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Allgemeines => Allgemeines => Topic started by: arbor on 16. Juli 2009, 09.21 Uhr

Title: Wozu Lit(t)eratur?
Post by: arbor on 16. Juli 2009, 09.21 Uhr
Ganz allgemein gesprochen ist Literatur erst einmal die Welt des Geschriebenen. Später hat sich der Begriff gewandelt in Richtung "Gelehrsamkeit".
Inzwischen gibt es sicher zahlreiche Ansätze, wozu Literatur dienen soll.

Zum einen kann sie sicherlich die Beschreibung der Welt um uns herum sein; aber stellt sie damit letztlich nicht einfach nur die Verdopplung etwas ohnehin Vorhandenen dar?

Zum anderen kann Literatur die Erfassung der Welt sein, d.h. das Begreifen-Wollen der Dinge und Sachverhalte mittels Sprache.

Schließlich gibt es auch die Literatur als Flucht vor der Wirklichkeit; man baut eine Mauer aus Worten um sich herum, um die Welt und ihre Leiden nicht mehr so unmittelbar wahrzunehmen.

Außerdem gibt es die Formen der Literatur als "Abenteuer im Kopf", als Spiel mit Worten ohne den unmittelbaren Bezug zur einer wie auch immer gearteten Wirklichkeit.

Vielleicht genügen diese einführenden Bemerkungen für eine Diskussion, welche Art Literatur man selbst bevorzugt, ob es noch weitere Ansätze für Literaturverstehen gibt usw.
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: Dostoevskij on 16. Juli 2009, 09.26 Uhr
Moin, Moin!

Schließlich gibt es auch die Literatur als Flucht vor der Wirklichkeit; man baut eine Mauer aus Worten um sich herum, um die Welt und ihre Leiden nicht mehr so unmittelbar wahrzunehmen.

Ich bekenne, ein solcher eskapistischer Leser zu sein und finde nichts Ehrenrühriges daran. Ich entfliehe dem profanen Alltag, indem ich gute Bücher lese, bestreite allerdings, daß man so gleichzeitig weltflüchtig per se sein soll. Beides widerpricht sich nicht. Man kann ein wacher Zeitgenosse sein und trotzdem in literarischen Fantasiegebirgen herumklettern. Was ist am Alltag denn so sankrosankt, daß man spannungsgeladen dasitzen sollte, um möglichst keine Sekunde des Geschehens zu verpassen?
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: BigBen on 16. Juli 2009, 09.40 Uhr
Einerseits dient mir die Literatur zur Unterhaltung. Mit diesem Anspruch lese ich sowohl Trivialliteratur als auch Klassiker. Desweiteren mag ich das Spiel mit der Sprache (wie es z.B. Arno Schmidt in Extremum getrieben hat). Und mit etwas lerne ich bei der Lektüre sogar noch etwas.
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: Dostoevskij on 16. Juli 2009, 09.42 Uhr
Moin, Moin!

Und mit etwas lerne ich bei der Lektüre sogar noch etwas.

Das nehme ich dankend in Kauf, intendiere es bei meiner Lektürauswahl aber so gut wie nie.
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: BigBen on 16. Juli 2009, 09.45 Uhr
Und mit etwas lerne ich bei der Lektüre sogar noch etwas.

Das nehme ich dankend in Kauf, intendiere es bei meiner Lektürauswahl aber so gut wie nie.

Ich wähle meine Lektüre auch nicht immer gezielt danach aus, aber es hat sich gezeigt, das ich mich besser unterhalten fühle, wenn ich noch etwas beim Lesen lernen kann. Ist wohl meine persönliche Marotte und funktioniert nicht immer (ich denke da an meine mißglückte Kosmos-Lektüre).
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: Sir Thomas on 16. Juli 2009, 09.51 Uhr
Zum anderen kann Literatur die Erfassung der Welt sein, d.h. das Begreifen-Wollen der Dinge und Sachverhalte mittels Sprache.

Hallo arbor,

dazu bedarf es mMn. nicht der Literatur, noch nicht einmal der Schrift. Schriftlose (Natur)Völker verstehen sehr wohl ihre Welt und verfügen auch über hinreichende (nichtwissenschaftliche) Erklärungen darüber, was "die Welt im Innersten zusammenhält".

Schließlich gibt es auch die Literatur als Flucht vor der Wirklichkeit ...

