben Borges aus der Legenda Aurea des Jacobus de Voragine ...

Klingt wirklich interessant. R. war mir vollkommen unbekannt. Ich habe mir jetzt mal den Roman:  Alexius unter der Treppe oder Geständnisse vor einer Katze bestellt. Scheint sein bekanntestes Werk zu sein. Aufgrund deiner Ausführungen fühle ich mich an Genet und Pasolini erinnert.
 
Dass er zu Lebzeiten nicht bekannt wurde, mag auch daran liegen, dass zu seiner Zeit eigentlich nur bekannt werden durfte, wer das Gütesiegel der Gruppe 47 bekommen hatte. Und als Historiker, der dann bei den phantastischen Welten eines Borges zur Schule gegangen ist, also Mythen und "alte Geschichten" der Schilderung der Gegenwart, die die Gruppe 47 ultimativ verlangte, vorzog, hatte Raeber wohl keine grosse Chance.

Die Gruppe 47 wird mir immer suspekter. Der gute Thelen passte ja auch nicht ins Konzept und bekam das zu spüren. Allerdings war Raeber Mitglied der Gruppe 47, wie ich Wikipedia entnommen habe. Wäre interessant, die Reaktionen Richters und der Gruppe auf von ihm Gelesenes zu erfahren...
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: sandhofer on 02. Januar 2012, 15.44 Uhr
Pasolini

Der Regisseur, den (bzw. dessen Bilder) er regelmässig "zitiert", ist allerdings Fellini.

Allerdings war Raeber Mitglied der Gruppe 47, wie ich Wikipedia entnommen habe.

Allerdings scheint Wikipedia das als einzige zu wissen. Weitere Hinweise finde ich nirgends. Er hat dort einmal gelesen, aus Alexius, wenn ich mich nicht irre, und wurde nicht verstanden. Hinweise auf eine Mitgliedschaft finde ich nicht einmal in den recht ausführlichen Nachworten meiner Ausgabe. Vielleicht ja noch in den Bänden 4 und 5?
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: BigBen on 02. Januar 2012, 16.05 Uhr
Allerdings war Raeber Mitglied der Gruppe 47, wie ich Wikipedia entnommen habe.

Allerdings scheint Wikipedia das als einzige zu wissen. Weitere Hinweise finde ich nirgends. Er hat dort einmal gelesen, aus Alexius, wenn ich mich nicht irre, und wurde nicht verstanden. Hinweise auf eine Mitgliedschaft finde ich nicht einmal in den recht ausführlichen Nachworten meiner Ausgabe. Vielleicht ja noch in den Bänden 4 und 5?

Also in der rororo Monographie über die Gruppe 47 habe ich ihn auf die Schnelle auch nicht finden können.
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: BigBen on 02. Januar 2012, 16.28 Uhr
Weiteres Suchergebniss: Das KLG schreibt "1959 nahm er an einem Treffen der Gruppe 47 teil."
Teilnahme ist ja nicht gleich Mitgliedschaft.  ;)
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: Gontscharow on 03. Januar 2012, 00.17 Uhr

Also in der rororo Monographie über die Gruppe 47 habe ich ihn auf die Schnelle auch nicht finden können.

Diese Monographie habe ich auch. Im Namenregister taucht der Name Raeber nicht auf. Eine Mitgliedschaft halte ich daher für unwahrscheinlich. Eine Lesung wird aber auch nicht erwähnt. Thelen dagegen bringt es immerhin auf zwei Nennungen.
Ich habe im Internet einen Artikel gefunden, der die Fragen nach Raebers Begegnung mit der Gruppe 47 beantwortet:  Der 2011 in  NZZOnline erschienene Artikel (aus technischen Gründen kann ich ihn im Augenblick leider nicht verlinken) beschäftigt sich mit den Tagebüchern Raebers und speziell mit der 1959 stattgefundenen Lesung eines Prosatextes (also nicht des Alexius) vor der Gruppe 47, eine Schlüsselszene im Leben des Schriftstellers, die möglicherweise über seine weitere Karriere entschied. Es ist weit schlimmer als befürchtet! Der  vorgelesene Text wurde von Walther Jens verrissen, der sich nicht entblödete, von  „Päderastenprosa“ zu sprechen. :wut: Der Verfasser fährt fort:  In seiner selbstkritischen Tagebuchaufzeichnung vom 27. Oktober 1959 schildert Raeber sein «Débâcle» als ein Scheitern an der Arroganz der literarischen Platzhirsche: «Ich fühlte mich verloren. Mein Text verdorrte mir im Mund.»
Ich bin erschüttert. Nach dem Emigrantenliteratur-Vorwurf, den Thelen sich von Richter gefallenlassen musste, einmal mehr ein Hinweis darauf, wie provinziell und nazi-infiziert die Gruppe 47 noch war!
Warum hatte der Schweizer Raeber, der damals als Lyriker schon einen Namen hatte, es eigentlich nötig, sich vor diesen ehemaligen Hitlerjungen, Wehrmachts - und WaffenSS-Angehörigen zu demütigen?   
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: sandhofer on 03. Januar 2012, 07.29 Uhr
Warum hatte der Schweizer Raeber, der damals als Lyriker schon einen Namen hatte, es eigentlich nötig, sich vor diesen ehemaligen Hitlerjungen, Wehrmachts - und WaffenSS-Angehörigen zu demütigen?   