Außerdem gibt es die Formen der Literatur als "Abenteuer im Kopf" ...

Diese beiden "Änsatze zum Literaturverstehen" scheinen mir fruchtbarer zu sein. Die ersten literarischen Werke der Menschheitsgeschichte (Gilgamesch, Ilias, Odyssee) deuten jedenfalls in diese Richtung.

LG

Tom
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: arbor on 16. Juli 2009, 13.30 Uhr
Keine der genannten Möglichkeiten wollte ich ab- oder aufwerten - es sollte alles nur eine Grundlage der Diskussion sein.

Allerdings habe ich auch eine Vorliebe für Literatur, die als "Kopfabenteuer" daherkommt und sich nicht einfach in der Beschreibung einer vorhandenen Wirklichkeit verliert.

Was Naturvölker und ihre Erfassung der Wirklichkeit angeht, melde ich meine Zweifel an. Sie bleiben ja wohl nicht in ihrem "Naturzustand" stecken, weil sie große kulturelle Leistungen errungen haben.
Ich denke schon, dass man mit Worten einen wesentlicheren Zugriff auf die Wirklichkeit hat, gehe sogar soweit zu sagen, wir erkennen eigentlich nur, was wir benennen können (also wofür wir einen Begriff haben).
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: Sir Thomas on 16. Juli 2009, 14.40 Uhr
Hallo arbor,

auch wenn Du den von mir hochgeschätzten Oscar Wilde zitierst und somit Deine Ausführungen über den schriftlichen Zugang zur Wirklichkeit sympathischerweise mit einem Literaten (und nicht mit einem Wissenschaftler) begründest, möchte ich das nicht unkommentiert lassen. Ich bin weder in den Neurowissenschaften noch in den Tiefen der Erkenntnistheorie außerordentlich bewandert, aber soviel scheint festzustehen: Schrift ist eine kulturelle Leistung und eine notwendige Voraussetzung für die Entwicklung von Hochkulturen, aber deshalb noch lang nicht der alleinige Königsweg zu einem grunsätzlichen Verständnis der Welt oder der Wirklichkeit.

Natürlich sind Schriftkulturen den illiteraten Gesellschaften haushoch überlegen. Dennoch bedarf es nicht der Schrift (wohl aber der Sprache, denn: "Worte ermöglichen einen wesentlicheren Zugriff auf die Wirklichkeit", wie Du schreibst), um Erkenntnisse über die Lebenswelt zu gewinnen und diese nutzbar zu machen (über die Art dieser Erkenntnisse müssen wir uns nicht unterhalten; sie sind wohl eher lebenspraktischer und nicht philosophischer o.ä. Natur). Denken, Begreifen, Verstehen und Sprechen sind vorschriftliche Errungenschaften, die über einen sehr langen Zeitraum der Menschheitsgeschichte vollkommen ausreichten, unserer Spezies zum Erfolg zu verhelfen.

Schrift und Literatur tauchten in den angehenden Hochkulturen erst auf, als wesentliche Probleme der materiellen Grundversorgung dauerhaft gelöst waren. Dennoch sind sie seit ihrer Erfindung alles andere als eitler Luxus, denn im irgendwann einsetzenden Wettbewerb zwischen Völkern und Kulturen waren schnell diejenigen einen Schritt voraus, die ihr Wissen dauerhaft niedergelegt oder gar kodifiziert hatten und es somit effizient und verzerrungsfrei an folgende Generationen weiterreichen konnten. Das gesamtgesellschaftliche Wissen wurde durch die Erfindung der Schrift von einflußreichen und mächtigen Individuen (Häuptlingen, Clanführern, Priestern, Schamanen, Druiden etc.) losgelöst und auf den zunehmend größeren Kreis derjenigen verlagert, die schrift- und lesekundig waren. Der Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit ist ein faszinierendes Momentum unserer Entwicklungsgeschichte!

LG

Tom
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: Bonaventura on 16. Juli 2009, 15.10 Uhr
Natürlich sind Schriftkulturen den illiteraten Gesellschaften haushoch überlegen.

Was ist der Gradmesser für die haushohe Überlegenheit einer Kultur über die andere? Die Anzahl von Toten, die sie in einem beliebigen, aber fest gewählten Zeitraum erzeugen kann?
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: sandhofer on 16. Juli 2009, 15.27 Uhr
Natürlich sind Schriftkulturen den illiteraten Gesellschaften haushoch überlegen.