Ganz einfach: Weil zu der Zeit in der deutschen Literatur nur der was war, der von der Gruppe 47 sozusagen sanktioniert worden ist. ("Sanktioniert" hier auch = "heilig gesprochen" ...)

Ich muss in meinen Nachworten mal suchen gehen, welchen Text Raeber vorgelesen hat ...
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: Gontscharow on 03. Januar 2012, 18.18 Uhr

Hier der link zu besagtem NZZOnline-Artikel über Raeders Lesung vor der Gruppe 47:http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/literatur/begierde_nach_vollkommenheit_1.10936635.html (http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/literatur/begierde_nach_vollkommenheit_1.10936635.html)
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: sandhofer on 03. Januar 2012, 19.33 Uhr
Danke! Dieser Artikel ist mir durch die Latten gegangen ...
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: sandhofer on 04. Januar 2012, 07.23 Uhr
Ich muss in meinen Nachworten mal suchen gehen, welchen Text Raeber vorgelesen hat ...

Die Düne. Da kommt auch eine recht explizit geschilderte homosexuelle Affäre vor.

Neben Alexius das beste, was ich bis jetzt gelesen habe: Wirbel im Abfluß (seinerzeit bei Amman unter dem Titel Sacco di Roma erstveröffentlicht). 268 Seiten Text ohne Punkt ... Eine Handlung ist schwierig darzustellen, da Raeber immer wieder assoziativ um das Verhältnis zwischen einem "Er" (grosso modo: der Papst) und einem "König von Frankreich" dreht, zwischen Intellekt und Sinnesfreudigkeit, zwischen religöser Verknöchertheit und weltlicher Unbekümmertheit, ja Kindlichkeit ...
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: orzifar on 04. Januar 2012, 23.43 Uhr
Hallo!

Ich bin erschüttert. Nach dem Emigrantenliteratur-Vorwurf, den Thelen sich von Richter gefallenlassen musste, einmal mehr ein Hinweis darauf, wie provinziell und nazi-infiziert die Gruppe 47 noch war!
Warum hatte der Schweizer Raeber, der damals als Lyriker schon einen Namen hatte, es eigentlich nötig, sich vor diesen ehemaligen Hitlerjungen, Wehrmachts - und WaffenSS-Angehörigen zu demütigen?

Ob die wenig ruhmreiche Vergangenheit von Jens hier eine Rolle spielt weiß ich nicht. Ich glaube, dass diese Art des Verurteilens und Verächtlich-Machens durch scheinbar arrivierte Kritiker oder Schriftsteller ständig vorkommt, in der Literatur- und Kunstszene vielleicht mehr als in allen anderen Bereichen. Ein (junger, neuer) Schriftsteller muss - von Ausnahmen abgesehen - eine sehr dicke Haut, wenig Rückgrat und einiges an Speichelleckerei aufbringen, um in der "Szene" zu reussieren. Und ich kenne einige, denen dies nach ersten Gehversuchen zutiefst zuwider war und von denen man nie wieder etwas gehört hat.

Die Gruppe 47 hat ganz offensichtlich auch so funktioniert, ein Klüngel an Eitelkeiten, die sich bestenfalls untereinander Preise verleihen und jene, die nicht der allgemein anerkannten Vorstellung entsprechen, nicht durch Argumente sondern durch ihre Macht abqualifizieren. Dies ist in solchen (künstlerischen) Bereichen noch leichter als anderswo, da allgemein verbindliche Kriterien bezüglich Qualität nicht vorhanden sind. Die Gruppe 47 als eine Art Jury einer Superstarsuche (wie sie etwa beim Bachmann-Preis praktiziert wird), öffentliches Zurschaustellen - und wer kein Exhibitionist und Selbstdarsteller ist, fällt durch. Raeber kenne ich nicht, bei Thelen aber ist dies offensichtlich: Der Mann konnte sehr viel besser schreiben als viele seiner bekannteren Kollegen, sich aber sehr viel weniger gut verkaufen. Es ist eine Mär (u. a. von MRR in die Welt gesetzt), dass sich Qualität immer durchsetzen würde. Gerade dieser hatte mit Toleranz und Objektivität wenig am Hut.

lg

orzifar
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: sandhofer on 05. Januar 2012, 07.27 Uhr
Hallo!

Es ist eine Mär (u. a. von MRR in die Welt gesetzt), dass sich Qualität immer durchsetzen würde.

Mag sein, dass dies in the long run sogar stimmt. Nicht aber an solch kurzfristigem Denken verbundenen Aktivitäten wie den Treffen der Gruppe 47 oder den Lesungen für den Bachmann-Preis. Und selbst dann. Wo wären Hölderlin (und ich glaube auch: Jean Paul) heute, wenn nicht vor rund 100 Jahren ein Stefan George mit seinem ganzen, damals nicht unbedeutenden Gewicht ihn nicht wieder aus der dem Schwaben von den Klassikern bereiteten Grab auferweckt hätte?

(Ich habe das Buch jetzt zu Hause, aber ich werde das Zitat nachreichen. In einem seiner Essays über Ingeborg Bachmann, mit der er befreundet war, schildert Kuno Raeber ein kurzes Zusammentreffen seiner Freundin mit Heimito von Doderer, der damals schon arriviert war. Scheint sich auch nicht sehr fein benommen zu haben, der Ritter ...)

Grüsse

sandhofer
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: orzifar on 05. Januar 2012, 17.21 Uhr
Hallo,

natürlich wirst du leicht Gegenbeispiele finden, während es mir an solchen gebricht: Denn könnte ich sie anführen, wären sie als Beispiel für meine These nicht mehr zu gebrauchen. Und alles, was schließlich doch zu Berühmtheit gelangt (wann auch immer und mit welcher Verzögerung), ist immer ein Beweis für das endliche Entdecken verkannter Literaten.

Was ich meinte: Ich weiß von Leuten, die nach kurzer Zeit der Bekanntschaft mit dem Literaturbetrieb sich einfach zurückzogen, auf jedes Schreiben verzichteten, da ihnen der Preis für Bekanntwerden, Veröffentlichung etc. einfach zu hoch war bzw. sie um nichts in der Welt die Anforderungen erfüllen wollten. Die kann man dann ganz einfach nicht entdecken, da es sie nicht gibt. Und da werden sicherlich einige Raeber und Thelen darunter sein. Ist vielleicht ähnlich wie in der Politik (wenngleich dort noch sehr viel schlimmer): Um es zu einer einflussreichen Position zu bringen, muss zuerst vieles an Prinzipien über Bord geworfen werden, müssen Dinge vertreten werden, die nicht im Sinne des Betreffenden sind. Tut er dies nicht, wird man von ihm nie Kenntnis erhalten.

lg

orzifar
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: sandhofer on 05. Januar 2012, 19.29 Uhr
Hallo!

Da hast Du mich missverstanden. Was ich meinte: Es mag sein, dass sich ein ungerades Mal Qualität wirklich von alleine durchsetzt. Meist braucht es aber einen oder mehrere Lobbyisten, damit wir auf so jemand aufmerksam werden. Und wenn das Autoren-Mobbing umgekehrt funktioniert, und gar so, dass einer aufhört zu schreiben ... Statistisch gesehen müssen unter den Aufhörern weitere Raebers und Thelens sein ...

Grüsse

sandhofer
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: sandhofer on 05. Januar 2012, 19.37 Uhr
Und hier das versprochene Zitat:

"Eines Abends trafen sich eine Anzahl Freunde und Bekannte in meiner Wohnung [in München - sandhofer], darunter auch Heimito von Doderer. Dieser gefiel sich in der Rolle eines Altmeisters der Literatur und sparte nicht mit abfälligen Bemerkungen über die jungen österreichischen Schriftsteller. Er würdigte Ingeborg Bachmann kaum eines Blickes, ließ nur eine sehr böse, eiskalte Bemerkung über sie fallen. Ich weiß nicht mehr, was er genau gesagt hat. Es war aber so schlimm, daß sie in Tränen ausbrach."