Was ist der Gradmesser für die haushohe Überlegenheit einer Kultur über die andere? Die Anzahl von Toten, die sie in einem beliebigen, aber fest gewählten Zeitraum erzeugen kann?

Hallo Bonaventura!

Das erinnert mich daran, dass ich Deine Kommunikationstechnik für mich selber schon mal "Guerilla-Posting" genannt habe ...   ;) : Kommt aus dem Hinterhalt, sticht einmal kurz zu - und weg ist er. Wilhelm Tell soll's auch so gemacht haben.

Aber ich bin mit Dir einig, dass Aussagen wie «im "Naturzustand" stecken bleiben» oder das von Dir monierte «andern Gesellschaften haushoch überlegen sein» tatsächlich problematisch sind, da sie nun entweder mit sehr viel Hintergrund ausgestopft werden müssen oder sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, eindimensional, eurozentrisch zu sein. (Ich vermeide mal das Wort "rassistisch" - aber es hängt im Raum.) Es müsste wirklich zuerst ge- oder erklärt werden, warum der "Naturzustand" (gibt es den überhaupt?) rückständiger ist als eine Schriftkultur. Ist es (z.B.) nicht auch eine Kulturleistung, eine ganze homerische Odyssee auswendig vortragen zu können einerseits, ruhig zuzuhören und nicht wegzuzappen andererseits? Und ... und ... und ... Alle diese und noch weitere Fragen stecken in Deiner kleinen Pfeilspitze, Bonaventura. Vermute ich jetzt mal. Aber vielleicht übersetzt Du dich selber?  ;D

Grüsse

sandhofer
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: Sir Thomas on 16. Juli 2009, 15.59 Uhr
Was ist der Gradmesser für die haushohe Überlegenheit einer Kultur über die andere?

Die Anzahl möglicher und (über)lebensfähiger (viabler) Realitätskonstrukte und die sich daraus ergebende Vielfalt der Handlungsoptionen. Anders formuliert: Das Wissen über eine Vielzahl alternativer Zugänge zur Realität. Und schließlich die Fähigkeit zu erkennen, dass jede Wirklichkeit eine Konstruktion ist, die auf der Verabredung beruht, sie als Wirklichkeit zu akzeptieren.

@ sandhofer: Darin "Eurozentrismus" oder gar "Rassismus" zu sehen, ist für mich nicht mehr als ein vorschneller Reflex.
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: sandhofer on 16. Juli 2009, 17.26 Uhr
@ sandhofer: Darin "Eurozentrismus" oder gar "Rassismus" zu sehen, ist für mich nicht mehr als ein vorschneller Reflex.

Aber ein natürlicher. Wenn's nämlich so unausgestopft dasteht, wie es zu Beginn da gestanden hat. ;)
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: arbor on 16. Juli 2009, 18.04 Uhr
@ Sir Thomas
Ich habe an keiner Stelle ausschließlich von "Schrift" gesprochen, sondern vom "Wort" (das sowohl mündlich als auch schriftlich überliefert werden kann, sogar visuell). Insofern rennst du offene Türen ein mit deiner Argumentation.
Im übrigen gibt es eine Reihe kultureller Leistungen, die ich nicht missen möchte. Ich denke, es gehört dazu, dass sich der Mensch vom reinen Naturwesen zu einem Kulturwesen entwickelt hat. Naturvölkern, die dies nicht geschafft haben, sind in der Tat im Kreislauf des reinen Lebenserwerbs stecken geblieben. Ich will das nicht werten, ich möchte nur so nicht leben (müssen).
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: Bonaventura on 16. Juli 2009, 20.09 Uhr
Natürlich sind Schriftkulturen den illiteraten Gesellschaften haushoch überlegen.

Was ist der Gradmesser für die haushohe Überlegenheit einer Kultur über die andere? Die Anzahl von Toten, die sie in einem beliebigen, aber fest gewählten Zeitraum erzeugen kann?

Aber vielleicht übersetzt Du dich selber?  ;D

Wozu? Ich werde hier doch prima verstanden.  :D
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: sandhofer on 16. Juli 2009, 20.36 Uhr
Natürlich sind Schriftkulturen den illiteraten Gesellschaften haushoch überlegen.

Was ist der Gradmesser für die haushohe Überlegenheit einer Kultur über die andere? Die Anzahl von Toten, die sie in einem beliebigen, aber fest gewählten Zeitraum erzeugen kann?