Auctor auctori lupus ...
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: orzifar on 06. Januar 2012, 01.23 Uhr
Und hier das versprochene Zitat:

"Eines Abends trafen sich eine Anzahl Freunde und Bekannte in meiner Wohnung [in München - sandhofer], darunter auch Heimito von Doderer. Dieser gefiel sich in der Rolle eines Altmeisters der Literatur und sparte nicht mit abfälligen Bemerkungen über die jungen österreichischen Schriftsteller. Er würdigte Ingeborg Bachmann kaum eines Blickes, ließ nur eine sehr böse, eiskalte Bemerkung über sie fallen. Ich weiß nicht mehr, was er genau gesagt hat. Es war aber so schlimm, daß sie in Tränen ausbrach."

Kann man sich bei Doderer gut vorstellen, selbstherrliches Macho-Gehabe, das die Verletzlichkeit eines anderen ohne viel Federlesens einer Formulierung, Pointe opfert. Ein liebenswerter Zeitgenosse war er nicht ...

lg

orzifar
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: sandhofer on 06. Januar 2012, 12.45 Uhr
Arno Schmidt - der, nebenbei, von Anfang an nichts mit der Gruppe 47 zu tun haben wollte - hat irgendwo sinngemäss geschrieben, dass ein Autor im "echten Leben" nicht liebenswürdig sein könne, weil er seine ganze Kraft auf seine Figuren und seinen Text verwenden müsse. Da bleibe nichts mehr über.  ;)
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: sandhofer on 07. Januar 2012, 16.37 Uhr
Hallo!

Raebers Essays, in Band 5, sind allerdings weniger prickelnd. Guter literarischer Journalismus halt. Am interessantesten - für mich als Landsmann - seine Auslassungen über die Schweiz, die deutsche Schweiz und das Verhältnis der Deutschschweizer zur hochdeutschen Muttersprache, dem Dialekt, dem deutschen Staat ... dazu werde ich wohl bei Gelegenheit ein paar Worte im Blog verlieren.

Grüsse

sandhofer
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: Gontscharow on 08. Januar 2012, 01.31 Uhr
Ich bin erschüttert. Nach dem Emigrantenliteratur-Vorwurf, den Thelen sich von Richter gefallenlassen musste, einmal mehr ein Hinweis darauf, wie provinziell und nazi-infiziert die Gruppe 47 noch war!
Warum hatte der Schweizer Raeber, der damals als Lyriker schon einen Namen hatte, es eigentlich nötig, sich vor diesen ehemaligen Hitlerjungen, Wehrmachts - und WaffenSS-Angehörigen zu demütigen?

Ob die wenig ruhmreiche Vergangenheit von Jens hier eine Rolle spielt weiß ich nicht. Ich glaube, dass diese Art des Verurteilens und Verächtlich-Machens durch scheinbar arrivierte Kritiker oder Schriftsteller ständig vorkommt, in der Literatur- und Kunstszene vielleicht mehr als in allen anderen Bereichen. Ein (junger, neuer) Schriftsteller muss - von Ausnahmen abgesehen - eine sehr dicke Haut, wenig Rückgrat und einiges an Speichelleckerei aufbringen, um in der "Szene" zu reussieren.

Das mag sein – was mich erschüttert, ist ein Begriff wie Päderastenprosa, der mit Literatur nichts und mit Ausgrenzung viel zu tun hat. Generationen von Bundesdeutschen wurde die Gruppe 47 als Garant einer neuen, vom Ungeist der Vergangenheit befreiten Literatur, als moralisch integere intellektuelle Avantgarde verkauft. Wenn dann so tröpfelweise herauskommt, dass diffamierende Termini aus dem Wörterbuch des Unmenschen an der Tagesordnung waren mit dem Ziel, gewisse Leute, nämlich Widerständigere, weniger Involvierte, Weltläufigere außen vor zu halten, ist das schon bedenklich. Celan, Thelen, Raeber u. a. bekamen das zu spüren. Viel wurde bei dem vielgerühmten  Neuanfang bzw. Kahlschlag unter den Teppich gekehrt und verdrängt, anders ist es nicht zu erklären, dass  etliche „Mitglieder" der Gruppe  sich erstaunt die Augen gerieben haben, als (nach 1990) ihre Partei-Mitgliedschaft u.a. bekannt wurde, die sie ganz "vergessen"hatten. Fast kommt man in Versuchung, die Alzheimer- Erkrankung wie Sohn Tilman zu erklären.