Aber vielleicht übersetzt Du dich selber?  ;D

Wozu? Ich werde hier doch prima verstanden.  :D

Nun ja: Es hat nicht jeder meine psychoanalytische Vorbildung ...   :P
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: dumbler on 17. Juli 2009, 06.00 Uhr
Und mit etwas lerne ich bei der Lektüre sogar noch etwas.

Das nehme ich dankend in Kauf, intendiere es bei meiner Lektürauswahl aber so gut wie nie.

Ich wähle meine Lektüre auch nicht immer gezielt danach aus, aber es hat sich gezeigt, das ich mich besser unterhalten fühle, wenn ich noch etwas beim Lesen lernen kann. Ist wohl meine persönliche Marotte und funktioniert nicht immer (ich denke da an meine mißglückte Kosmos-Lektüre).
Allgemeinwissen durch Romane zu erwerben ist ein netter Nebeneffekt, doch gewiss eignen sich Lexika eher dafür. Was man aber tatsächlich lernen kann, ist die menschliche Natur, ihre Erfahrungen und Träume, ihre Gedankenmuster und ihr Verhalten. Lernen, wie der Mensch tickt. Für mich der eigentliche Antrieb, nach Literatur zu greifen. Ich will weder aus meiner Welt ausbrechen noch fiktive Abenteuer erleben. Lediglich den Menschen begreifen.

Gruß,
dumbler
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: dora on 17. Juli 2009, 10.56 Uhr
Und mit etwas lerne ich bei der Lektüre sogar noch etwas.

Das nehme ich dankend in Kauf, intendiere es bei meiner Lektürauswahl aber so gut wie nie.

Ich wähle meine Lektüre auch nicht immer gezielt danach aus, aber es hat sich gezeigt, das ich mich besser unterhalten fühle, wenn ich noch etwas beim Lesen lernen kann. Ist wohl meine persönliche Marotte und funktioniert nicht immer (ich denke da an meine mißglückte Kosmos-Lektüre).
Allgemeinwissen durch Romane zu erwerben ist ein netter Nebeneffekt, doch gewiss eignen sich Lexika eher dafür. Was man aber tatsächlich lernen kann, ist die menschliche Natur, ihre Erfahrungen und Träume, ihre Gedankenmuster und ihr Verhalten. Lernen, wie der Mensch tickt. Für mich der eigentliche Antrieb, nach Literatur zu greifen. Ich will weder aus meiner Welt ausbrechen noch fiktive Abenteuer erleben. Lediglich den Menschen begreifen.

Mir geht es wie BigBen. Wenn ich den Eindruck habe, durch das Gelesene neue Horizonte zu entdecken, dann fühle ich mich unterhalten. Lexika sind dann weiterführend. Galizien hat mich erst interessiert, nachdem ich Joseph Roth entdeckt habe und ganz aktuell: Mit der Todesstrafe in der Geschichte Europas habe ich mich befasst während der laufenden LR (der Idiot).
In meinen Augen verbinden gute Romane genau das, was ihr beiden nennt: Wissen aneignen und den Menschen begreifen. Der Mensch ist in einem Roman ja ein Teil seiner Zeit, gesellschaftlichen und geographischen Umgebung. (ich weiß nicht, ob ihr versteht, was ich meine, bekomme es nicht besser hin.  :-\ )

liebe Grüße
dora
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: dumbler on 18. Juli 2009, 04.48 Uhr
Hallo dora,
Aber läuft man nicht Gefahr, von den Emotionen des Autors geleitet zu werden? Roths Galizien kenne ich nun nicht, nähmen wir jedoch Millers Beschreibung über New York, müsste ich davon ausgehen, dass Amerika ein naives, unfähig denkendes Volk sei und sie nichts Positives hervorbringen können - halt ein klimatisierter Misthaufen. Es ist immer nur die Sicht eines Autors, der mal verklärt, schwelgend oder angewidert eine Sache beschreibt. Vielleicht auch eine gesellschaftliche Auffassung der jeweiligen Epoche?
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: sandhofer on 18. Juli 2009, 06.26 Uhr
nähmen wir jedoch Millers Beschreibung über New York, müsste ich davon ausgehen, dass Amerika ein naives, unfähig denkendes Volk sei und sie nichts Positives hervorbringen können