Neben Alexius das beste, was ich bis jetzt gelesen habe: Wirbel im Abfluß (seinerzeit bei Amman unter dem Titel Sacco di Roma erstveröffentlicht)...

Ich bin auch ganz angetan von Alexius! Die einzelnen Kapitel könnte man auch separat lesen. Wunderbar, wie Geschichtliches, Mythologisches und Gegenwärtiges ineinander verwoben wird! Ja, es erinnert an Borges, wobei mir dessen eigenartige Geschichten doch noch etwas besser gefallen. Auf jeden Fall werde ich noch Sacco di Roma lesen, Rom-Fan, der ich bin bzw. durch Alexius wieder geworden bin, wie auch Jerusalem- ,New York- und Venedig-Fan. ;)
 
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: orzifar on 08. Januar 2012, 01.50 Uhr
Das mag sein – was mich erschüttert, ist ein Begriff wie Päderastenprosa, der mit Literatur nichts und mit Ausgrenzung viel zu tun hat. Generationen von Bundesdeutschen wurde die Gruppe 47 als Garant einer neuen, vom Ungeist der Vergangenheit befreiten Literatur, als moralisch integere intellektuelle Avantgarde verkauft. Wenn dann so tröpfelweise herauskommt, dass diffamierende Termini aus dem Wörterbuch des Unmenschen an der Tagesordnung waren mit dem Ziel, gewisse Leute, nämlich Widerständigere, weniger Involvierte, Weltläufigere außen vor zu halten, ist das schon bedenklich. Celan, Thelen, Raeber u. a. bekamen das zu spüren. Viel wurde bei dem vielgerühmten  Neuanfang bzw. Kahlschlag unter den Teppich gekehrt und verdrängt, anders ist es nicht zu erklären, dass  etliche „Mitglieder" der Gruppe  sich erstaunt die Augen gerieben haben, als (nach 1990) ihre Partei-Mitgliedschaft u.a. bekannt wurde, die sie ganz "vergessen"hatten. Fast kommt man in Versuchung, die Alzheimer- Erkrankung wie Sohn Tilman zu erklären.

Bedenklich ist ja noch ein sehr zarter Ausdruck dafür. Es ist einfach widerlich und abstoßend - und dies umso mehr, als diese Leute mit einem moralischen Anspruch auftraten. Und der Nationalsozialismus wurde stets benutzt, um sich selbst Erhabenheit zu konzedieren: Man lege mit tränenschwerer Stimme einen Kranz in Auschwitz nieder, ist hauptberuflich gedenktagserschüttert, um von den kleinen und großen Bösartigkeiten und Heucheleien abzulenken - und im Zweifelsfall kann man die Teilnahme an diesem öffentlichen Erschüttertsein ins Feld führen für die eigene untadelige Gesinnung.

lg

orzifar
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: sandhofer on 15. April 2012, 07.31 Uhr
Gestern habe ich mit den beiden Bänden aus Raebers Nachlass begonnen. Den Gymnasiasten, den Studenten und den jungen Ehemann, der zwecks Ernährung seiner und seiner Familie noch einen Job im Wissenschaftsbetrieb sucht, habe ich hinter mir; jetzt bis ich in dem Lebensabschnitt, wo er seine Homosexualität entdeckt. Komischerweise habe ich beim Lesen seiner Briefe und Tagebucheinträge tatsächlich den Eindruck, dass da irgenwie Knall auf Fall ein Hebel umgelegt worden ist. Nachdem er versteckt zugegeben hat, schon mit 3 oder 4 onaniert zu haben, finden sich nur (allerdings recht zahme) Fantasien über nackte Frauen. Kann eine rigide sexualfeindliche Erziehung, wie sie Raeber "genossen" hat, tatsächlich dazu führen, dass, was sich auszudrücken wagt, dies in konventionellen Bahnen tut?

Dazwischen Raebers kurzfristig wieder abgebrochener Versuch, Jesuit zu werden. Da erfährt der Leser leider auch nicht mehr. Dokumente aus jener Zeit scheinen, wenn sie je existierten, noch von Raeber selber, wahrscheinlich zeitnah, vernichtet worden zu sein.
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: sandhofer on 17. April 2012, 19.41 Uhr
Ich habe selten einen Schriftsteller gelesen, der sich um seine Position, um Lyrik oder Prosa soviel Gedanken macht wie Raeber ...
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: orzifar on 18. April 2012, 02.00 Uhr
Ich habe selten einen Schriftsteller gelesen, der sich um seine Position, um Lyrik oder Prosa soviel Gedanken macht wie Raeber ...

Das kann nun fruchtbar - oder furchtbar sein. Meistens letzteres. Und bei Raeber?

lg

orzifar
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: sandhofer on 18. April 2012, 12.55 Uhr
Das kann nun fruchtbar - oder furchtbar sein. Meistens letzteres. Und bei Raeber?

Da seine Position ausserhalb dessen steht, was damals als "modern + gut" galt: Eigentlich schon fruchtbar. Wir würden heute Raeber wohl in den Zusammenhang des magischen Realismus stellen; Borges war einer von Raebers Lieblingen und der Argentinier hat ja seinerseits den magischen Realismus befruchtet. Da musste sich Raeber schon immer wieder in Frage stellen. Ausserdem kommt hinzu, dass die Herausgeber nur Bruchstücke seiner Tagebücher und Briefe veröffentlicht haben. Da ging wohl sicher viel Furchtbares verloren.  ;D
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: Sir Thomas on 20. April 2012, 08.56 Uhr
Ich habe selten einen Schriftsteller gelesen, der sich um seine Position, um Lyrik oder Prosa soviel Gedanken macht wie Raeber ...

Raeber kenne ich zwar nicht, aber Gottfried Benn gehört auch zu jenen, die andauernd über Lyrik, Kunst etc. sinniert haben. Das essayistische Werk Benns ist jedenfalls vom Umfang her drei bis vier mal größer als der lyrical output.

LG

Tom
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: sandhofer on 20. April 2012, 19.05 Uhr
Benn liegt mir nicht ...  ::)
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: sandhofer on 21. April 2012, 18.20 Uhr
Der zweite Band des Nachlasses und somit der siebte der Werkausgabe bringt Unveröffentlichtes. Im Gegensatz zum Briefwechsel und v.a. den Tagebuchauszügen des ersten Bandes sind da bis anhin noch keine Perlen drunter. Aber dann bin ich - auch dieser Band geht chronologisch vor - auch erst ca. 1950, d.h., der Schriftsteller bildet sich erst noch ganz aus.
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: sandhofer on 22. April 2012, 07.13 Uhr
Jetzt, in den 60ern, wird's wirklich wieder interessanter. Raebers Essay über den Essay mag zwar definitorisch nicht stichhalten (er definiert den Essay als Gedicht in Prosa, als Werk eines, der nicht wissenschaftlich arbeiten will und sich keine Lyrik zutraut, was ich als faszinierenden, wenn auch kaum durchhaltbaren Ansatz empfinde), aber er verführt zu eigenem Nachdenken.
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: sandhofer on 22. April 2012, 14.37 Uhr
Und zwei weitere gute Essays über Metastastio und über die beiden Selbstmörder Klaus Mann und Cesare Pavese. Mag Raeber auch im ersten, über Metastastio, sich in der Hoffnung, man würde dessen Werk im 20. Jahrhundert wieder positiver beurteilen können, als es der Romantik und den folgenden Generationen möglich war, getäuscht haben. Er mag die Rolle eines auf Form und Ritual basierenden (ich möchte es "katholisch" nennen) Kunstverständnisses zu hoch eingeschätzt haben, hat wohl auch pro domo gesprochen, indem auch sein Kunstverständnis, seine Art zu schreiben, nicht akzeptiert wurde. Erst die Postmoderne, Umberto Eco (den er in seinen Tagebüchern in einem Nebensatz vernichtend kritisiert) allen voran, hat die Türen für eine Kunst à la Raeber geöffnet. (Wovon er oder wenigstens sein Nachruhm allerdings auch postum nicht mehr profitieren kann, schade.) Aber selbst nach Eco bleibt Metastasio aussen vor.