Na ja, ist das denn anders?  ;D
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: dora on 18. Juli 2009, 10.33 Uhr
Hallo dora,
Aber läuft man nicht Gefahr, von den Emotionen des Autors geleitet zu werden? Roths Galizien kenne ich nun nicht, nähmen wir jedoch Millers Beschreibung über New York, müsste ich davon ausgehen, dass Amerika ein naives, unfähig denkendes Volk sei und sie nichts Positives hervorbringen können - halt ein klimatisierter Misthaufen. Es ist immer nur die Sicht eines Autors, der mal verklärt, schwelgend oder angewidert eine Sache beschreibt. Vielleicht auch eine gesellschaftliche Auffassung der jeweiligen Epoche?

Vielleicht, wenn man nur einen einzigen Roman im Leben liest...  ;)
Millers Sicht auf die USA ist eben eine Sicht von vielen und die ist genau so richtig oder falsch wie die Sicht eines Autors, der die USA als Land der großen Freiheit ansieht. Ich meinte ja, dass du durch die Literatur die Sicht des Autors erfährst, was der Geographie, der Epoche und dem Teil der Gesellschaft eine menschliche Perspektive gibt. Es ist dann an dir herauszufinden, was du damit machst. Ich werde nach Dostojewskis Idioten ja auch nicht plötzlich gläubig werden.  ;D

liebe Grüße, dora die jetzt mit Kenavo einen leckeren Cappuccino trinken geht  :D
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: orzifar on 18. Juli 2009, 12.08 Uhr
Allgemeinwissen durch Romane zu erwerben ist ein netter Nebeneffekt, doch gewiss eignen sich Lexika eher dafür. Was man aber tatsächlich lernen kann, ist die menschliche Natur, ihre Erfahrungen und Träume, ihre Gedankenmuster und ihr Verhalten. Lernen, wie der Mensch tickt. Für mich der eigentliche Antrieb, nach Literatur zu greifen. Ich will weder aus meiner Welt ausbrechen noch fiktive Abenteuer erleben. Lediglich den Menschen begreifen.

Ich unterscheide da gar nicht so sehr zwischen Belletristik und Fach/Sachliteratur. Eines führt zum anderen, gibt Anstöße in Lexika nachzuschlagen, Biographien zu lesen etc. Und Bücher sind für relativ lange Zeit das einzige probate Medium gewesen für eine solche allgemeine Befriedigung der Neugier. (Ich glaube, dass sich das durch's Netz ein wenig ändern wird, geändert hat. Ich etwa verwende das Netz als eine Art Nachschlagewerk - mit der gebotenen Vorsicht.)

Den Menschen verstehen? das scheint mir ein sehr hohes Ziel - und ich bin mir (für mich) nicht sicher, ob ich das immer will. Allerdings ist es in der Literatur hilfreich, wenn dem Schreibenden "nichts Menschliches fremd ist", ansonsten muss man sich durch hochstilisierte, erdachte Abgründe quälen. Denn tatsächliche Leidenschaften, Schmerzen, Schicksale sind oft wenig "literarisch", sondern trivial, unauffällig, dadurch nicht weniger schrecklich. Der hochstilisierte Tod des Selbstmörders in der Literatur ist häufig ein bloß frivoles Spiel mit dem Morbiden, das langsame Sterben in geriatrischen Anstalten hingegen wenig spektakulär (und die Gestaltung verspricht kaum ökonomischen Erfolg). Das darstellen zu können scheint mir weitaus schwerer als das etwa beliebte Spiel mit Berühmtheiten a la Kehlmann, Verrückten, Genies.

lg

orzifar
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: dumbler on 19. Juli 2009, 05.44 Uhr
@dora, Romane wecken Dein Interesse, doch Wissen eignest Du Dir durch sie nur bedingt an. Sie geben Dir den Anstoß nachzuforschen, doch das befriedigende Wissen erlangst Du erst, nachdem Du entsprechende Fachliteratur oder/und Lexikaeinträge nachgeschlagen hast, wie die zur Todesstrafe im Idioten.
@orzifar, mir geht es nicht darum, das große theatralische Drama der Literatur in meinem Umkreis zu suchen, furchtbar genug, wenn sich hoffnungslos Verliebte sich von der Brücke werfen, weil die Angebetete ihnen den Rücken dreht.  ;) Ich sehe vielmehr die Möglichkeit in ihnen, Gesten, Reaktionen und unauffällige Zeichen meines Gegenübers richtig zu deuten. Stimmt aber, der Autor sollte über einen Grad an Menschenkenntnis verfügen.