Beide Essays im übrigen, wenn auch keine Literatur, so doch guter literarischer Journalismus.
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: Sir Thomas on 22. April 2012, 16.13 Uhr
Beide Essays im übrigen, wenn auch keine Literatur, so doch guter literarischer Journalismus.

Hast Du die beiden Aufsätze aus diesem Band?
http://www.amazon.de/Raeber-Kuno-Bd-6-Tageb%C3%BCcher-Korrespondenz/dp/3892354448/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1335103062&sr=8-1

Mag Raeber auch im ersten, über Metastastio, sich in der Hoffnung, man würde dessen Werk im 20. Jahrhundert wieder positiver beurteilen können, als es der Romantik und den folgenden Generationen möglich war, getäuscht haben. Er mag die Rolle eines auf Form und Ritual basierenden (ich möchte es "katholisch" nennen) Kunstverständnisses zu hoch eingeschätzt haben ...

"Katholisches Musikverständnis" ist eine treffende Bezeichnung! Ich habe die Oper, ihres italienischen Ursprungs wegen, immer als eine opulent ausgeschmückte Variation des katholischen Rituals verdächtigt - auch wenn klassische Stoffe die religiösen im 17. und 18. Jahrhundert überwogen. Das Oratorium hingegen verkörperte spätestens seit Bach die protestantische Variante der Bühnenkunst sowie eine Ästhetik, die sich von Monteverdi, Metastasio & Co. fortbewegt.

Der Raeber-Aufsatz über Pietro Metastasio klingt jedenfalls hochinteressant!

LG

Tom
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: sandhofer on 22. April 2012, 16.25 Uhr
Hast Du die beiden Aufsätze aus diesem Band?
http://www.amazon.de/Raeber-Kuno-Bd-6-Tageb%C3%BCcher-Korrespondenz/dp/3892354448/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1335103062&sr=8-1

Genau.  :hi:
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: Sir Thomas on 27. April 2012, 16.30 Uhr
Hast Du die beiden Aufsätze aus diesem Band?
http://www.amazon.de/Raeber-Kuno-Bd-6-Tageb%C3%BCcher-Korrespondenz/dp/3892354448/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1335103062&sr=8-1

Genau.  :hi:

Eine letzte Frage zu den Raeber-Essays: Lohnt deren Anschaffung? Ich zögere wegen des hohen Preises (48 €) ...

LG

Tom
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: sandhofer on 28. April 2012, 10.12 Uhr
Eine letzte Frage zu den Raeber-Essays: Lohnt deren Anschaffung?

Es sind ja nicht nur Essays. Tagebuch-Auszüge, Briefwechsel, Gedichte, Hörspiele ...

Ich habe versucht, meine Eindrücke im Blog

hier zum ersten Band (http://blog.litteratur.ch/WordPress/?p=489)

und hier zum zweiten Band (http://blog.litteratur.ch/WordPress/?p=502) des Nachlasses zu geben. Vielleicht hilft Dir das ja bei der Entscheidungsfindung weiter.  :hi:
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: Sir Thomas on 30. April 2012, 09.06 Uhr
Vielleicht hilft Dir das ja bei der Entscheidungsfindung weiter.  :hi:

Zu einem "Spontankauf" kann ich mich noch nicht durchringen (der April war diesbezüglich ein teurer Monat), aber das Buch bleibt auf der mittelfristigen Beschaffungsliste. Danke für die Einschätzung!

LG

Tom
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: sandhofer on 30. April 2012, 17.48 Uhr
Hast Du denn schon die ersten 5 Bände der Ausgabe gelesen?
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: Sir Thomas on 02. Mai 2012, 10.25 Uhr
Hast Du denn schon die ersten 5 Bände der Ausgabe gelesen?

Nein. Mein derzeitiges Interesse gilt ausschließlich den Essays.

LG

Tom
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: sandhofer on 02. Mai 2012, 12.55 Uhr
Hallo!

Ach so. Hm ... Ich fand die Essays eine interessante Ergänzung zum eigentlichen Werk. Ob sie so ganz für sich standzuhalten vermögen? Ich vermute mal, mindestens "Das Ei" und den "Alexius" sollte man gelesen haben.

Grüsse

sandhofer
Title: Re: Kuno Raeber
Post by: Sir Thomas on 02. Mai 2012, 17.30 Uhr
Ich vermute mal, mindestens "Das Ei" und den "Alexius" sollte man gelesen haben.

O.K. Sir, die Bücher sind notiert.

So long,

Tom