Gruß,
dumbler
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: dora on 19. Juli 2009, 11.28 Uhr
Hallo Dumbler,
@dora, Romane wecken Dein Interesse, doch Wissen eignest Du Dir durch sie nur bedingt an. Sie geben Dir den Anstoß nachzuforschen, doch das befriedigende Wissen erlangst Du erst, nachdem Du entsprechende Fachliteratur oder/und Lexikaeinträge nachgeschlagen hast, wie die zur Todesstrafe im Idioten.

Das stimmt natürlich. Im Lexikon begegne ich aber nur dem theoretischen, also unpersönlichen Aspekt. Wie "der Mensch" die Todesstrafe als Beobachter erlebt, um bei diesem Beispiel zu bleiben, erfahre ich eben u.a. im Roman.

Fachliteratur ist bestimmt weiterführend und meist unentbehrlich (siehe Die Ästhetik des Widerstands  ;) )

liebe Grüße
dora
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: dumbler on 19. Juli 2009, 12.15 Uhr
Womit wir wieder beim Menschen und seinen Erfahrungen wären. So kommen wir dann wieder auf einen Nenner.  ;)

Gruß,
dumbler
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: sandhofer on 20. Juli 2009, 07.51 Uhr
Hallo zusammen!

Um mal eine seriöse Antwort zu versuchen ...

Ich kann mit der Formulierung der Frage nicht viel anfangen, ehrlich gesagt. "Wozu dient Literatur?" Hm ... Mein Auto dient mir dazu, dass ich mich von A nach B bewegen kann. Mein Haus dient mir dazu, dass ich einigermassen vor Witterungseinflüssen und wilden Tieren geschützt bin. Und analog sollte also Literatur dazu dienen, mich (geistig) zu bewegen oder mich vor Ausseneinflüssen zu schützen? Ich weiss nicht ...

Es gibt jene famose Unterscheidung zwischen Körper und Geist. Und gerne werden sodann den körperlichen Trieben geistige entgegengesetzt. Den niederen die höheren. Wer wird in seinem Lebenslauf für eine Stellenbewerbung unter Hobbies schon hinschreiben: "Ich b... gern meine Nachbarin"? Nein, man nennt das Lesen als Hobby, selbst wenn man allenfalls einmal im Monat die Bunte Illustrierte Quick-Revue beim Friseur liest. Man hat sich in unserer Kultur seiner Lüste zu schämen, sie zu verschweigen.

Nun gibt es aber auch die Variante einer Überhöhung (oder Sublimierung, um auch die andere Himmelsrichtung einzubeziehen) seiner Lüste. Casanova fand ja im Grunde genommen nicht die Eroberung und (ich nenne es jetzt mal so) Inbesitznahme einer Frau interessant, sondern alle seine Pläne und Machinationen, um an die Frau heranzukommen. Wenn er sie mal "hatte", interessierte ihn schon die nächste. Und wie es Casanova mit den Frauen geht, geht es mir mit der Literatur. Einen Text lesen ist wie mit einer Frau flirten. Natürlich gibt's die ganz Unnahbaren, hermetisch Verschlossenen (jedenfalls für mich, andern mögen sie problemlos Zutritt gewähren.) Und es gibt die, die sich dir schon an den Hals werfen, wenn du nur schon deine Stammbuchhandlung betrittst, und die dich fragen: "Zu dir oder zu mir?" An beide verschwende ich so wenig Zeit wie möglich. (Manchmal merkt man leider zu spät, dass man ein einen von der Sorte geraten ist.) Interessant sind nur die, die, ohne sich gleich ganz zu entblössen, durchaus etwas von sich preisgeben, und noch etwas mehr, wenn man etwas mehr Zeit und Mühe darauf verwendet. Im Idealfall trifft man auf einen Text, der bei jeder neuen Begegnung Neues von sich preisgibt. Das sind oder werden dann die sog. Klassiker. Roland Barthes verwendete die Analogien zur Striptease-Tänzerin und zur Zigeunerin mit Rissen im Kleid, die uns immer wieder kurz mal Einblicke gewähren, diese aber gleich wieder verschwinden lassen, und nie alles aufs Mal preisgeben.

Ein erotisches Verhältnis zur Literatur also. Oder, unverfänglicher formuliert: Ich will nicht lernen, sondern entdecken. Und wenn es nicht die Struktur des Textes ist, die mich etwas erahnen lässt, wie v.a. im Gedicht, dann wenigstens sein Inhalt. Deshalb liebe ich neben Gedichten auch Autobiografien und alte Reiseberichte.

Grüsse

sandhofer
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: Kenavo on 20. Juli 2009, 16.36 Uhr
Um mal eine seriöse Antwort zu versuchen ...
ach wie nett.. jemanden den ich vor allem so kenne: (http://www.clipartof.com/images/thumbnail/1974.gif), versucht eine seriöse Antwort zu geben..

aber richtig so, ich finde dieses Forum reichlich unseriös  ;D
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: sandhofer on 20. Juli 2009, 17.17 Uhr
(http://www.clipartof.com/images/thumbnail/1974.gif)

Möchtest Du das Smilie im Standard-Set haben?  8)
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: thopas on 21. Juli 2009, 10.51 Uhr
Ich will nicht lernen, sondern entdecken.

Hallo,

diese Aussage von sandhofer trifft es - zumindest für mich - ziemlich genau. Wobei ich durch das Entdecken meist auch gleich etwas neues lerne; beides geht sozusagen Hand in Hand. Für mich ist Literatur (v.a. Klassiker) oft wie eine Zeitmaschine: ich möchte bei meiner Lektüre entdecken, wie die Menschen früher z.B. in London gelebt haben (wobei "früher" dann 18. Jh., 19. Jh. oder die Zwanziger Jahre des 20. Jhs. sein können). Inwiefern ein Roman, z.B. von Charles Dickens oder Virginia Woolf, mir dies dann authentisch vermittelt, ist natürlich eine andere Frage. Ergänzen muß ich meine Eindrücke durch Sachbücher, die sich ebenfalls mit diesem Thema beschäftigen. Somit entdecke und lerne ich gleichermaßen.

Viele Grüße
thopas
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: dora on 21. Juli 2009, 11.05 Uhr
Wobei ich durch das Entdecken meist auch gleich etwas neues lerne; beides geht sozusagen Hand in Hand.

So war es auch von meiner Seite gemeint. Lernen klingt wohl zu sehr nach "Streber", nach "nicht-genießen".  :D

liebe Grüße
dora
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: Kenavo on 21. Juli 2009, 11.20 Uhr
Möchtest Du das Smilie im Standard-Set haben?  8)
wohl eher nicht.. du könntest so schlecht widerstehen ihn immer mal wieder einzusetzen  ;)

und betreff des Themas dieses Threads - ich habe festgestellt dass ich die letzten Jahre wohl eher ganz klar zur "Unterhaltungs-leserin" mutiert bin.
Wohlgemerkt, das beinhaltet in keinster Weise die übliche 'Literatur' die man gemeinhin in "Unterhaltungsromane" klassiert.. aber mir ist inzwischen ein Roman von Colum McCann der mich klug und gut unterhält (sein neuer Roman ist übrigens übermässig fabulös und gar zu gut!!) genauso lieb wie ein Buch aus einer "gehobeneren" Klasse  :)


lg
Kenavo
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: sandhofer on 27. Juli 2009, 17.58 Uhr
und betreff des Themas dieses Threads - ich habe festgestellt dass ich die letzten Jahre wohl eher ganz klar zur "Unterhaltungs-leserin" mutiert bin.

Das trifft durchaus auch für mich zu: Ich lese, um mich zu unterhalten. Es ist halt, salopp gesagt, so, dass mich z.B. Goethe besser unterhält als z.B. Konsalik.

Ganz allgemein habe ich ja schon bei der Zielrichtung der Frage "Wozu" meine Bedenken. Die Frage impliziert fast utilitaristisch einen Zweck hinter dem Phänomen Literatur bzw. Lesen. Kant hat den Begriff "interesseloses Wohlgefallen" geprägt, der's zwar auch nicht ganz trifft, aber m.M.n. in eine Richtung zeigt, mit der ich mich als Leser identifizieren kann: kein Zweck, kein Ziel, einfach Spass an der Freude.


aber mir ist inzwischen ein Roman von Colum McCann der mich klug und gut unterhält (sein neuer Roman ist übrigens übermässig fabulös und gar zu gut!!) genauso lieb wie ein Buch aus einer "gehobeneren" Klasse  :)

"Klug und gut" - ist das nicht schon "gehobenere Klasse"?  ;)
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: Kenavo on 27. Juli 2009, 21.04 Uhr
Es ist halt, salopp gesagt, so, dass mich z.B. Goethe besser unterhält als z.B. Konsalik.
;D

Kant hat den Begriff "interesseloses Wohlgefallen" geprägt, der's zwar auch nicht ganz trifft, aber m.M.n. in eine Richtung zeigt, mit der ich mich als Leser identifizieren kann: kein Zweck, kein Ziel, einfach Spass an der Freude.
damit kann ich bestens leben..

"Klug und gut" - ist das nicht schon "gehobenere Klasse"?  ;)
nun, ich denke mal dass auch dies wieder eine sehr persönliche Einschätzung ist - und ich würde wetten dass innerhalb von 5 Minuten 10 Leser daher kommen und mir beweisen dass die Bücher, die ich als 'klug und gut' einstufe, als 'mittelmässig unterhaltsam' anzusehen sind..  ;)
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: sandhofer on 28. Juli 2009, 06.43 Uhr
ich würde wetten dass innerhalb von 5 Minuten 10 Leser daher kommen und mir beweisen dass die Bücher, die ich als 'klug und gut' einstufe, als 'mittelmässig unterhaltsam' anzusehen sind..  ;)

Je nun - Das öffnet bereits die Türe zu einer andern, nächsten Frage, der nach der Gültigkeit von individuellen und allgemeinen Urteilen über literarische Werke.
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: arbor on 28. Juli 2009, 07.48 Uhr
Da die Frage "wozu Literatur" nichts mehr Wesentliches ergibt, würde ich gerne eine These hinzugesellen:

Alle Literatur ist Lebensbeschreibung.

Entweder in der ganz banalen Form, in dem Leben tatsächlich (biografisch) nacherzählt wird, oder in der Kunstform, dass Figuren entworfen werden, die dann ihr eigenes Leben entfalten, und schließlich sogar in experimentellen Formen, die sich dem verweigern, weil auch sie eine bestimmte Sicht auf das Leben aus den Erfahrungen des Autors darstellen.
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: sandhofer on 28. Juli 2009, 07.52 Uhr
Alle Literatur ist Lebensbeschreibung.

Das klammert Lyrik bereits aus der Literatur aus ...  ;)
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: arbor on 28. Juli 2009, 09.59 Uhr
Nein, das sehe ich anders; auch Lyrik ist eine Reaktion auf Erfahrungen des Lebens, sie "beschreibt" zwar Leben eher selten (in den balladesken Formen vielleicht), aber sie bedient sich eines assoziativen Denkens (Metphorik, Bilder aus Worten) und ist damit sicherlich die kunstvollste Versprachlichung des Lebens, aber auf jeden Fall immer eine Äußerung des Lebens und über das Leben.
Title: Re:Wozu Lit(t)eratur?
Post by: sandhofer on 28. Juli 2009, 11.04 Uhr
Ich glaube, ich sehe, worauf Du hinauswillst; aber, ehrlich gesagt, möchte ich Dir dahin nicht folgen. Deine Definition enthält zwei Variablen (nämlich „Leben“ und „Beschreibung“), die ich für mich erst noch mit Sinn füllen müsste. Und je nach dem, mit welchem Sinn ich sie fülle, wird auch die Definition mehr oder weniger Sinn machen. Allerdings sehe ich mich persönlich ausserstande, eine Definition von „Leben“ zu geben, ohne mich in metaphysischem Nebel zu verirren, es sei denn, ich würde versuchen, mich auf Biologisch-Medizinisches zu beschränken. Beim Wort „Beschreibung“ sind wir ja auch schon ziemlich weit auseinander. Wenn ich's schulmässig eng fasse, gehören unter „Lebensbeschreibung“ eigentlich nur journalistische Texte und (Auto-)Biografien, mit ein bisschen gutem Willen könnte ich noch den naturalistischen Roman darunter fassen. Wenn ich's so weit ausdehne, dass auch Lyrik drin Platz hat, finde ich mich mit Herrn von Briest auf einem allzu weiten Feld. Bösartig gefragt: Wenn mein Hund mit wütendem Gekläff auf Nachbars Katze losgeht – ist das nicht auch eine „Äußerung des Lebens und über das Leben“?  ;)